Aus: Junge Welt Ausgabe vom
23.02.2018, Seite 12 / Thema
Gegen die Weißen
Vor 100 Jahren wurde in Russland die Rote Armee
gegründet. Sie entstand aus der Notwendigkeit, die Oktoberrevolution gegen die
Truppen der Reaktion zu verteidigen
Von Nick Brauns
Im Februar 1918 schien die letzte Stunde
des revolutionären Russland geschlagen zu haben. Aufgrund unannehmbarer
Bedingungen der deutschen Seite hatte der sowjetrussische Delegationsleiter Leo
Trotzki am 9. Februar die Verhandlungen über einen Separatfrieden in
Brest-Litowsk abgebrochen, aber zugleich mit den Worten »dann weder Krieg noch
Frieden« die Demobilisierung der russischen Truppen verkündet. Wenige Tage
später gingen die Mittelmächte (Bulgarien, Deutsches Reich, Österreich-Ungarn
und Osmanisches Reich), nach einseitiger Aufkündigung des Waffenstillstands an
der ganzen Ostfront zur Offensive über. Sie stießen auf keinen nennenswerten
Widerstand, denn die russische Armee befand sich bereits in Auflösung.
Schließlich war das Versprechen der Bolschewiki, den Krieg zu beenden, die
stärkste Triebkraft der Oktoberrevolution gewesen, und die kriegsmüden Bauern
in Uniform strömten nun in ihre Heimatorte, um bei der per Revolutionsdekret
verfügten Landverteilung nicht zu kurz zu kommen.
Als die deutschen Truppen nur noch wenige Tagesmärsche
von Petrograd entfernt waren, wandte sich die
Sowjetregierung am 22. Februar mit dem dramatischen Appell »Das sozialistische
Vaterland ist in Gefahr!« an die Arbeiter und Bauern
Russlands. »In Durchführung des Auftrags der Kapitalisten aller Länder will der
deutsche Militarismus die russischen und ukrainischen Arbeiter und Bauern
erdrosseln, den Boden den Gutsbesitzern, die Fabriken und Werke den Bankiers
und die Macht der Monarchie zurückgeben«, heißt es in dem von Lenin verfassten
Aufruf, der die rückhaltlose Verteidigung der Sowjetrepublik zur »heiligen
Pflicht« erklärte.¹ Rote Matrosen der baltischen Flotte und revolutionäre
Einheiten der früheren Armee schlugen am folgenden Tag die deutschen Truppen
bei Pskow und Narwa. Der 23. Februar 1918 als Tag des
ersten erfolgreichen Kampfes gegen die ausländische Intervention gilt seitdem
als Gründungsdatum der Roten Armee.
Feste Stütze der Sowjetmacht
Doch die eilig an die Front kommandierten Abteilungen
konnten den deutschen Vormarsch weder im Baltikum noch in der Ukraine stoppen.
So musste die Sowjetregierung am 3. März in Brest-Litowsk einen Diktatfrieden
unterzeichnen, durch den 400.000 Quadratkilometer Land mit einer Bevölkerung
von 60 Millionen Menschen, mit den besten Getreideanbaugebieten sowie einem
Großteil der Ölquellen und der Kohle- und Eisenproduktion des Russischen
Reiches an Deutschland fielen. »Wir sind gezwungen, diesen schweren Frieden
durchzustehen«, schrieb Lenin, dem es in dieser Situation einzig darum ging,
eine Atempause bis zum Ausbruch der erwarteten Revolution in Deutschland zu
gewinnen. »Wir werden darangehen, eine revolutionäre Armee aufzubauen, nicht
mit Phrasen und Deklamationen (…), sondern durch organisatorische Arbeit, durch
Taten, durch die Schaffung einer ernst zu nehmenden, vom ganzen Volk getragenen
mächtigen Armee.«²
Die Bildung einer solchen Armee, »welche in der
Gegenwart eine feste Stütze der Sowjetmacht ist, in allernächster Zukunft das
Fundament für die Ablösung der regulären Armee durch die allgemeine
Volksbewaffnung bilden und der Unterstützung der in Europa herannahenden
sozialistischen Revolution dienen wird«³, hatte der Rat der Volkskommissare
bereits am 11. Februar per Dekret in die Wege geleitet. Den Kern dieser neuen
Truppe bildete die Rote Garde, die wiederum auf Arbeitermilizen zurückging, die
sich nach der bürgerlichen Februarrevolution 1917 in
den großen Fabriken von Petrograd und Moskau zur
Verteidigung der revolutionären Errungenschaften gebildet hatten. Angesichts
des gegenrevolutionären Putsches des auf Petrograd
vorrückenden Generals Lawr Kornilow
im September 1917 hatte der sozialdemokratische Ministerpräsident Alexander Kerenski in Ermangelung eigener zuverlässiger Kräfte
notgedrungen die Bewaffnung der bis dahin nur halblegal agierenden Roten Garde
zulassen müssen. Nach der Abwehr des Putsches durch die Verbrüderung von Kornilows Soldaten mit den Revolutionären infolge der
Agitation der Bolschewiki wurde die Rote Garde zur offiziellen bewaffneten
Macht des Petrograder Sowjets. Gemeinsam mit
aufständischen Truppenteilen der Petrograder Garnison
bildeten die unter Trotzkis Oberbefehl agierenden Rotgardisten das militärische
Rückgrat des weitestgehend unblutigen Oktoberumsturzes, der zur Machtübernahme
durch den Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte und zur Bildung einer
Sowjetregierung unter Lenin führte. In den folgenden Monaten konnte die Rote
Garde zwar die revolutionäre Ordnung in den städtischen Zentren
aufrechterhalten. Doch Generalstabschef Michail Dmitrijewitsch Bontsch-Brujewitsch, einer der wenigen erfahrenen Offiziere
unter den Revolutionären, echauffierte sich angesichts der Roten Matrosen über
»Freibeuter mit ihren perlmuttknopfbesetzten übermäßig weiten Hosen und ihrem
breitspurigen Auftreten«, die regulären Truppen niemals gewachsen seien.
Organisator des Sieges
So wurde nach Unterzeichnung des Brester
Friedensdiktats ein Oberster Kriegsrat unter dem Vorsitz des – auf Lenins
Wunsch – neuernannten Volkskommissars für Militärangelegenheiten, Trotzki,
gebildet. Der Sohn eines jüdischen Bauern aus der Ukraine verfügte über keine
praktische militärische Erfahrung. Sein diesbezügliches Fachwissen schöpfte der
Journalist und Schriftsteller vielmehr aus seiner Zeit als
Kriegsberichterstatter während der Balkankriege 1912/13. Doch die Wahl
Trotzkis, der sein Organisationstalent bereits während des Oktoberumsturzes
unter Beweis gestellt hatte, erwies sich als richtig. Unter seiner Führung
wurde aus einigen Tausend Rotgardisten innerhalb von 30 Monaten die Rote
Arbeiter- und-Bauern-Armee mit 5,5 Millionen Soldaten. »Die Revolution hat die
Feder ihres besten Publizisten zu einem Schwert umgeschmiedet«4, würdigte Karl
Radek 1925 in seinem Aufsatz »Leo Trotzki – der Organisator des Sieges« die
Wandlung des Schriftstellers zum Armeeführer.
Eine der ersten Maßnahmen Trotzkis war die Abschaffung
der Wählbarkeit der Kommandeure, die zwar dem Charakter der Roten Garde als
Freiwilligenmiliz entsprach, doch für eine einheitlich agierende Armee
ungeeignet war. »Solange dieses Prinzip in der Armee herrschte, gab es kein
Kommando. Der Kommandeur war kein Vorgesetzter, sondern ein Spielzeug in den
Händen der Soldaten«5, begründete Trotzkis Mitarbeiter J. P. Smilga diesen Schritt. Auch die nach der Oktoberrevolution
abgeschafften Disziplinarstrafen wurden wieder eingeführt – bis hin zur
Todesstrafe. Da sich nicht genug Freiwillige einfanden, wurde zuerst eine
»allgemeine militärische Ausbildung« für die werktätige Bevölkerung verfügt und
Ende Mai 1918 die Militärdienstpflicht eingeführt.
Am 1. Mai legten die roten Soldaten bei einer Parade
in Moskau ihr feierliches Gelöbnis ab, als »Söhne des werktätigen Volkes«,
dieses Volk zu schützen, für dessen Macht und Freiheit zu kämpfen sowie für die
Sache des Sozialismus und die Verbrüderung der Völker weder Leben noch Kraft zu
schonen. »Diese Worte erschließen das Wesen der Roten Armee«, hieß es in einer
zeitgenössischen Publikation, »sie ist die Armee des Sozialismus, eine Feste
nicht nur der russischen Revolution, sondern auch der Weltrevolution. Und auf
ihrem Banner steht die Befreiung aller Völker.«6
Erziehung der Kommandeure
Als großes Problem erwies sich das Fehlen erfahrener
Kommandeure. Nur wenige tausend frühere Offiziere stellten, wie der frühere
Oberkommandierende der zaristischen Armee, Alexej Alexejewitsch
Brussilow, freiwillig aus patriotischen Motiven der
Sowjetmacht ihre Fähigkeiten zur Verfügung. Daher ging Trotzki den umstrittenen
Schritt, fast 50.000 demobilisierte zaristische Offiziere als
Militärspezialisten zu verpflichten. Um sich der Loyalität dieser aus den
Oberklassen stammenden und in der Regel strikt antikommunistisch eingestellten
Offiziere zu sichern, griffen die Bolschewiki auch zu drastischen Mitteln und
nahmen deren Familien als »Pfand«. Außerdem ließ Trotzki den
Militärspezialisten Kommunisten als Kommissare zur Seite stellen, die für die
politische Erziehung der Rotarmisten verantwortlich waren und jeden Befehl
gegenzeichnen mussten, aber in militärtaktischen Fragen den Spezialisten nicht
reinreden durften. »Der Kommissar ist der direkte Vertreter der Sowjetregierung
in der Armee, der Verfechter der Interessen der Arbeiterklasse«7, erläuterte
Trotzki diese Maßnahme. Ehemals zaristische Offiziere besetzten im Jahr 1918
mehr als drei Viertel aller Kommando- und Verwaltungsstellen der Roten Armee,
bis zum Ende des Bürgerkrieges 1922 ging ihr Anteil dank neu ausgebildeter
Kommandeure aus der Arbeiterklasse auf ein Drittel zurück. Unter vielen Kommunisten
stieß die Hinzuziehung der alten Offiziere auf massiven Widerstand und
innerhalb der Truppe teilweise auf offene Sabotage. »Die Sowjetregierung kann
stolz auf die Raffiniertheit sein, mit der sie den Willen und den Verstand der
russischen Generäle und Offiziere einfing und aus ihnen ihr unwilliges und doch
gehorsames Werkzeug machte«8, musste dagegen der weißgardistische
General Anton Iwanowitsch Denikin eingestehen.
Bürgerkrieg
Das Signal zum Bürgerkrieg gab Ende Mai 1918 die
Tschechoslowakische Legion. Diese in Sibirien stationierte 40.000 Mann starke
Truppe war auf Initiative der Entente 1917 aus tschechischen und slowakischen
Kriegsgefangenen und Überläufern aufgebaut worden. Diese Legionäre, die später
den Kern der tschechoslowakischen Armee bildeten, widersetzten sich Trotzkis
Entwaffnungsbefehl und besetzten statt dessen die gesamte Strecke der
Transsibirischen Eisenbahn. In ihrem Schutze sammelten sich nun die
gegenrevolutionären Kräfte. 14 auswärtige Mächte, darunter die USA, Frankreich,
Großbritannien und Japan, entsandten Expeditionstruppen mit einer Gesamtstärke
von rund einer Viertelmillion Soldaten nach Russland. Zeitweise kontrollierte
die Sowjetregierung nur noch den Kernraum Altrusslands
vom östlichsten Zipfel des Finnischen Meerbusens bis zur Wolgamündung.
Während die Rote Armee noch im Aufbau war, bildeten
sich im ganzen Land Partisanenverbände. Eine große Rolle spielten diese bei der
Wiederherstellung der Sowjetmacht im Fernen Osten, wo die Weißen
zwischenzeitlich große Gebiete kontrollierten. Allerdings gehörten die
Partisanen sehr verschiedenen politischen Lagern an. In ihnen kämpften
Kommunisten wie Anarchisten. Insbesondere in der heute noch von Anarchisten
hochgehaltenen Bewegung von »Väterchen Machno« in der
Ukraine machte sich der starke Einfluss von Großbauern bemerkbar. So
unterstützte Nestor Machno zwar manchmal die Rote
Armee im Kampf gegen die Weißen, doch dann stellte sie sich wieder auf die
Seite der ukrainischen Gutsbesitzer, wenn die Sowjetmacht gegen diese vorging.
Eine dritte Front zwischen Rot und Weiß bildeten die »Grünen«, desertierte
Bauern, die in den Wäldern ein Räuberleben führten. Trotzki gelang es, Tausende
dieser »Genossen Deserteure« durch direkte Ansprache für die Rote Armee zu
gewinnen. Auch deshalb, weil die Weißen in den von ihnen kontrollierten
Gebieten sofort darangingen, die Landreform rückgängig zu machen – zugunsten
der adeligen Grundherren. »Alle großen Militärschriftsteller unterstrichen die
ungeheure, entscheidende Bedeutung des moralischen Kriegsfaktors. Die Hälfte
des unsterblichen Buches von Clausewitz ist dieser Frage gewidmet. Und der
ganze Sieg unseres Bürgerkrieges beruht darauf, dass Trotzki es verstanden hat,
diese Wissenschaft von der Bedeutung der moralischen Kriegsfaktoren in der
Praxis anzuwenden«9, erkannte Karl Radek das Geheimnis von Trotzkis Erfolg.
In den Jahren 1919 bis 1920 erreichte der Bürgerkrieg
seinen Höhepunkt. Die Konterrevolution bildete nun, unterstützt von den
ausländischen Interventionskräften reguläre Armeen. Dem waren die
unkoordinierten und militärisch schlecht ausgebildeten Partisanentruppen nicht
gewachsen. Dennoch, sie »trugen auf ihren Schultern die ganze Last des ersten
Kampfes, sie gewährten der Roten Armee Zeit, zu entstehen und zu erstarken und
traten ihr schließlich ihren Platz ab, indem sie in die Reihen derselben
eintraten und dadurch den Sauerteig der besten Eigenschaften der
Partisanenrevolutionäre in sie hineintrugen«, würdigte die Historische
Kommission der Kriegsakademie »die Kraft, die Bedeutung und das Verdienst der
russischen Partisanen des großen Klassenkampfes«.10 Allerdings widersetzten
sich nicht nur die Reste der zunehmend zu einer Räuberbande verkommenen Machno-Bewegung, die schließlich gewaltsam aufgelöst
wurden, einer Eingliederung in die reguläre Truppe, auch einige kommunistische
Partisanenführer gaben nur widerwillig ihre Selbständigkeit auf.
Opposition gegen Trotzki
Innerhalb der Roten Armee bildete eine Clique
ehemaliger Unteroffiziere eine Opposition gegen Trotzki. Diese Strömung um Kliment J. Woroschilow und den
Kommandeur der Roten Reiterarmee, Semjon M. Budjonny,
sah in einer zentralisierten Armee das Charakteristikum eines
»imperialistischen Staates«. Sie forderte die Wahl der Vorgesetzten und
widersetzte sich der Verwendung »arroganter Zarenoffiziere« als
Militärspezialisten. Als adäquate Form der revolutionären Kriegführung trat die
auch von Josef Stalin unterstützte Militäropposition für kleine, selbständige,
aus allen Waffengattungen kombinierte Truppenteile ein, die mit dem Zentrum
nicht verbunden waren und, gestützt auf die Sympathie der Bevölkerung, im
Rücken des Feindes agieren konnten. »Die Idee, Partisaneneinheiten einer
systematisch organisierten und zentralisierten Armee gegenüberzustellen (…) ist
ein karikaturistisches Produkt des politischen Denkens oder Nichtdenkens der
kleinbürgerlichen Intelligenz. (…) Den Guerillakrieg zu propagieren ist
dasselbe, wie eine Rückkehr von der Großindustrie zum Handwerk zu empfehlen«,
stellte sich der VIII. Parteikongress der Kommunistischen Partei Russlands im
März 1919 mit 174 zu 95 Stimmen hinter Trotzki.¹¹ Jahrzehnte später sollten die
von kommunistischen Parteien geführten Volkskriege in China und Vietnam diese
Gewissheiten Lenins und Trotzkis widerlegen.
Die Rote Armee kämpfte an Fronten von einer Länge von
über 8.000 Kilometer. Angesichts der Weite des Raums kam Budjonnys
roter Kavallerie eine besondere militärische Bedeutung im Kampf gegen die
Kosakenverbände und die Truppen Denikins und Wrangels zu. »Aus Partisanenabteilungen, aus Flüchtlingen,
die vor den Weißen wegliefen, aus den in der nächsten Umgegend
mobilisierten Bauern, aus Arbeiterabteilungen, welche die Industriezentren
entsandten, aus kommunistischen Gruppen und Militärspezialisten formierten wir
hier, an der Front, Kompanien, Bataillone, frische Regimenter, manchmal auch
ganze Divisionen. Nach Niederlagen und Rückzügen verwandelte sich die lockere,
von Panik erfasste Masse in zwei bis drei Wochen in kampffähige
Truppenteile«¹², schilderte Trotzki, der mit seinem legendären Panzerzug von
einem Krisenort zum nächsten eilte, um die Soldaten zu motivieren. »Was war
dazu nötig? Viel und wenig! Gute Kommandeure, einige Dutzend erfahrene Kämpfer,
zehn aufopferungsfähige Kommunisten, Stiefel auftreiben für die Barfüßigen,
eine Badeanstalt herrichten, eine energische Agitationskampagne durchführen,
Essen verschaffen, Wäsche, Tabak und Streichhölzer liefern.«
Nach militärischen Erfolgen konnte sich die
Sowjetmacht 1920 konsolidieren, die Entente begann mit dem Abzug ihrer
Interventionstruppen. Der Kriegsschauplatz verlagerte sich nun nach Polen. Der
polnische Staatschef Marschall Jozef Pilsudski hatte seine von Frankreich
aufgerüsteten Truppen im Mai 1920 in Kiew einmarschieren lassen. Nach
erfolgreicher Abwehr der polnischen Offensive rückte die Rote Armee ihrerseits
auf Warschau vor. Der in dieser Auffassung von Lenin unterstützte
Oberbefehlshaber der Roten Armee im Polenfeldzug, Michail N. Tuchatschewski, hegte die irrige Hoffnung, der Vorstoß auf
die polnische Hauptstadt würde dort zum Aufstand und zur Ausbreitung der
Revolution nach Mitteleuropa führen. Trotzki hatte dagegen aufgrund der durch
Jahrhunderte nationaler Unterdrückung durch das Großrussentum
geprägten Mentalität der polnischen Arbeiterklasse einen solchen »Revolutionsexport«
auf den Bajonetten der Roten Armee abgelehnt. Tatsächlich erlitten deren
Verbände vor Warschau beim sogenannten Wunder an der Weichsel eine Niederlage
gegen die schon geschlagen geglaubten polnischen Truppen und mussten sich
zurückziehen. Dazu beigetragen hatte das eigenmächtige Handeln Budjonnys und des politischen Kommissars an der südlichen
Front, Stalin. In der Hoffnung auf eigenen militärischen Ruhm hatten diese
entgegen Lenins Weisung einen Vorstoß auf das Industriezentrum Lemberg begonnen und ihrem Rivalen Tuchatschewski
die angeforderte Verstärkung verweigert.
Ironie der Geschichte
1923 wurden die Streitkräfte der Roten Armee auf einen
Friedensbestand von 610.000 Mann verringert. Trotzki, der im Kampf um die
Nachfolge Lenins gegenüber Stalin ins Abseits geraten war, wurde am 17. Januar
1925 vom Zentralkomitee von allen militärischen Aufgaben entbunden. Der Gründer
der Roten Armee nahm diese Degradierung willig hin, um – wie er später schrieb
– jeden Verdacht zu zerstreuen, er würde auf eine »bonapartistische«
Restauration hinarbeiten. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass der
einstige Kämpfer gegen die »Epaulettenträger«, Woroschilow, dann als Trotzkis Nachfolger die
Offiziersprivilegien wiederherstellte. Nach Wiedereinführung der alten
Dienstgrade wurde Woroschilow 1935 zum ersten
Marschall der Roten Armee ernannt.
Im Mai 1937 erfassten die sogenannten Stalinschen Säuberungen schließlich auch die Rote Armee. Tuchatschewski hatte 1921 in der Debatte um eine
proletarische Militärdoktrin gegen Trotzki das linksradikale Konzept der Roten
Armee als eines »Generalstabs der Weltrevolution« verfochten. Wegen seiner
nunmehr selbst als »trotzkistisch« verfemten internationalistischen Ansichten
geriet der Generalstabschef und Vizevolkskommissar für Verteidigung mit der auf
Erhalt des Status quo bedachten Sowjetbürokratie in Konflikt. Der »rote
Napoleon« wurde auf Stalins Befehl hin verhaftet und ebenso wie eine Mehrheit
der ihm noch aus Bürgerkriegszeiten treu ergebenen oberen Kommandeure
erschossen. Am Vorabend des drohenden Weltkrieges wurde die Rote Armee so
förmlich enthauptet.
Anmerkungen:
1 Wladimir I. Lenin: Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 17
2 Ebd., S. 24
3 Zit. n. Peter Gosztony:
Die Rote Armee, Wien/ u. a. 1980, S. 40
4 Die Rote Armee – ein Sammelbuch, Hamburg 1925, S. 46
5 H. Bergmann/J. Smilga/L.
Trotzki: Die russische sozialistische Rote Armee, Zürich 1920, S. 61
6 Ebd., S. 29
7 Leo Trotzki: Die Geburt der Roten Armee, Wien 1924,
S. 60
8 Zit. n. Isaak Deutscher: Der bewaffnete Prophet
1879–1921, Stuttgart 1962, S. 391
9 Die Rote Armee – Ein Sammelbuch, a. a. O., S. 49
10 Ebd. S. 18
11 Heinz Abosch: Trotzki und
der Bolschewismus, Frankfurt am Main/u. a. 1984, S. 62
12 Leo Trotzki: Mein Leben, Berlin 1930, S. 399