Junge Welt 05.02.2004
Gramsci im Orient
Gazi Caglar untersucht die Dialektik von Staat und Zivilgesellschaft in der Türkei
Der auf den italienischen marxistischen Philosophen Antonio
Gramsci zurückgehende Begriff der »Zivilgesellschaft« wird meist mißverstanden.
Gramsci kam nach dem Ausbleiben der Revolution in den industrialisierten
Ländern Europas zu dem Ergebnis, daß das Modell der Oktoberrevolution nicht
weiter anwendbar sei. Während in Rußland der Staat sozusagen im Bewegungskrieg
– im Sturm auf das Winterpalais – bezwungen werden konnte, habe sich in den
westlichen Staaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Zivilgesellschaft aus
Presse, Kunst, Parteien, Gewerkschaften, Schulen etc. zwischen Ökonomie und
Staat geschoben. Diese Institutionen dienen den herrschenden Klassen zur
Erzeugung von kulturell-ideologischer Hegemonie über die Volksmassen. »Staat =
politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit
Zwang«, lautet die berühmte Formel aus den während der faschistischen Haft von
Gramsci verfaßten Gefängnisheften. Daher gelte es zum Stellungskrieg
überzugehen und die vorgeschobenen Bastionen der Zivilgesellschaft ideologisch
zu erobern, ehe der Angriff auf das Herz des Staates erfolgen kann.
»Es geht darum, gründlich zu untersuchen, welches die Elemente der
Zivilgesellschaft sind, die den Verteidigungssystemen im Stellungskrieg
entsprechen.« Der nach dem türkischen Militärputsch 1980 in die BRD gekommene
und heute an der Universität Hannover lehrende Politologe Gazi Caglar macht
sich diese Forderung Gramscis bei der Analyse des Osmanischen Reichs und der
modernen Türkei in seinem Buch »Die Türkei zwischen Orient und Okzident« zu
eigen. Damit wendet er sich explizit gegen die auch von Wissenschaftlern wie dem
Direktor des Deutschen Orientinstituts, Udo Steinbach, gepflegte Legende von
der staatszentrierten orientalischen Despotie im Gegensatz zur
zivilgesellschaftlich bestimmten westlichen Gesellschaft. Caglar weist nach,
daß im osmanischen Reich durchaus eine Zivilgesellschaft im Sinne von Gramsci
existierte, mit der die Osmanen ihre ideologische Hegemonie über die
Volksmassen aufrechterhielten. Als deren wichtigsten Träger macht er die
zahlreichen religiösen Orden und Stiftungen aus, bis Ende des 19. Jahrhunderts
die jungtürkischen- und jungosmanischen Clubs, Freimaurerlogen und
Zeitschriften zu Organen der neu entstehenden Eliten aus Bürgertum, Bürokratie
und Militär wurden. Die nach dem Sieg im Befreiungskrieg, der von der
herrschenden westanatolischen Handels- und Industriebourgeoisie sowie
mittelanatolischen und kurdischen Großgrundbesitzern getragen wurde, in den
1920er Jahren verwirklichten kemalistischen Reformen sind, da sie ohne aktive
Beteiligung der Volksmassen abliefen, im Sinne von Gramsci als Endpunkt einer
passiven bürgerlichen Revolution zu verstehen.
Zwischen der von Gramsci untersuchten Geschichte Italiens und der
osmanisch-türkischen Geschichte werden erstaunliche Parallelen sichtbar.
Gramscis Analyse vom halbkolonialen Verhältnis des industrialisierten Nordens
gegenüber dem unterentwickelten Süden Italiens, das aufgrund unterschiedlicher
kultureller Traditionen Aspekte eines Nationalitätenkonflikts annimmt, kann
auch zur Erklärung der kurdischen Tragödie herhalten. Wie früher der Süden Italiens
wurde der kurdische Osten der Türkei »auf einen halbkolonialen Absatzmarkt,
eine Quelle für Ersparnisse und Steuern reduziert und wurde mit zwei Reihen von
Maßnahmen ›diszipliniert‹ gehalten: polizeiliche Maßnahmen zur unerbittlichen
Unterdrückung jeglicher Massenbewegung mit den periodischen Massakern und
politisch-polizeiliche Maßnahmen: persönliche Vergünstigungen für die Schicht
der ›Intellektuellen‹ in Form von Anstellungen in den öffentlichen
Verwaltungen« (Gramsci).
Gegen die bis heute von Islamisten über Kemalisten bis zu Teilen der sich als
marxistisch bezeichnenden Linken kolportierten Legende, daß der Kapitalismus in
der Türkei nicht voll entwickelt sei, es daher auch keine antagonistischen
Klassengegensätze gäbe und die wahre Trennlinie zwischen der türkischen Nation
und dem Imperialismus verlaufe, setzt Caglar eine detaillierte Analyse der
wandelnden Klassenverhältnisse von der Gründung des Osmanischen Reiches bis
heute.
Der Militärputsch von 1980 wird von Caglar als Versuch eines neuen rechtskonservativen
Hegemonieprojekts bestehend aus Türkentum und Islam gewertet, wobei allerdings
die Zivilgesellschaft vom Staat absorbiert wurde und die blutige Diktatur
kulturelle Hegemonie und Konsenserzeugung ersetzte.
In der heutigen Türkei mit ihrer extremen Zersplitterung des Parteienwesens und
einem Wahlsystem, das mit seiner zehn-Prozent-Hürde die Mehrheit der
Bevölkerung von der parlamentarischen Repräsentation ausschließt, sieht Caglar
eine anhaltende Hegemoniekrise des herrschenden Blocks aus Militär und
Bürgertum. Im Sinne von Gramsci fordert er eine umfassende »intellektuelle
politische Reform«. Voraussetzung dafür sei die Schaffung eines
radikaldemokratischen Hegemonieprojekts. Daß es dahin noch ein weiter Weg ist,
zeigen allerdings die Wahlergebnisse des linken Blocks für Arbeit, Demokratie
und Frieden bei den Wahlen im vergangenen Jahr. Während dieser aus der
prokurdischen DEHAP und zwei türkischen sozialistischen Parteien bestehende
Wahlblock in den meisten kurdischen Landesteilen hegemonie- und mehrheitsfähig
war, blieben die Wahlergebnisse in der Westtürkei marginal.
Angesichts einer solchen Schwäche des türkischen linken Lagers gibt es bei der
kurdischen Demokratiebewegung den Wunsch abzukürzen. Mit Blick auf den
erhofften EU-Beitritt hat der Türkische Industriellenverband TÜSIAD in den
letzten Jahren eine Demokratisierung der Türkei eingefordert. Diesbezügliche
Illusionen in die liberale Bourgeoisie als Motor der Zivilgesellschaft weist
Caglar mit Gramsci zurück. Statt der Hegemonie des liberalen »Lagers der
Industriellen« über die Volksmassen gelte es, einen »Block unter den
Volksmassen« zu schaffen, da das Bürgertum in der Vergangenheit an der
autoritären Entwicklung der politischen Gesellschaft mitgewirkt hatte und mit
seiner Forderung umfassender wirtschaftlicher Liberalisierung den Boden für
weitere autoritäre Angriffe vorbereite.
»Es ist also nicht so, daß es in der Türkei keine Zivilgesellschaft gibt:
Vielmehr gibt es in der Türkei keine Demokratie im wirklichen Sinne des Wortes,
also eine Demokratie, die mit der sozialen Gleichheit und dem Recht auf freie
Entfaltung des Individuums ernst macht«, so Caglars Fazit. Ein »Standardwerk
zum ›Schmelztiegel‹ Türkei«, wie es der Unrast Verlag anpreist, ist Caglars
nicht immer einfach zu lesende Untersuchung aufgrund der zu speziellen
Fragestellung nicht. Vielmehr ist dem Autor dafür zu danken, daß er gegen den
Mythos von der übergeschichtlichen orientalischen Despotie die wirklichen
Entwicklungsgesetze der türkischen Geschichte mit ihrer Dialektik von Ökonomie,
Staat und Zivilgesellschaft verdeutlicht hat.
Nick Brauns
* Gazi Cagler: Die Türkei zwischen Orient und Okzident. Eine politische Analyse
ihrer Geschichte und Gegenwart. Unrast-Verlag, Münster 2003, 244 Seiten, 16
Euro