Aus: Ausgabe vom 03.02.2016,
Seite 7 / Ausland
Staatsfeind Nummer eins
In der Türkei hat der Prozess gegen den Prediger Fethullah Gülen begonnen. Dem Erdogan-Rivalen wird der
Versuch eines Staatsstreichs vorgeworfen
Von Nick
Brauns
In
Abwesenheit des Hauptangeklagten begann am Montag in Istanbul der Prozess gegen
Fethullah Gülen und 121 mutmaßliche Anhänger des im
US-Bundesstaat Pennsylvania lebenden pensionierten türkischen Imams.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan,
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, mehrere Minister
der islamistisch-nationalistischen AKP-Regierung und Geheimdienstchef Hakan
Fidan treten persönlich als Kläger auf.
Die
10.529seitige Anklageschrift wirft den Gülenisten die
Bildung einer »bewaffneten terroristischen Vereinigung zum Sturz der Regierung«
vor. Weitere Anklagepunkte betreffen Spionage, illegale Abhörmaßnahmen gegen
zahlreiche Politiker, Journalisten und Unternehmer sowie die Fälschung von
Beweisen in einem Ermittlungsverfahren gegen eine angeblich vom Iran
unterstützte Terrororganisation namens »Tawhid
Salam«, deren Existenz bis heute nicht bewiesen werden konnte. Die
Staatsanwaltschaft fordert zweimal lebenslange Haft plus zusätzliche 67,5 Jahre
für die Hauptangeklagten Gülen, den ebenfalls in die USA geflohenen früheren
Polizeischuldozenten und Journalisten Emre Uslu sowie den früheren Leiter der
Antiterrorabteilung der Istanbuler Polizei, Yurt Atayün.
Staatsanwalt
Irfan Fidan fordert zudem, dass der Prozess gegen die beiden im November
verhafteten Journalisten der liberalen Tageszeitung Cumhuriyet,
Can Dündar und Erdem Gül, mit dem Verfahren gegen die Gülenisten
zusammengelegt wird. Die Staatsanwaltschaft hatte vergangene Woche verschärfte
lebenslange Haftstrafen für die prominenten Journalisten beantragt, die
Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an syrische Dschihadisten
dokumentiert hatten. Mit dem »Verrat von Staatsgeheimnissen« hätten die
Journalisten auf den Sturz der Regierung gezielt und damit die »Fethullah-Terrororganisation« unterstützt, heißt es in der
Anklageschrift. Während die Anschuldigungen gegen die Journalisten der aus der
kemalistischen Tradition entstandenen Cumhuriyet
absurd wirken, entbehrt der Vorwurf der Bildung eines »Parallelstaats« gegen
Gülen und seine Anhänger nicht einer gewissen Grundlage.
Nach einer
Verhaftung wegen »islamistischer Umtriebe« zu Beginn der 1970er Jahre war der
dem sunnitischen Nurculuk-Orden anhängende Gülen zu der
Erkenntnis gelangt, dass der säkulare türkische Staat ein zu mächtiger Gegner
sei, um ihn frontal anzugreifen. Er ließ seine Anhänger daher systematisch
Polizei und Justiz unterwandern. Finanzielle Unterstützung erhielt die
sektenähnlich strukturierte Gülen-Bewegung mit ihrem in rund 140 Ländern
präsenten Netzwerk von Bildungseinrichtungen, Medien und Unternehmen von
frommen anatolischen Unternehmern. Diese waren im kemalistisch-laizistischen
Staat jahrzehntelang von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossen. Als die AKP
im Jahr 2002 an die Regierung kam, ging sie ein Bündnis mit der Gülen-Gemeinde
ein, der damit die Türen für die weitere Übernahme der Justiz offenstanden.
Gemeinsam schalteten sie ihre laizistischen Gegner in der Staats- und
Militärbürokratie sowie kritische Journalisten durch Massenverhaftungen und
Schauprozesse mit gefälschten Beweisen wegen angeblicher Putschvorbereitungen
aus.
Doch seit
2013 tobt ein Bruderkrieg zwischen den beiden Fraktionen des »grünen Kapitals«.
Es geht um Posten und Pfründe im Staat. Für Erdogans
Drohung, die Gülen-Schulen zu schließen, revanchierten sich gülenistische
Staatsanwälte im Dezember 2013 mit einem Korruptionsermittlungsverfahren gegen
mehrere Minister. Erdogan sprach von einem versuchten Justizputsch. Die
daraufhin zum Staatsfeind Nummer eins ernannte Gülen-Bewegung bekommt seitdem
die gleichen autoritären Methoden zu spüren, die sie vorher gegen ihre
laizistischen Gegner angewandt hatte. Tausende Beamte wurden ihrer Posten
enthoben oder versetzt, Hunderte verhaftet. Die zum Gülen-Netzwerk gehörende
Asya-Bank sowie mehrere Zeitungen und Fernsehsender wurden AKP-nahen
Treuhändern unterstellt. Eine von der türkischen Justiz geforderte Auslieferung
des 74jährigen Gülen aus den USA erscheint indes unwahrscheinlich. Schließlich
soll Gülen seit den 60er Jahren als Mitbegründer des »Vereins zur Bekämpfung
des Kommunismus« in seiner Heimatstadt Erzurum über gute Beziehungen zur CIA
verfügen. In mehreren GUS-Staaten wurden Gülen-Schulen unter dem Vorwurf
geschlossen, als Stützpunkte des US-Geheimdienstes zu dienen.
Junge Welt
3.2.15