Aus: junge Welt Ausgabe vom 04.01.2018, Seite 6 / Ausland

Permanenter Ausnahmezustand

Jahresrückblick 2017. Heute: Türkei. Erdogan festigt mit Referendum über Präsidialsystem seine Macht

Von Nick Brauns

Mit einem Referendum über die Einführung eines autoritären Präsidialsystems kam der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am 16. April seinem Traum einer sultangleichen Alleinherrschaft zwar ein großes Stück näher. Allerdings verdeutlichte die – trotz Behinderung der Opposition sowie offensichtlichen Wahlbetrugs – nur knappe Mehrheit von 51,4 Prozent, dass rund die Hälfte der Bevölkerung nicht hinter ihm steht. Mit den Änderungen, die nach der regulär für Herbst 2019 vorgesehenen Neuwahl des Präsidenten in Kraft treten, ist alle Macht beim Staatsoberhaupt konzentriert: Das Parlament soll ohne Kontrollrechte nur noch abnicken. Bis dahin muss sich Erdogan mit dem Ausnahmezustand behelfen, der seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 regelmäßig verlängert wird und ihm schon jetzt das Regieren per Dekret ermöglicht.

Massenfestnahmen und -entlassungen von vermeintlichen Anhängern der für den Putschversuch verantwortlich gemachten Gülen-Sekte, aber auch von Linken, Friedensaktivisten und kurdischen Politikern sowie oppositionellen Journalisten wurden 2017 fortgesetzt. Zum Gesicht des Widerstandes wurden die Literaturwissenschaftlerin Nuryie Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakca. Die beiden protestierten seit März mit einem Hungerstreik vor dem Menschenrechtsmahnmal in Ankara gegen ihre Entlassung aus dem Lehrdienst. Im Mai wurden sie wegen angeblicher Unterstützung einer »Terrororganisation« und »Aufwiegelung der Öffentlichkeit« inhaftiert.

Das repressive Vorgehen gegen die inzwischen wieder freigekommenen Dozenten verdeutlicht die Angst der Herrschenden vor neuen Massenunruhen wie während der Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013. Mit der Bewaffnung von Teilen ihrer Anhänger sowie einem am 24. Dezember verabschiedeten Dekret des Staatspräsidenten, das Bürgern Straffreiheit bei der Tötung vermeintlicher »Putschisten« und »Terroristen« zusichert, bereitet sich die Regierungspartei AKP auf den Bürgerkrieg vor.

Geschwächte Opposition

 

Von den spontanen Straßenprotesten gegen Wahlbetrug beim Referendum im April hatte sich die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) noch distanziert. Als aber im Juni ihr Abgeordneter Enis Berberoglu zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er der Presse Informationen über Waffenlieferungen des Geheimdienstes an syrische Dschihadisten weitergegeben hatte, sah auch die CHP die Notwendigkeit zum außerparlamentarischen Protest. Ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu stellte sich an die Spitze eines 450 Kilometer langen »Marsches für Gerechtigkeit« mit Tausenden Teilnehmern von Ankara nach Istanbul, der mit einer Großkundgebung von über 1,5 Millionen Menschen endete. Erstmals seit Beginn des Ausnahmezustandes wurde so die Existenz einer Opposition wieder sichtbar.

Doch aufgrund ihrer Staatsfixiertheit ist es den Kemalisten, die im Parlament erneut ihre Zustimmung für grenzüberschreitende Militäroperationen gegen kurdische Rebellen im Irak und Syrien gaben, nicht möglich, weitergehende Kampfperspektiven aufzuzeigen oder gar den Schulterschluss mit der kurdischen Bewegung zu üben. Die mehrheitlich von Kurden unterstützte linke Demokratische Partei der Völker (HDP) wiederum erwies sich 2017 aufgrund der fortdauernden Inhaftierung von mehreren Abgeordneten, Dutzenden Bürgermeistern und Tausenden Mitgliedern als nahezu handlungsunfähig. Für ihren seit November 2016 in Untersuchungshaft sitzenden Kovorsitzenden Selahattin Demirtas forderte die Staatsanwaltschaft Anfang Dezember 142 Jahre Haft.

Opposition erwächst der AKP im eigenen rechtsnationalistischen Lager. Die aus der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ausgeschlossene frühere Innenministerin Meral Aksener hat im Oktober die »Gute Partei« gegründet, die bereits als stärkste Oppositionskraft gehandelt wird. Mit Blick auf die Wahlen 2019 beklagte Erdogan daher »Abnutzungserscheinungen« seiner AKP und nötigte im Herbst die langjährigen AKP-Oberbürgermeister von Istanbul, Ankara und weiteren Großstädten zum Rücktritt.

Mit einer Annäherung an Russland im Rahmen des Astana-Abkommens für Syrien und mit dem Kauf von »S400«-Luftabwehrraketen versucht die Türkei, sich als Regionalmacht mehr Spielraum gegenüber ihren NATO-Verbündeten zu schaffen. Hintergrund ist die militärische Unterstützung Washingtons für die aus Sicht Ankaras terroristischen kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) im Kampf gegen den »Islamischen Staat« in Syrien.

Wirtschaftliche Probleme

 

Das angespannte Verhältnis zu den USA äußerte sich auch in einem seit November vor einem New Yorker Gericht angelaufenen Prozess gegen einen Manager der staatlichen türkischen Halk-Bank. Der Goldhändler Reza Zarrab bezichtigt als Kronzeuge die von ihm mit Millionengeldern geschmierte Erdogan-Regierung der Mitwirkung an umfangreichen Geschäften zum Bruch des US-Finanzembargos gegen den Iran.

Um die türkischen Wähler in Deutschland beim Referendum hinter sich zu bekommen, setzte Erdogan auf Polarisierung. Nach Auftrittsverboten, die einige deutsche Kommunen gegen türkische Minister erwirkt hatten, warf Erdogan der Bundeskanzlerin »Nazimethoden« vor. Mehrere in Untersuchungshaft sitzende deutsche Staatsbürger dienen ihm als Geiseln, um die Auslieferung geflohener Putschmilitärs zu erzwingen. Während der seit Februar inhaftierte Korrespondent der Zeitung Die Welt, Deniz Yücel, weiterhin in Haft bleibt, kamen der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner und die linke Journalistin Mesale Tolu im Oktober bzw. Dezember frei.

Dieses vorsichtige Einlenken kann angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage der Türkei als Versuch der Frontbegradigung gesehen werden. Aufgrund eines chronischen Minus in der Leistungsbilanz ist der Staat extrem abhängig von ausländischem Kapital. Ein Einbruch der Lira, eine Inflationsrate um die zwölf Prozent und der Anstieg der Verbraucherpreise lassen den Boden für Erdogan zunehmend schlüpfrig erscheinen. Ein drohender türkischer Angriff auf den kurdischen Kanton Afrin in Nordsyrien könnte zwar Teile der eigenen Basis vorübergehend von der ökonomischen Misere ablenken. Doch ein solches auf die Innenpolitik zurückwirkendes Kriegsabenteuer verschreckt zugleich ausländische Investoren.

Frei nach Carl Schmitt, dem Theoretiker des Ausnahmezustands, gilt, dass Erdogan so lange als »souveräner Diktator« herrschen kann, wie ihn die Bourgeoisie als ihren »kommissarischen Diktator« benötigt. Die Zukunft wird daher zeigen, ob 2017 als Meilenstein bei der Etablierung von Erdogans Alleinherrschaft in die Geschichte eingehen wird oder vielmehr als der Anfang vom Ende seines Regimes.