Lehren
der Kommune
Rätedemokratie
in Geschichte und Gegenwart
Von
Dr. Nick Brauns
„Die Kommune war
eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt
der Gesellschaft; sie war eine Wiederbelebung durch das Volk und des eigenen
gesellschaftlichen Lebens. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht
von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andere zu übertragen,
sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft
selbst zu zerbrechen. ... Die Kommune war die entschiedene Negation jener
Staatsmacht und darum der Beginn der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts.
Was daher immer ihr Geschick in Paris ist,
sie wird ihren Weg um die Welt
machen.“ (Karl Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, geschrieben April/Mai 1871,
MEW 17, 541f.)
„Es sollte unser grundlegendstes Paradigma
werden: Das Volk in Form von Kommunen von der Basis bis an die Spitze
organisieren. Das muss in der Praxis so aussehen, dass praktische Lösungen für
alltägliche Probleme gefunden werden. Nur so können wir den Sozialismus ins
Leben rufen. Die Pariser Kommune war ein guter Ansatz, doch wurde sie nicht gut
verstanden. Wenn sie erfolgreich gewesen wäre, wäre der Sozialismus entstanden,
den Marx wollte. Später kam jedoch ein Sozialismusverständnis
auf, dass der Sozialismus mit Hilfe des Staates aufgebaut werden sollte. Der
Staat kann aber nicht sozialistisch sein, nur die Gesellschaft kann sozialistisch
sein.“ (Abdullah Öcalan, görüsme notlari, Februar 2010)
Unter
dem Namen „demokratischer Konföderalismus“ wird in
Nordkurdistan eine radikaldemokratische Reformbewegung durchgeführt. Eine
Gesellschaft, die seit Jahrtausenden von einem allmächtigen Staat formiert und
unterdrückt wurde, beginnt mit basisdemokratischer Selbstorganisation und damit
mit ihrer Selbstbefreiung. Bei allen Besonderheiten der kurdischen Situation
gab es in der neueren Geschichte der Menschheit bereits eine Vielzahl von
Versuchen der Selbstbefreiung durch radikale Demokratisierung und
Selbstregierung, aus denen wertvolle Lehren für die heutigen und zukünftigen
Befreiungskämpfe gezogen werden können. Insbesondere die Pariser Kommune von
1871 diente Karl Marx, aber auch Lenin und heute Abdullah Öcalan als ein
leuchtendes Vorbild.
Mitten
im deutsch-französischen Krieg des Jahres 1871 ergriff das werktätige Volk von
Paris die Macht. Nach der Niederlage in Sedan im
September 1870 hatte die französische Armee kapituliert, Kaiser Napoleon III
war in deutsche Gefangenschaft geraten, die Republik wurde ausgerufen. Im
Januar 1871 drohte Paris die Besetzung durch die Deutschen. Die konservative
bürgerliche Regierung unter Adolphe Thiers hatte sich nach Versailles
abgesetzt. In Stich gelassen von seinen bürgerlichen Herren, die aus Angst um
ihre Privilegien lieber mit den deutschen Besatzern kollaborierten, als sich
bei der Verteidigung von Paris auf das bewaffnete Volk zu stützen, nahmen die
in der Nationalgarde organisierten Werktätigen von Paris den Schutz der Stadt
in die eigene Hand. Der Versuch der Thiers-Regierung, die Kanonen der
Nationalgarde durch reguläre Soldaten zu rauben, scheiterte an der Verbrüderung
der Soldaten mit den Nationalgardisten. Nun ergriff das Zentralkomitee der
Nationalgarde in Paris die Macht, ließ aber gleich darauf Wahlen zum
Gemeinderat – zur Kommune – durchführen. Dieser revolutionäre Pariser Stadtrat
herrschte vom 18.März bis 28.Mai 1871. »Die
Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen
Bezirken von Paris gewählten Stadträten«, heißt es in Karl Marx’ berühmter
Beschreibung der in Paris verwirklichten Rätedemokratie, an deren Prinzipien
sich alle späteren sozialistischen Versuche messen lassen müssen. »Sie waren verantwortlich und jederzeit
absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten
Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische,
sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu
gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde
sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das
verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt.
Ebenso die Beamten aller anderen Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der
Kommune an abwärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt
werden. Die erworbenen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen
Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die
öffentlichen Ämter hörten auf, das Privateigentum der Handlanger der
Zentralregierung zu sein. Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die
ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der
Kommune gelegt.« Die Kommunarden setzten eine Reihe radikaldemokratischer
und sozialreformerischer Programmpunkte um. Hierzu gehörte die Trennung von
Staat und Kirche, unentgeltlicher Unterricht an allen Lehranstalten, der Erlaß der Mieten, die Unterstützung der legitimen und
illegitimen Witwen und Waisen gefallener Kommunarden, die unentgeltliche
Rücknahme verpfändeter Gegenstände aus Pfandleihanstalten, das Verbot von
Nachtarbeit in Bäckereien und die Sozialisierung der von ihren Besitzern
verlassenen Betrieben. Doch die Bank von Frankreich, die das entscheidende
Pfand in ihren Händen gewesen wäre, wagte die Kommune nicht anzutasten. Der
Ausbruch der Bürgerkriegshandlungen verhinderte zudem den sozialistischen
Flügel der Kommunarden an der weiteren Durchführung seines sozialen Programms.
Schließlich war die Kommune als »Diktatur des Proletariats« gezwungen, eine
Reihe von autoritären Maßnahmen gegen ihre Feinde zu treffen, wie das Verbot
konterrevolutionärer Presse. Gegen die in Frankreich isolierte Kommune
verbündeten sich selbst die eben noch im Krieg gegeneinander stehenden
Herrscher Frankreichs und Preußen-Deutschlands. Die Preußen gaben den
französischen Generälen, die sie eben noch unterworfen hatten, grünes Licht zur
Niederschlagung der Kommune. In der letzten Maiwoche drangen die gegenrevolutionären
französischen Truppen in Paris ein und metzelten 25.000 Kommunarden nieder. Die
Kommune wurde zerschlagen, aber ihr Andenken lebte in allen weiteren
revolutionären Kämpfen der Unterdrückten weiter und ihre Lehren prägten die
nächsten Versuche der Befreiung.
Die
besondere Bedeutung der Pariser Kommune lag nicht in ihrer aktiven Politik oder
auf sozialem Gebiet. »Ihr wahres
Geheimnis war dies«, erkannte Marx, »Sie
war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der
hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische
Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“
Die Arbeiterklasse konnte nicht einfach die fertige Staatsmaschinerie in Besitz
nehmen und für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen, sondern musste diese
zuerst zerbrechen. Diese Erkenntnis – die zugleich der wesentliche Unterschied
der kommunistischen zu allen reformistischen sozialdemokratischen Strömungen in
der Arbeiterbewegung wurde – war der war die einzige Korrektur, die Marx und
Engels nach der Erfahrung der Kommune am Kommunistischen Manifest von 1848
vornahmen. Schließlich war der bürgerliche Staat nicht nur ein Instrument der
Emanzipation des Bürgertums gegen den Feudaladel, sondern zugleich eine
Apparatur zur Unterdrückung der Arbeiterklasse. Ausgangsbedingung für die
Kommune von Paris war daher die Ersetzung des stehendes Heeres durch das
bewaffnete Volk in Form der Föderation der Nationalgarde. Und Marx betonte eine
weitere Lehre, ohne die die Kommunalverfassung „eine Unmöglichkeit und eine
Täuschung“ bleiben musste: die
Notwendigkeit, auch die materiellen Bedingungen für die radikale
Demokratisierung der Gesellschaft durch eine Umwälzung der wirtschaftlichen
Besitzverhältnisse zu schaffen. Eben dies hatten die Kommunarden noch versäumt:
„Die politische Herrschaft des
Produzenten kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen
Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen
Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der
Klassenherrschaft ruht. Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein
Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.“
Als „endlich entdeckte Form“ der Befreiung der Arbeiterklasse und damit aller
anderen Unterdrückten hatte Marx die Kommune bezeichnet. Damit machte er
deutlich, dass es sich hier nicht einfach um eine „gute Idee“ oder ein
utopisches Ideal handelt. Vielmehr zog Marx seine Lehren aus der Realität, dem wirklichen
Verlauf der Geschichte. Entsprechend bildeten sich in den Revolutionen des
20.Jahrhunderts immer wieder Räte nach dem Modell der Kommune. Nicht, weil dies
in den Programmen kommunistischer Parteien so geschrieben war, sondern weil
diese Form der basisdemokratischen Selbstorganisation sich immer dann im
praktischen Kampf als notwendig erwies, wenn die bestehenden Staatsapparate
versagten oder sich offen gegen die Interessen der Masse der Bevölkerung
stellten.
Als
der autokratische russische Zar 1905 – nach der Niederlage Russlands im Krieg
gegen Japan – auf eine Demonstration hungernder Arbeiter schießen ließ, führte
dies zu einer breiten Streikbewegung, in deren Rahmen sich zur weiteren
Koordination Räte (russisch: Sowjets) aus Delegierten der großen Betriebe
bildeten. Noch waren die Räte zu schwach beziehungsweise die in ihnen
organisierten politischen Strömungen zu zerstritten und zu zögerlich, um den
zaristischen Staat zu stürzen. So endete diese Generalprobe der russischen
Revolution mit der Zerschlagung der Räte. Der Vorsitzende des Petersburger
Arbeitersowjets, der junge Revolutionär Leo Trotzki, wurde ebenso wie viele
weitere Räteaktivisten inhaftiert. Während des Ersten Weltkrieges bildeten sich
Anfang März 1917 erneut Arbeiter- und Soldatenräte, als es zu einer
Hungerrevolte und Streiks der Arbeiter gegen den Zarismus kam. Zwar wurde der
Zar gestürzt, doch es bildete sich parallel zu den Räten eine Provisorische
Regierung aus bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien, die auch in den Räten
noch die Mehrheit hatten. Diese Parteien waren für eine Fortsetzung des
Krieges. Auch sahen sie in den Räten nur eine vorübergehende Erscheinung, die
möglichst schnell zu Gunsten eines normalen bürgerlichen Parlaments ersetzt
werden sollten. Nur die kommunistischen Bolschewiki, die anfangs nur eine
Minderheit der Rätedelegierten stellten, vertraten die Losung „Alle Macht den
Räten“. Lenin, der aus seinem Schweizer Exil ins revolutionäre Russland
zurückkehrte, formulierte im April 1917 in seinen Aprilthesen Programmpunkte,
für die die Bolschewiki in den Räten werben sollten. Nicht zufällig knüpfte er
hier an den Lehren der Pariser Kommune an:
„Nicht parlamentarische Republik – eine
Rückkehr von den Arbeiterdeputiertenräten zu dieser
wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik von Arbeiter-,
Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräten im ganzen
Lande, von unten bis oben. Abschaffung der Polizei, der Armee, des Beamtentums.
Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen,
nicht über den Durchschnittslohn eines qualifizierten Arbeiters.“ Diese
demokratischen Forderungen ergänzte Lenin durch die wirtschaftlichen
Forderungen der „Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande“ unter Kontrolle
von Landarbeiterräten, der Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer
Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates
untersteht sowie der sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen
Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat.
Als sich im Laufe des Jahres 1917 zeigte, dass die bürgerlichen und
sozialdemokratischen Parteien nicht gewillt waren, die drängendsten Forderungen
der Masse der Bevölkerung nach Brot, Land und Frieden zu erfüllen, sondern den
Krieg weiter anheizten und die bisherigen Errungenschaften der Revolution gefährderten, wuchs die Unterstützung für die Bolschewiki. Es
war eine Zeit der Doppelherrschaft. Der bürgerliche Staat existierte mit der
provisorischen Regierung an der Spitze weiter und setzte zunehmend repressive
Maßnahmen gegen Arbeiter und Bauern durch, die ihre Rechte einforderten.
Gleichzeitig bestanden die Räte als eine Alternative. Nachdem die Bolschewiki dann
noch an vorderster Front den Widerstand gegen den vom sozialdemokratischen
Ministerpräsidenten Kerenski unterstützten
Putschversuch des reaktionären Generals Korniklow organisierten,
der eine Militärdiktatur anstrebte, hatten sie soviel Zustimmung unter den
Arbeitern, Soldaten und Bauern gewonnen, dass sie bei den nächsten Wahlen zu
den Rätedelegierten gemeinsam mit dem linken Flügel der bäuerlichen
Sozialrevolutionäre die Mehrheit stellten. Erst in dieser Situation, in der sie
in den Räten die Mehrheit gewonnen hatten, entschieden sich die Bolschewiki zum
bewaffneten Aufstand zum Sturz der provisorischen Regierung und der Übernahme der
ganzen Macht durch die Räte. Die Doppelherrschaft wurde durch die
Oktoberrevolution beendet und Russland zur Räterepublik. Der auf Räte im ganzen
Land gestützte Rat der Volksdeputierten mit Lenin an der Spitze führte eine
Reihe demokratischer und sozialer Maßnahmen durch. So wurden sofortige
Friedensverhandlungen aufgenommen, der Großgrundbesitz an die landlosen Bauern
verteilt, die Banken verstaatlicht und die Kontrolle über die Industrie den
Arbeiterräten übergeben.
Lenin
und die Bolschewiki wollten nicht einen neuen starken Staat errichten. Sie
verstanden die Räterepublik schon als einen ersten Schritt zur Abschaffung des
Staates überhaupt. Denn im marxistischen Verständnis hat sich der Staat in der
Geschichte als Unterdrückungsinstrument der jeweils herrschenden Klasse über
die Ausgebeuteten gebildet. Die Voraussetzung für ein Ende eines jeden Staates
ist damit das Ende der Klassengesellschaft im Kommunismus. Doch solange es noch
Klassen mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Interessen gibt, wird auch
eine Räterepublik noch ein Staat in dem Sinne sein, dass sie Zwangsmaßnahmen gegen
Menschen anwenden muss. Dies ist die „Diktatur des Proletariats“, die zwar eine
weitestgehende Demokratie für die Mehrheit der Bevölkerung ist, aber gegenüber
ihren Feinden sich auch autoritär zu wehren weiß. Lenin zitiert in seinem
grundlegenden staatstheoretischen Werk „Staat und Revolution“ Engels: "Indem
er (der Staat) endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft
wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse
mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und
dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums
Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt
sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine
besondere Repressionsgewalt, einem Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin
der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die
Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich
sein letzter selbständiger Akt als Staat." Das heißt: "An die
Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die
Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht 'abgeschafft' er stirbt
ab."
Die
Realität in der Sowjetunion war leider eine andere, da die geschilderten
Voraussetzungen zur Schaffung der klassenlosen Gesellschaft weder ökonomisch
noch politisch gegeben waren. Nachdem sich die anderen Parteien mit der
ausländischen Gegenrevolution verbündeten und Attentate gegen die Sowjetmacht
und Lenin begingen, wurden sie als eine eigentlich nur vorübergehend gedachte
Maßnahme verboten und die Bolschewiki damit zur einzigen Partei im Land. Die Verwüstungen
durch Krieg und anschließenden von den imperialistischen Staaten unterstützten Bürgerkrieg
führten in Verbindung mit der Rückständigkeit des Landes und seiner Isolation
sowie der fortgesetzten feindlichen Belagerung und Kriegsdrohung durch das
kapitalistische Ausland zu einer Deformation der Rätemacht bereits in der
ersten Hälfte der 20er Jahre. Viele der aktivsten und bewusstesten
Revolutionäre aus der Arbeiterklasse waren im Bürgerkrieg gefallen. Die Räte
bluteten regelrecht aus. Innerhalb der Mangelwirtschaft in dem bis zur
Industrialisierung Ende der 20er Jahre weitestgehend agrarischen Land bildete
sich eine materiell privilegierte Staats- und Parteibürokratie heraus, die die
Arbeiterklasse entmündigte. Anders, als von Marx, vorhergesagt starb der Staat im
Realsozialismus nicht ab, sondern erstarkte immer weiter. Demokratische
Eigeninitiative der Werktätigen wurde von der Bürokratie als Gefahr für die
eigene privilegierte Stellung angesehen und unter der Herrschaft Stalins und seiner
Nachfolger mit Repressalien bis hin zu Hinrichtungen oder Arbeitslager für
oppositionelle Kommunisten beantwortet. Die Sowjetunion und die nach ihrem Sieg
gegen den Hitlerfaschismus in Osteuropa entstandenen Arbeiterstaaten bewiesen die
großartigen Möglichkeiten einer nach rationalen Kriterien geplanten statt nach
Profitmaximierung strebenden Wirtschaft. Doch gleichzeitig erwürgte der
bürokratisierte Staatssozialismus eben dieses Potential und bereitete damit
letztlich der kapitalistischen Konterrevolution den Weg. Als 1989/90 der
Realsozialismus von innen her zusammenbrach, rührten die von ihren
Arbeiterstaaten entfremdeten und in Passivität verharrenden Arbeiter keinen
Finger zur Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften. „Ohne Demokratie
kann weder Sozialismus, noch Kommunismus entstehen“ – diese Erkenntnis Abdullah
Öcalans entspricht den gleichlautenden Gedanken von Rosa Luxemburg und Leo
Trotzki, die schon früh auf die Gefahr einer solchen Degeneration des
Sozialismus hingewiesen hatten.
Arbeiter-
und Soldatenräte bildeten sich auch in Deutschland in der Revolution von
1918/19, durch die der Kaiser gestürzt und der Krieg beendet wurde. Doch in
diesen Räten hatten Sozialdemokraten die Mehrheit, die in diesen Räten nur eine
Zwischenetappe auf dem Weg zum Parlamentarismus sahen. Die Anhänger einer
reinen Räterepublik nach russischem Vorbild um Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht verfügten im Unterschied zu Lenins Bolschewiki noch über keine
starke kommunistische Partei. Versuche, dennoch mit einer Minderheit die
Räterevolution weiterzutreiben, wurden von der sozialdemokratischen Regierung
im Bündnis mit protofaschistischen Armeeeinheiten blutig niedergeschlagen.
Liebknecht, Luxemburg und Tausende Arbeiter wurden 1919 von der Soldateska
unter Verantwortung des sozialdemokratischen Kriegsministers Gustav Noske ermordet. Diejenigen Räte, die sich nicht selbst
aufgelöst hatten, wurden bis zum Frühjahr 1919 zerschlagen und die Weimarer
Republik als bürgerlich-parlamentarischer Staat gegründet.
Unter
der Losung „Land und Freiheit“ bildeten sich erneut im spanischen Bürgerkrieg
1936 in Katalonien Arbeiter- und Bauernräte, als Anarchisten und linke
Sozialisten den Kampf gegen die faschistischen Truppen des General Franco mit
dem Kampf für eine Landreform und für den Sozialismus verbanden. Doch diese
Räte wurden nicht nur von den Faschisten attackiert, sondern auch von der
Kommunistischen Partei, die eine sozialistische Revolution in Spanien zu diesem
Zeitpunkt ablehnte, um ein angestrebtes Bündnis der Sowjetunion mit den kapitalistischen
Westmächten Frankreich und Großbritannien nicht zu gefährden. Dies sollte nicht
das letzte Mal bleiben, dass Rätebewegung und Parteikommunisten
unterschiedliche Wege gingen. In Ungarn 1956 und in Polen 1980 bildeten Arbeiter
in den realsozialistischen Staaten Räte, um gegen die bürokratische
Entmündigung für wirkliche Arbeiterdemokratie und Sozialismus von unten zu
kämpfen.
Räte
blieben keineswegs nur auf Europa beschränkt. Heute ist nur noch wenigen
bewusst, dass die iranische Revolution 1979, in der der Schah gestürzt wurde, als
eine Arbeiterrevolution begann und sich Arbeiter- und Volksräte bildeten. Doch
Fehler großer Teile der Linken, die wie die „kommunistische“ Tudeh-Partei Illusionen in Ajatollah Khomeini als „natürlichen
Führer der Revolution“ und „Antiimperialisten“ hatten, ermöglichte es den
Mullahs, die Arbeiterräte zu zerschlagen und die Volksräte in den Stadtteilen
zu übernehmen, um sie anschließend abzuschaffen. Khomeini war eben nicht der
Führer der Revolution, sondern ihr Totengräber.
Auch
Kurdistan hat seine Rätetradition. Als zu Ende des Golfkrieges 1991 die
Diktatur der Baath-Partei in den kurdischen
Landesteilen des Irak unter dem Ansturm der Massen zusammenbrach, bildeten sich
kurdische Volksräte, die vorübergehend die Macht übernahmen, ehe sie der
Kontrolle der großen südkurdischen Parteien unterworfen und wenig später unter
dem Ansturm der zurückkehrenden Truppen des Baath-Regimes
zerschlagen wurden. So, wie der preußisch-deutsche Militarismus seinen gerade
besiegten Feind Frankreich die Ermächtigung zur Niederschlagung der Pariser
Kommune gab, so erteilte US-Präsident George W. Bush sen. seinem gerade
besiegten Saddam Hussein grünes Licht für die Zerschlagung der kurdischen
Freiheitsräte. Eine emanzipatorische Selbstbefreiung der Kurden war von den USA
nicht erwünscht.
Aus
der bisherigen Geschichte der Rätebewegung lassen sich einige grundlegende
Lehren ziehen.
·
Eine
dauerhafte Doppelherrschaft zwischen dem bürgerlichem Staatsapparat, der ja ein
Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klassen gegen die arbeitende
Bevölkerung ist, und den Räten eben dieser werktätigen Menschen kann es nicht
geben. Entweder wird der bürgerliche Staat die Räte zerschlagen oder zu
machtlosen Diskussionsgremien degradieren, oder die Rätebewegung muss den
bürgerlichen Staat zerschlagen und sich zur Räterepublik erheben. Die
Fortexistenz des bürgerlichen Staates bedeutet eine permanente Schwächung der
Räte, deren Aktivisten Verfolgung, Verhaftung oder sogar Ermordung durch
staatliche Kräfte droht. Zudem wird ein unter staatlicher Repression leidendes
und möglicherweise nur im Untergrund organisiertes Rätesystem nur die
bewusstesten Teile der Bevölkerung erreichen und organisieren. Für eine
lebendige Rätedemokratie ist aber die Organisierung der gesamten Gesellschaft
in Räten notwendig.
·
Solange
ein Rätesystem isoliert und von feindlichen Kräften umgeben ist, wird es nicht
sein volles Potential entfalten können. Anstatt alle Kräfte in den Aufbau einer
freien und sozialen Gesellschaft zu stecken, werden viele Energien in die
Verteidigung gelegt werden müssen. Auch kann ein in feindlicher Belagerung
existierendes Rätesystem nicht volle demokratische Freiheiten nach innen
gewähren, da es sich seiner inneren Feinde erwehren muss. Hier drohen ebenfalls
undemokratische Deformationen.
·
Die
radikale Demokratisierung der Gesellschaft durch Räte darf nicht nur auf den
politischen Bereich beschränkt bleiben. Sie darf nicht am Fabriktor oder vor
der Farm enden. Solange die Räte in wirtschaftlichen Fragen keine Entscheidungsbefugniss haben, werden sie keine
Sozialprogramme zur nachhaltigen Verbesserung der Lebenssituation der
Bevölkerung umsetzen können. Entscheidungsbefugniss
in Wirtschaftsfragen setzt allerdings Eingriffe in das Privateigentum an
Produktionsmitteln und Grund und Boden voraus. Solche Fragen lassen sich auch
in einem Rätesystem nicht im Konsens lösen, da die besitzenden Klassen sich
ihren Besitz kaum durch demokratische Mehrheitsentscheidungen nehmen lassen
werden. Dafür brauchen die Räte auch die Möglichkeit, Zwang auszuüben durch
eine bewaffnete Exekutive. Den je nach Bedürfnis föderalistisch oder
zentralistisch aufgebauten Räten auf politischem Gebiet – von der Straßen- und
Stadtviertelebene bis zu Provinz- und Landesebene – entsprechen damit im
wirtschaftlichen Bereich genossenschaftlich organisierten Kooperativen und
vergesellschafteten Industriebetriebe unter Arbeiterselbstverwaltung.
·
Wirkliche
lebendige Räte bilden sich nicht auf Befehl einer Partei oder eines Führers,
sondern sind Produkte des praktischen Kampfes von Arbeitern und anderen
Unterdrückten. Ohne eine Partei oder ideologische Führung, die für eine
Ausweitung und Verallgemeinerung der Rätemacht eintritt und das Ziel einer
Räterepublik ausgibt, werden solche Räte jedoch früher oder später wieder
zerfallen oder sich zugunsten des bürgerlichen Staates wieder auflösen. Eine
Partei, die die Rätemacht propagiert, muss durch ihr praktisches Beispiel und
Vorbild Mehrheiten in den Räten gewinnen.
Weltweit
ist die bürgerlich-parlamentarische Herrschaftsform heute in einer tiefen
Krise. Auch in Deutschland beteiligen sich immer weniger Menschen an Wahlen
oder fühlen sich durch die gewählten Parlamentarier vertreten. Die
sozialistische Rätedemokratie wird damit erneut zur Alternative sowohl zum
zunehmend autoritären bürgerlichen Staat im Neoliberalismus als auch zu den auch
am Mangel echter Arbeiterdemokratie gescheiterten staatssozialistischen
Systemen. In verschiedenen lateinamerikanischen Staaten wie Bolivien und
Venezuela haben sich heute Räte als Instrumente der Volksmacht und Garant eines
Weitertreibens der revolutionären Prozesse in diesen Ländern etabliert, wenn
auch der bürgerliche Staat noch keineswegs überwunden ist und
Bürokratisierungstendenzen nicht ignoriert werden dürfen.
Die
Räteidee lebt somit auch im 21.Jahrhundert weiter –
und Kurdistan ist hier ein Teil der Avantgarde. In nordkurdischen Städten, die
von demokratischen Volksparteien wie der inzwischen verbotenen DTP und ihrer
Nachfolgerin BDP verwaltet werden, bilden sich unterstützt von den
Stadtverwaltungen Rätestrukturen für einen demokratischen Kommunalismus
heraus. Noch findet der Aufbau dieser Räte inmitten feindlicher Belagerung
durch den türkischen Staat statt und kann darum vorerst nur eine Minderheit der
Bevölkerung erreichen. Und noch wurde die Eigentumsfrage nicht gestellt. Der
Großgrundbesitz der Aghas wurde nicht angetastet. Für die kurdische Revolution
wird es zur strategischen Frage, ob es gelingt, eine demokratische Autonomie
soweit zu erkämpfen und zu verteidigen, so dass der türkische Staat die Rätestrukturen
nicht mehr angreifen kann. Und das System des demokratischen Konföderalismus muss um eine wirtschaftliche Komponente
erweitert werden. Das bedeutet, über eine Landreform ebenso nachzudenken, wie
über eine demokratisch geplante und durchgeführte nichtkapitalistische
Entwicklung des Landes durch Kooperativen. Solange aber der türkische
Kolonialismus über Kurdistan herrscht, ist der demokratische Konföderalismus eine Schule der radikalen Demokratie und
eine Kulturrevolution, durch die immer weitere Teile der Bevölkerung aktiv in
den Kampf um Befreiung und Selbstbestimmung einbezogen wird. Das Erbe der
Kommunarden von 1871 lebt heute weiter - in den Guerillacamps in Kandil ebenso wie im Flüchtlingslager Maxmur
und in den Stadtverwaltungen von Amed und Hakkari
Leicht
überarbeitete Fassung aus Ronahi – Zeitschrift des
Verbandes der Studierenden aus Kurdistan YXK, 2010