Aus: junge
Welt Ausgabe vom 01.11.2019,
Seite 11 / Feuilleton
Zum
80. Geburtstag des Schrifstellers Aras Ören erscheint dessen »Berliner Trilogie« erneut
»Ein
verrückter Wind eines Tages / wirbelte den Schnurrbart eines Türken, / und der
Türke rannte hinter seinem Schnurrbart / her und fand sich in der Naunynstraße.« Hunderttausende
Arbeitsmigranten aus der Türkei kamen in Folge des Anwerbeabkommens von 1961
nach Westdeutschland und Westberlin. Viele von ihnen, die nun in der Industrie
oder auf dem Bau schufteten, waren von ihrer Herkunft anatolische Bauern, die
im Zuge des Vordringens kapitalistischer Strukturen auf dem Lande nicht mehr
von ihrem Fleckchen Land leben konnten. Und einige von ihnen, die ihr
dörfliches Kulturerbe und ihre Religion im Gepäck mitbrachten, fanden ihre neue
Heimat in der 826 Meter langen Naunynstraße im Herzen
von Berlin-Kreuzberg. Ihnen gibt der Schriftsteller Aras Ören
eine Stimme in seinem 1973 erschienenen überaus erfolgreichen, auch verfilmten
und vertonten Poem »Was will Niyazi in der Naunynstraße«,
das nun gemeinsam mit den beiden nachfolgenden Bänden »Der kurze Traum aus Kagithane« und »Die Fremde ist auch ein Haus« als »Berliner
Trilogie« vom Verbrecher-Verlag in einem Band neu aufgelegt wird. Ören stellt das Leben von Arbeitern – nicht nur der
Migranten aus der Türkei, sondern auch ihrer deutschen Kollegen – in all seiner
Widersprüchlichkeit da. »Ja, so schreibe ich von dem, / was ich sehe, / was ich
höre, / herantreibende Buchstücke, losgerissen, / in
Ausschnitten Gesehenes / und Stimmen. / Zu alldem schaffe ich Verbindungen, /
die ganze Geschichte fass’ ich an der Hand. / Wie auf einer Reise suche ich das
Unbekannte«, lässt der Schriftsteller sein Alter ego
seine Methode erklären.
Stilistisch erinnert die »Berliner Trilogie« an Nazim Hikmets Poem »Menschenlandschaften« über den türkischen
Befreiungskampf. Doch Örens Figuren sind keine
heroischen Kämpfer. Es sind Menschen, die von anonymen und von ihnen nicht
durchschaubaren Kräften der kapitalistischen Ökonomie aus ihrem gewohnten Leben
gerissen wurden. Einige lassen sich als Lohndrücker missbrauchen, greifen zum
Alkohol oder mutieren zum Faschisten. Andere, wie Niyazi, der Stanzer bei der Preussag, erkennen schließlich ihren Platz
in der Gesellschaft. »Alles was auf der Erde gemacht ist, ist gemacht von der
Arbeitskraft des Menschen. / Und das, was man Zivilisation nennt, / hat diese
Arbeitskraft als Summe übereinandergelegt. / Da ist ein bisschen, dein, ein
bisschen mein Anteil, / das ist der Anteil der Arbeitenden, / egal aus welcher
Nation / oder wo sie leben. / Selbst in dem weichen Toilettenpapier / und in
den Raketen, die zum Mond fliegen, / steckt ihr kaum merklicher Schweißgeruch.«
Auf die Erkenntnis
folgt die Aktion. Gemeinsam mit Schornsteinfeger Horst beschließt Niyazi, den
Nachbarn zu zeigen, was ihre Rechte sind und wer sie ihnen raubt, damit
»Arbeiter, Naunynstraßenbewohner, zusammen beim Bier,
beim politischen Streit unter derselben Fahne Kopf an Kopf« zusammenstehen.
Damals, 1973 lag unter dem Kopfsteinbelag der Naunymstraße
noch der Strand und die Revolution schien nahe. »Die Häuser, die dich in der Naunynstraße ansehn, / drehn dir mit der Vorderfront den Hintern zu, / wie stumpf
gewordene Transportarbeiter / die Last nicht achten, die sie tragen. / Erst
wenn du in die Hinterhöfe trittst, dann / fühlst du, dann schmeckst du, dann
riechst du, / was da in der Luft liegt. / Dann merkst du – eher als / in den
Neubauvierteln draußen, / wo ihre Isolierung größer ist – / dass hier die
Klasse wohnt, die / diese Gesellschaft regeln zerschlagen auswischen / und neu
bauen wird, / Was da in der Luft liegt, / verschlingt alle sauren
Schimmelgerüche.« Doch nicht der Klassenkampf von
unten sondern die Gentrifizierung, die sich im
letzten 1980 erschienenen Band der Trilogie bereits andeutet, haben die sauren
Schimmelgerüche in Teilen des nun hippen Kreuzbergs verdrängt wie viele
türkische Familien. Örens Trilogie ist so heute auch
ein Blick in eine Zeit, als das Kreuzberg zwischen Kottbusser
und Schlesischem Tor noch SO36 hieß.
Ören wurde 1939 in Istanbul geboren
und lebt seit 1969 in Berlin. Er arbeitete als Dramaturg und Schauspieler an
verschiedenen Bühnen, war Redakteur des SFB und
leitete die türkische Redaktion von Radio Multikulti des RBB.
1981 erhielt Ören die Ehrengabe der Bayerischen
Akademie der Schönen Künste, 1985 wurde er mit dem Adelbert-von
Chamisso-Literaturpreis der Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet. 1999 hatte er
eine Poetik-Dozentur an der Universität Tübingen inne. Seit 2012 ist er
Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Am 1. November wird Ören 80 Jahre alt – auch wenn in seiner Geburtsurkunde
aufgrund eines Behördenfehlers der 30. November als Geburtstag angegeben ist.
Junge Welt gratuliert: Doğum günün
kutlu olsun!
Aras Ören: Berliner Trilogie. Drei Poeme. Verbrecher-Verlag,
Berlin 2019, 232 Seiten, 22 Euro