Erdoğans Spitzelnetz
Eine ZDF-Dokumentation deckt die
Machenschaften des türkischen Geheimdienstes in Deutschland auf. Politische
Hintergründe kommen dabei allerdings zu kurz, findet der Historiker und
Journalist Nick Brauns.
Yeni Özgür Politika 12. Juni 2020
„Etwa drei Millionen sogenannte Deutschtürken leben in
Deutschland. Darunter auch Kritiker des türkischen Präsidenten Erdoğan. Viele von ihnen fühlen sich bedroht.“ So
beginnt die von den Reporterinnen Susana Santina und Simone Müller erstellte ZDFzoom-Dokumentation „Im Dienste Erdoğans“
über die Machenschaften des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland. Der
zur späten Stunde im ZDF gezeigte und weiterhin in der Mediathek abrufbare Film
zeigt die Arbeitsweise des türkischen Geheimdienstes und seines Spitzelnetzwerke
auf. Zu kurz kommen dabei allerdings die politischen Hintergründe, warum
deutsche Behörden den MIT dabei weitgehend gewähren lassen.
Die hauptamtlichen Mitarbeiter des MIT sind häufig als
Diplomaten oder Mitarbeiter diplomatischer Einrichtungen getarnt an der
Botschaft oder den 13 Konsulaten angestellt. Als Mitarbeiter von „Legalresidenturen“ – so der Fachbegriff für die in
Botschaften oder Konsulate eingebetteten inoffiziellen Geheimdienstabteilungen
– genießen sie diplomatische Immunität und können nicht strafrechtlich wegen
Agententätigkeit verfolgt werden.
Neben den einigen hauptamtlichen Mitarbeitern, die
häufig an diplomatische Vertretungen der Türkei angebunden sind, gibt es in
Deutschland ein Netzwerk von 8000 Spitzeln des MIT. Diese im Vergleich zu
anderen Ländern „gigantische“ Zahl nennt der in Weilheim lebende renommierte
Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom. Laut der
Dokumentation trifft sich Schmidt-Eenboom regelmäßig
mit Mitarbeitern des deutschen Inlandsgeheimdienstes, der ebenfalls von einer
so hohen Zahl türkischer Geheimdienstzuträger ausgehe.
Eine zentrale Rolle spielen hier die fast 1000
Moscheen des Islamverbandes DITIB, der direkt dem türkischen Religionsamt Diyanet untersteht. So leiten Imame Informationen über
Oppositionelle, etwa über Anhänger der Gülen-Bewegung, an die Konsulate weiter.
Bekannt ist das auch den deutschen Behörden. Doch ein 2017 deswegen gegen
mehrere Imame eingeleitetes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, nachdem die
durch Presseartikel vorgewarnte türkische Regierung die betroffenen
Religionsbeamten außer Landes bringen ließ.
Dass DITIB-Moscheen dem MIT zuarbeiten, ist keineswegs
eine neue Erkenntnis. Bereits am 18. April 1994 hatte das Nachrichtenmagazin
Focus darüber berichtet. „Horchposten sind hier die zirka 700 staatlichen
Moscheen in Deutschland. Nach FOCUS-Recherchen sind die über die Konsulate
bezahlten Imame als geistliche Oberhäupter verpflichtet, alle vier Monate einen
detaillierten Bericht über das Innenleben der türkischen Gemeinden zu
schreiben. Bei ‚Angelegenheiten der inneren Sicherheit‘, so schreibt es die
Operation mit dem Decknamen ‚Wohlstand‘ vor, ist das jeweilige Konsulat
umgehend zu verständigen.“ Damals befand sich nach FOCUS-Erkenntnissen die
Deutschland-Zentrale des MIT in der DITIB-Moschee in Köln-Ehrenfeld.
Neben Moscheen finden sich Zuträger des MIT unter
anderem in Reisebüros und türkischen Banken in Deutschland. „Als Mitarbeiter
getarnte Spione schnüffeln dann nicht selten Geldströme und Reisebewegungen
aus“, weiß Schmidt-Eenboom. Dies ist spätestens seit
Ende 2014 bekannt, als die deutsche Polizei ein türkisches Agententrio
festnahm. Der Prozess gegen den ehemaligen Erdogan-Berater Muhammed Taha Gergerlioğlu und zwei von ihm geführte Agenten, die
kurdische, alevitische und ezidische
Aktivisten ausgespäht hatten, wurde zwar im Mai 2015 gegen Zahlung von 70.000
Euro an die Staatskasse ohne Verurteilung der drei Angeklagten eingestellt.
Aber der Anklageschrift war zu entnehmen, wie einer der Agenten als Mitarbeiter
eines Reisebüros in Deutschland Reisepläne von Oppositionellen an den MIT
weitergab, so dass die Betroffenen bei ihrer Einreise in die Türkei
festgenommen werden konnten.
Aufgrund seiner Spielsucht habe er Schulden gehabt,
beichtete ein früherer Spitzel anonym gegenüber dem ZDF. Der MIT bot ihm Geld
für Informationen aus oppositionellen Vereinen, in denen er verkehrte. Andere
MIT-Zuträger stehen gar nicht auf der Gehaltsliste des türkischen
Geheimdienstes. „Sie fühlen sich in ihrer tiefen Verehrung des türkischen
Präsidenten dazu berufen, ihre Mitbürger in Deutschland zu bespitzeln und zu
verraten“, heißt es in der Sendung.
Das Auswärtige Amt warnt in den Reise- und
Sicherheitshinweisen Türkeireisende zwar ausdrücklich vor dem Risiko von
Festnahmen, Einreiseverweigerungen und Ausreisesperren im Zusammenhang mit
Aktivitäten in sozialen Netzwerken und weist dabei auch auf die Möglichkeit
anonymer Denunziation hin. Denunziationen sind von Deutschland aus schon per
Mobiltelefon über eine kostenlose Polizei-App namens EGM
Mobile möglich. Dass eine Anzeige etwa wegen Erdoğan-kritischer
Facebookpostings gegen sie vorliegt, erfahren die
Betroffenen häufig erst, wenn sie bei der Einreise in die Türkei am Flughafen
festgenommen werden. Nur wer Glück hat, wird vorher bei einem Besuch im
türkischen Konsulat etwa wegen einer Ausweisverlängerung auf ein
Ermittlungsverfahren oder einen offenen Haftbefehl in der Türkei hingewiesen.
Die Betroffenen trauen sich aus Angst vor einer Verhaftung oder einem
Ausreiseverbot dann nicht mehr, in die Türkei zu reisen.
Opfer einer Denunziation durch einen
Geheimdienstzuträger wurde auch der Vorsitzende der alevitischen
Union Europas Turgut Öker, der derzeit aufgrund
laufender Strafverfahren die Türkei nicht verlassen darf. Der Spitzel aus
Nordrhein-Westfahlen, der sich gegenüber dem ZDF seiner Tat brüstet, da Öker ein „Terrorist“ sei, hatte über die Handy-App fälschlich behauptet, dass Öker
die PKK unterstütze und auf einer Kundgebung eine türkische Fahne verbrannt
habe. Ökers Anwalt Mahmut Erden aus Hamburg hat den
MIT-Zuträger im Gegenzug wegen Spionagetätigkeit angezeigt. Auch die
Bundestagsabgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen,
betont, dass Spitzeltätigkeit für den türkischen Geheimdienst eine Straftat
darstelle. In der Tat droht nach Paragraph 99 des Strafgesetzbuches jedem bis
zu fünf Jahren – in schweren Fällen sogar zehn Jahre – Haft, der „für den
Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die
Bundesrepublik Deutschland ausübt“. Doch die Agentenführer agieren häufig unter
dem Schutz diplomatischer Immunität. Und der Nachweis, dass eine Denunziation,
die über die EGM Mobile App erfolgte, zur Einleitung
eines Strafverfahrens in der Türkei geführt hat, ist ohne Kenntnis der Akten
nicht möglich. Zudem kann eine solche Denunziation auch anonym erfolgen.
Ein im Herbst 2018 eingeleiteter Prüfvorgang des
Generalbundesanwaltes zur Feststellung, ob im Zusammenhang mit der EGM Mobile App der Anfangsverdacht auf eine Straftat vorliege, verlief
im Sande. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags vertrat bereits im
September 2018 die Auffassung, dass die Nutzung der App
EGM Mobile unter den Straftatbestand der „Politischen Verdächtigung” fallen
könnte. Dort heißt es: „Wer einen anderen durch eine Anzeige oder eine
Verdächtigung der Gefahr aussetzt, aus politischen Gründen verfolgt zu werden
(…), wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.”
Die Weiterverbreitung der App an sich kann nach
Auffassung des Wissenschaftlichen Dienstes nur schwerlich verhindert werden, da
Telemedienanbieter erst einmal nicht für den strafrechtlichen Missbrauch ihrer
Programme verantwortlich seien.
Mit dem türkischen Geheimdienst verbunden sind
gewalttätige Gruppierungen, wie die im Jahr 2018 vom Bundesinnenministerium verbundenen
Osmanen Germania. Auch von Mordanschlägen gegen Oppositionelle im Ausland
berichtet die ZDF-Dokumentation. Erwähnt wird hier die Ermordung der kurdischen
Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez
im Januar 2013 in Paris. Dass der türkische Geheimdienst hinter dem Anschlag
stecke, sei der französischen Anklageschrift gegen den vor Prozessbeginn im
Gefängnis verstorbenen Mörder Ömer Güney zu entnehmen, erklärt Schmidt-Eenboom. Verwiesen wird in der Dokumentation auch auf die
diesbezüglichen Aussagen von zwei MIT-Agenten, die – so heißt es – „von
kurdischen Spezialeinheiten in der kurdischen Autonomieregion im Irak
festgenommen wurden“. Tatsächlich wurden die beiden Agenten von einem Kommando
der PKK gefangenen genommen. Ihre von der Nachrichtenagentur Firat News
verbreiteten Aussagen hält Schmidt-Eenboom aufgrund
ihres Detailwissens etwa über Befehlshierarchien beim Geheimdienst für
glaubwürdig.
Der im Berliner Exil lebende Journalist Hayko Bağdat berichtet zwar,
von Mordplänen gegen sich erfahren zu haben. Nicht in der Dokumentation erwähnt
aber bekannt wurden zudem Anschlagspläne gegen den in Bremen lebenden
Co-Vorsitzenden des kurdischen Dachverbandes KCDE-K, Yüksel Koç,
durch den wegen Agententätigkeit vom Hamburger Oberlandesgericht im Jahr 2017
zu einer Bewährungsstrafe verurteilten MIT-Mitarbeiter Mehmet Fatih S. Doch in
Deutschland hält sich der türkische Geheimdienst nach Schmidt-Eenbooms Einschätzung mit politischen Morden zurück, weil
die Bundesregierung Ankara gegenüber deutlich gemacht habe, dass es sich dabei
um eine rote Linie handele, die nicht überschritten werden dürfe.
Dies scheint aber die einzige rote Linie für den
türkischen Geheimdienst zu sein. Gleichzeitig gibt es seit Jahrzehnten eine
äußerst enge Kooperation zwischen deutschen und türkischen Nachrichtendiensten,
die vor dem Hintergrund des Aufkommens des dschihadistischen
Terrorismus insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten noch einmal an
Bedeutung gewonnen hat. Der Widerspruch, dass der MIT etwa in Syrien und Libyen
bis heute genau jene islamistischen Kampfgruppen aus dem Umfeld der Al Qaida
und des Islamischen Staates mit Waffen und Logistik unterstützt, die in
Deutschland als terroristisch verfolgt werden, ist natürlich auch den deutschen
Behörden bekannt. Dies aber versetzt den MIT in eine Position der Stärke, kann
er doch die deutschen Partnerdienste mit seiner Nähe zu den islamistischen
Terroristen, deren Bewegungen er zumindest teilweise kontrolliert, regelrecht
erpressen. So ist der Eifer der deutschen Behörden, gegen die auch nach
deutschen Gesetzen verbotene türkische Agententätigkeit vorzugehen, gering. Im
Vordergrund stehen symbolische Verwarnungen der türkischen Spione.
Im letzten Verfassungsschutzbericht des Bundes wurden
die Aktivitäten des eigentlich befreundeten türkischen Geheimdienstes im
Kapitel über „Spionage und sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten“
abgehandelt, das sich sonst als mit gegnerischen Diensten wie dem chinesischen,
russischen und iranischen befasst. Erwähnt werden neben Aufklärungstätigkeit
gegen „Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher
Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen“ auch „Einflussnahmeversuche auf türkeistämmige Gemeinschaften in
Deutschland und den politischen Willensbildungs- und
Entscheidungsfindungsprozess in der deutschen Gesellschaft insgesamt“. Im Fokus
des MIT ständen Organisationen, die ein der Türkei als „extremistisch oder
terroristisch eingestuft“ werden. Dies seien insbesondere die Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP)
und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) sowie die Bewegung
des Predigers Fethullah Gülen.
Bis auf die Gülen-Bewegung, deren nach Deutschland
geflohene Anhänger im Gegenzug für die Weitergabe von Informationen aus ihrer
langjährigen Unterwanderung des türkischen Staates den Schutz der deutschen
Behörden genießen, gelten diese Organisationen auch aus Sicht der
Bundesregierung als linksextremistisch und terroristisch. Neben der
traditionellen, geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen geschuldeten
Rücksichtnahme auf die Regierung in Ankara dürfte dies der Hauptgrund sein,
warum die Bundesregierung das gigantische Spionagenetzwerk des MIT in
Deutschland bei seiner Ausforschung und Einschüchterung von Exiloppositionellen
gewähren lässt.