Junge Welt 21.05.2004 Feuilleton
Wie der Verfassungsschutz eine Dissertation über die Rote Hilfe liest, und was der Autor davon hält
Der Anfang der Woche vorgestellte Verfassungsschutzbericht 2003 des Bundesinnenministeriums befaßt sich einmal mehr mit dem eingetragenen Verein Rote Hilfe (RH). Selbstverständlich in skandalöser Weise. Als Beweis für die gemeingefährlichen Aktivitäten dieses Vereins muß ausgerechnet mein kürzlich beim Pahl-Rugenstein Verlag erschienenes Buch »Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919-1938)« herhalten. So heißt es unter anderem: »Nicht zuletzt durch den Vertrieb des Buches und die aufwendige Werbung in der vereinseigenen Publikation dokumentiert die Organisation ihr Bekenntnis zu ihren kommunistischen Wurzeln. Entsprechend befindet auch der Autor, daß sich die heutige RH trotz ihres Selbstverständnisses als parteiunabhängige Schutz- und Solidaritätsorganisation allein schon durch ihre Namensgebung bewußt in die Tradition der Roten Hilfe Deutschlands der 20er und 30er Jahre – damals eine Nebenorganisation der KPD – stelle.«
Sollte es den Schlapphüten entgangen sein, daß das angeblich extremistische
Werk »Schafft Rote Hilfe!« als Doktorarbeit im Fach Neuere Geschichte an der
nicht gerade als linke Kaderschmiede bekannten Ludwig-Maximilians-Universität
München angenommen wurde?
Für den Sozialdemokraten Schily dürfte es auch von Interesse sein, daß diese
erste Gesamtdarstellung der historischen Roten Hilfe durch ein Stipendium der
SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ermöglicht wurde. Oder sollte der
Innenminister die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen
Geschichte fürchten, weil heute zunehmend Parallelen zwischen dem Abbau
demokratischer Grundrechte und der Verfolgung der Linken durch
sozialdemokratisch geführte Regierungen in der Weimarer Republik offensichtlich
werden? Unliebsame Schriften zur Arbeiterbewegung wurden von einem der
Vorgänger Schilys, dem sozialdemokratischen Innenminister von Preußen, Albert
Grzesinski, in den 20er Jahren übrigens als »Literarischer Hochverrat«
verfolgt.
Absurd ist der Versuch, den heutige Rote Hilfe e.V. in ein
verfassungsfeindliches Licht zu rücken, weil er mein Buch vertreibt und sich
zur Tradition der historischen Roten Hilfe bekennt. In den 1920er und frühen
30er Jahren wurde die Rote Hilfe nicht nur von über einer halben Million
parteilosen, kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern unterstützt,
sondern auch von Intellektuellen wie Albert Einstein, Kurt Tucholsky und
Heinrich Mann. Diese überparteiliche Tradition der Solidarität mit den von
politischer Justiz Verfolgten ist es, die auch heute von der Roten Hilfe
hochgehalten wird. Kommunisten bilden übrigens in der heutigen Roten Hilfe nur
eine unter vielen Strömungen der Linken.
Nach der Logik des Verfassungsschutzes müßte Schröders und Schilys SPD immer
noch als verfassungswidrige Partei überwacht werden, weil sie sich auf ihre
historischen Wurzeln im Kaiserreich beruft. Schließlich war die
Sozialdemokratie unter Bismarck als marxistische Umsturzpartei verboten.
Mit der Vorstellung dieses Verfassungsschutzberichts hat der ehemalige
RAF-Verteidiger und jetzige Bundesinnenminister Schily erneut bewiesen:
Solidarität gegen staatliche Verfolgung, Kriminalisierung und Bespitzelung
linker und kritischer Menschen ist heute genauso notwendig wie vor 80 Jahren.
Darum: »Schafft Rote Hilfe!«
Nick Brauns
* Nikolaus Brauns: Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der
proletarischen Hilfsorganisation in Deutschland (1919– 1938). Pahl-Rugenstein,
Bonn 2003, 348 Seiten, 32 Euro.
Verfassungschutz aufgepaßt: Buchvorstellung mit Nick Brauns am 26.5.2004 um
19.30 Uhr in Landshut, Infoladen, Wagnergasse 10