Aus:
Ronahi
– Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan YXK Herbst/Winter
2011
Zur Dialektik der kurdischen Revolution
Von Nick Brauns
Die kurdische Frage in ihrer heutigen
Form ist das Ergebnis der von den Großmächten betriebenen Aufteilung des Nahen-
und Mittleren Ostens nach dem Weltkrieg. Mehrfach schien im letzten Jahrhundert
der kurdische Traum von nationaler Selbstbestimmung bis hin zu einem eigenen
Staat greifbar nahe zu sein. Doch immer wieder mussten die Kurden die Erfahrung
machen, dass sie nur Spielfiguren auf dem Schachbrett der Groß- und
Kolonialmächte sind. Das britische Imperium hatte schon vor dem ersten
Weltkrieg versucht, die Kurden gegen das Osmanische Reich aufzuwiegeln, um so
die Öl-reiche Provinz Mosul kontrollieren zu können. Der von den Alliierten den
Osmanen diktierte Friedenvertrag von Sèvres 1920 räumte den Kurden aus diesem
Grund noch die Option ein, innerhalb eines Jahres ihren Anspruch auf
Unabhängigkeit in einem Teil des kurdisch besiedelten Territoriums zu
artikulieren. Doch unter dem Banner der aus osmanischen Zeiten stammenden »islamischen
Brüderschaft« schlossen sich zahlreiche sunnitische kurdische Stämme dem von
General Mustafa Kemal angeführten Befreiungskampf gegen die drohende Aufteilung
der Türkei unter den „Ungläubigen” an. Der spätere „Atatürk” („Vater aller
Türken”) hatte ihnen dafür die Gründung eines gemeinsamen Staates der Türken
und Kurden mit Autonomierechten zugesagt.
Nachdem Mustafa Kemal am 1. November
1922 den Sieg des »türkischen Staates« verkündete, wurden die Kurden auf der
Friedenskonferenz von Lausanne 1923 sowohl von ihren bisherigen türkischen
Verbündeten wie auch von den westalliierten Siegermächten des Weltkrieges, die
in Sèvres noch für einen kurdischen Staat plädiert hatten, fallen gelassen.
Sowohl die britischen als auch die türkischen Unterhändler beanspruchten, im
Namen der nicht vertretenen Kurden zu sprechen. Der britische Vertreter Lord
Curzon forderte aus eigenem Interesse den Anschluss des ölreichen Südkurdistan
an den neugegründeten und unter britischer Mandatsherrschaft stehenden Staat
Irak. Der Lausanner Vertrag war ein imperialistischer Teilungsvertrag, durch
den Kurdistan in den Status einer “internationalen Kolonie” unter den
regionalen Kollaborateuren des Imperialismus Türkei, Irak, Iran und Syrien versetzt
wurde, wie der aufgrund seiner Forschungen zur kurdischen Frage langjährig
inhaftierte türkische Soziologe İsmail Beşikçi schrieb. Am Verhandlungstisch
von Lausanne wurde mit der von Ölinteressen diktierten Grenzziehung ein bis
heute ungelöster nationaler Widerspruch erzeugt, der vom Imperialismus immer
wieder zur Einflussnahme in der ganzen Region genutzt wird.
Das kemalistische Nationskonzept
vertrat das Konzept einer angesichts der multiethnischen Zusammensetzung der
Bevölkerung erst künstlich zu schaffenden türkischen Staatsnation, deren
einigendes Band das Bekenntnis zum Türkentum ist. Dabei
geht der türkische Nationalgedanke von der “unteilbaren Einheit von
Staatsgebiet und Staatsvolk” aus. Die kemalistische Regierung begann
bereits kurz nach Vertragsunterzeichnung mit der Zwangsassimilation
nichttürkischer Minderheiten. Kurdische Schulen, religiösen Bruderschaften,
nationalen Vereinigungen und Publikationen wurden ebenso verboten wie die
kurdische Sprache und die Worte »Kurde« und »Kurdistan«.
In der Entstehung der
kurdischen Frage zeigte sich am deutlichsten der unzulängliche Charakter der
von Mustafa Kemal geführten und auf halben Weg abgebrochenen bürgerlichen
Revolution der Türkei.
Zwar wurden der Sultan und der Adel, die mit den westlichen Siegermächten des
Weltkrieges kollaborierten, ausgeschaltet, die islamischen Vereinigungen
verboten, ein bürgerliches Rechtssystem und die lateinische Schrift eingeführt,
die Stellung der Frau rechtlich aufgewertet und symbolisch Hüte statt des
traditionellen Fes als Kopfbedeckung vorgeschrieben. Doch
das Modernisierungsprogramm des kemalistischen Staates endete westlich des
Euphrat. Um das Emporkommen einer konkurrierenden kurdischen Bourgeoisie
zu verhindern, wurden die kurdischen Gebiete von der Zentralregierung in Ankara
in permanenter Unterentwicklung gehalten, so dass Landwirtschaft auf zumeist
primitivstem Niveau die dominante Wirtschaftsform darstellte. Die Frage der
Beseitigung feudaler Beziehungen auf dem Lande als erste und wichtigste Aufgabe
jeder bürgerlichen Revolution wurde von den Kemalisten niemals ernsthaft
angepackt. Großgrundbesitzer, Scheichs und Sippenchefs repräsentierten so in
den kurdischen Landesteilen weiterhin die unantastbare ökonomische, politische
und religiöse Autorität. “Warum können diese zurückgebliebenen und reaktionären
Institutionen des Feudalismus ihre Existenz bis heute fortsetzen”, fragt Beşikçi.
“Ich bin der Überzeugung, dass der Hauptgrund ihrer derart lebendigen Existenz
bis heute in der kurdischen Frage liegt. Die Kemalisten, oder anders gesagt die
offizielle Ideologie, wünschen das Überleben dieser Institutionen. […] Denn
wenn sich diese Institutionen auflösen und der Demokratisierungsprozess sich
beschleunigt, dann werden sich die Massen ihrer Identität schneller bewusst und
fordern ihre nationalen Rechte. Sie vergleichen ihre Situation mit der anderer
Völker. Sie werden sich bewusst, dass sie in sehr rückschrittlichen politischen
und sozialen Verhältnissen leben.” In
Gegenden, wo die feudalen Beziehungen stark waren, ist der kemalistische Staat
fortan Bündnisse mit den Grundherren gegen das Volk eingegangen. Die Wähler,
die beim Übergang zum Mehrparteiensystem in den 50er Jahren ihre Stimme für
eine der jeweils herrschenden Parteien abgeben, führten ebenso Befehle der
feudalen Grundherren aus, wie bewaffnete Clanangehörige im Kampf gegen
Bauernproteste oder die kurdische Nationalbewegung. Durch das Verbot der
kurdischen Sprache waren die des Türkischen nicht mächtigen Dorfbewohner auf
die feudalen Notablen als Mittler zu staatlichen Institutionen angewiesen. Auch
dies festigte die Stellung dieser “Agentenklasse”, wie Beşikçi Aghas, Sippenchefs
und Scheichs definierte.
Weil die bürgerliche
"Demokratie" in der Türkei sich stets auf die Bajonette der Armee
stützte und mit den Feudalherren arrangierte, konnte sie bis heute weder
Landreformen durchführen noch ernsthafte Schritte in Richtung wirklicher
Demokratisierung unternehmen noch die kurdische Frage lösen. Eine Lösung der
kurdischen Frage muss sowohl die Aufhebung der Kolonialherrschaft über
Kurdistan wie eine Beseitigung der feudal geprägten sozioökonomischen
Strukturen beinhalten. Einseitig auf nationale Befreiung durch einen eigenen
Staat zielende Konzepte sind ebenso zum Scheitern verurteilt wie Herangehensweisen,
die die koloniale Unterdrückung vernachlässigen und die kurdische Frage alleine
als ein Problem wirtschaftlicher Unterentwicklung darstellen.
Frühe
Aufstände
Der erste kurdische Aufstand für
Selbstbestimmung nach dem faktischen Ende des Osmanischen Reiches begann 1919
in Südkurdistan unter Führung von Scheich Mahmud Barzinjie. Während die Briten
im Lausanne vorgaben, im Namen der Kurden zu sprechen, bombardierte die Royal
Air Force das Hauptquartier des „Königs von Kurdistan“ in Suleymania. Ein
eigener kurdischer Staat war von den Briten, die die ölreichen Gebiete um Mosul
ihrem Mandatsgebiet Irak angliedern wollten, nicht gewünscht. Bis Anfang der
30er Jahre dauerten die Kämpfe der verbündeten irakischen und britischen
Streitkräfte gegen die kurdische Nationalbewegung an. Dabei setzte die
britische Luftwaffe auch Giftgas ein.
Gegen
die nach Gründung der Republik Türkei einsetzende Zwangsassimilation der
kurdischen Bevölkerung durch das kemalistische Regime in Ankara regte sich bald
Widerstand. Unter Führung des sunnitischen Geistlichen Sheikh Said kam es im
Winter 1924/25 in der Region Elazig zum ersten Aufstand, bei dem sich religiöser
Protest gegen die Abschaffung des Kalifats mit der Forderung nach nationalen
Rechten für die Kurden verbanden. Die französische Mandatsmacht in Syrien half
der türkischen Armee, mit der Eisenbahn von Aleppo Truppen zu transportieren,
so dass der Aufstand im April 1925 vor den Stadtmauern Diyarbakırs
niedergeschlagen werden konnte. 1929 startete die im libanesischen Exil von
Intellektuellen und Feudalherren gegründete Nationalbewegung Xoybun
(Unabhängigkeit) am Berg Ararat einen Aufstand. Die vom ehemaligen osmanischen
General Ishan Nuri Pasha geführten Partisanen eroberten ein Gebiet bis nördlich
von Van und Bitlis. Doch nach einer Einigung zwischen Iran und der Türkei
schlugen Truppen beider Länder die Unabhängigkeitsbewegung im Sommer 1930
nieder, und die türkische Regierung ordnete Massenvertreibungen an. 1936 wurde
der Belagerungszustand über Dersim als letzter „feier Burg der Kurden“
verhängt. Doch die Dersimer verweigerten die Waffenabgabe und begannen unter
Führung des alevitischen Geistlichen Seyîd Riza bewaffneten Widerstand zu
leisten. Mit Luftbombardierungen, Giftgas und Kanonen ging die türkische Armee
gegen sie vor. Uneinigkeit der Stammesführer und die Erschöpfung der isoliert
in den Bergen kämpfenden Partisanen ließen den Widerstand im Herbst 1938
zusammenbrechen. Mehr als 50.000 Kurden waren während des zweijährigen Kampfes
getötet worden. Über 100000 wurden in andere Landesteile deportiert. Nach der
Niederschlagung des kurdischen Widerstandes in der Türkei herrschte dort bis in
die 60er Jahre Friedhofsruhe.
Mahabad
Die 1946 in der Stadt Mahabad im
Iran ausgerufene »Republik Kurdistan« gilt als Symbol kurdischer Selbstbestimmung.
Ihr Scheitern zeigt zugleich das Dilemma des bis heute mit dem Namen Barzani
verbundenen Konzeptes eines von den Stämmen getragenen und von
Großmachtinteressen gestützten kurdischen Nationalismus. Als während des
Zweiten Weltkrieges die verbündeten britischen und sowjetischen Truppen in den
Süden und Norden des Iran einrückten, entstand ein Machvakuum um das kurdische
Gebiet um Mahabad. Um den Einfluss der USA und Großbritanniens zurückzudrängen,
ermutigten sowjetische Agenten den Demokratische Partei Kurdistans-Iran, den Richter
und religiösen Führer von Mahabad Ghazi Mohammed zur Ausrufung einer kurdischen
Republik. Die Republik Kurdistan umfasste ungefähr ein Drittel des kurdischen
Siedlungsgebietes im Iran mit rund einer Million Einwohnern. Doch ihr reeller
Einfluss blieb auf städtische Zentren beschränkt, da viele strenggläubige
Stammeskurden gegenüber der unter dem Schutz der atheistischen Sowjetunion
gebildeten Republik Distanz wahrten. Innerhalb der anfangs noch
sozialreformerisch orientierten Demokratische Partei Kurdistans-Iran
verhinderten neu hinzu gestoßene feudale Großgrundbesitzer eine Bodenreform. Gestärkt
wurden diese konservativen Kräfte durch den mit tausend Stammeskriegern und
ihren Familien vor irakischen Truppen in den Iran geflohenen Partisanenführer
Mullah Mustafa Barzani, der zum starken Mann von Mahabad wurde. Da die
zugesagte sowjetische Militärhilfe ausblieb, war die Republik auf den Schutz
der UdSSR angewiesen. Doch für die Sowjetdiplomatie dienten die Kurden vor
allem als Druckmittel, um Ölkonzessionen im Nordiran zu erlangen. Als die Rote
Armee vertragsgemäß im November 1946 aus dem Iran abzog, bedeutete dies den
Todesstoß für die kurdische Republik. Wichtige Stammesführer hatten zu diesem
Zeitpunkt längst aufgrund von Partikularinteressen ihren Frieden mit Teheran
gemacht. Am 16. Dezember 1946 marschierte die iranische Armee kampflos in
Mahabad ein. Ghazi Mohammed wurde zusammen mit seinem Vetter Seif und seinem Bruder
Sadr im Morgengrauen des 31. März 1947 in Mahabad hingerichtet. Barzani floh
mit 500 seiner Krieger ins sowjetische Exil.
Verrat der USA
1974 hatte sich der
Schwerpunkt des kurdischen Freiheitskampfes in den Irak verlagert. Schutzmacht
des Partisanenführers Mullah Mustafa Barzani war nun die USA, die gemeinsam mit
Israel über ihren engsten Verbündeten Persien die Peschmerga mit Waffen und
logistischer Hilfe versorgten. Doch auf dem Höhepunkt der Kämpfe 1975 ließ
US-Außenminister Henry Kissinger seine Schützlinge aus taktischen Gründen
fallen, als Persien im Abkommen von Algier seine Grenzfragen mit Irak regelte.
Die USA ignorierten ihre im Geheimen gegenüber Barzani gegebenen
Versprechungen. Der Schah schloss die Grenze und sperrte Barzanis Kämpfern den
Waffennachschub und den Rückzugsraum. Die Peschmerga erlitten ihre bisher
größte Niederlage gegen die irakische Armee. “Der größte Fehler meines Lebens
war es, den USA zu vertrauen”, erklärte der geschlagene Mullah Mustafa Barzani
auf seiner Flucht. Sein Sohn Massoud, der nun die Demokratische Partei
Kurdistans weiterführte, scheint daraus nichts gelernt zu haben.
Im Anschluss an die
US-geführte Militärintervention gegen den Irak 1991 ermutigte US-Präsident
George Bush Sen. die Kurden im Irak zum Volksaufstand. Innerhalb weniger Tage
waren die kurdischen Gebiete von der Diktatur der Baath-Partei befreit. Doch
dann zogen sich die USA zurück. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit schlugen
die Truppen Saddam Husseins den kurdischen Aufstand nieder. Zwei Millionen
Kurden flohen in den Iran und in die Türkei. Erneut waren die Kurden ein Opfer
ihres Vertrauens in eine Großmacht geworden. Nach dem Golfkrieg 2003, in dem
sich die Peshmerga der großen kurdischen Parteien KDP und PUK als Bodentruppen
der US-geführten Invasoren zur Verfügung stellten, wurden sie mit einer
Autonomieregion in drei kurdischen Provinzen unter KDP-Führer Massoud Barzani
als Präsidenten und dem Posten des irakischen Staatspräsidenten für PUK-Führer
Jalal Talabani belohnt. Seitdem weht zwar die kurdische Fahne im Nordirak, es
gibt ein kurdisches Parlament und leicht bewaffnete kurdische Peshmerga-Streitkräfte.
Die eher in Form von Stammeskonföderationen organisierten Parteien KDP und PUK
haben einen durch und durch korrupten Polizeistaat errichtet. Soziale Proteste
werden gewaltsam niedergeschlagen, in kurdischen Gefängnissen wird gefoltert
und die sich auf Abdullah Öcalan beziehende „Partei für eine Demokratische
Lösung Kurdistans“ PCDK wurde verboten. Die USA verhindern im Bündnis mit
arabischen Parteien und der türkischen Regierung zudem die Durchführung eines
von der irakischen Verfassung vorgesehenen Referendums über einen möglichen
Anschluss der erdölreichen Region um Kirkuk an das kurdische Autonomiegebiet
was eine Voraussetzung für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung eines
unabhängigen kurdischen Staates im Nordirak wäre. Umgeben von Feinden ist die
“Region Kurdistan” vollständig abhängig vom Schutz und den Dollars der USA. Die
Regionalregierung ist hilflos gegenüber den regelmäßigen Bombardierungen
grenznaher Gebiete durch die türkische und iranische Armee. Ein „freies
Kurdistan“ existiert in Südkurdistan so nur der Form nach. Es wird sich zeigen,
ob sich die tragische Geschichte des 20.Jahrhunderts wiederholt und die USA die
Kurden als ihre bislang engsten Verbündeten im Irak erneut fallen lassen
werden.
Auf die eigene Kraft verlassen
Die Gründung der PKK im Jahr 1978 bedeutete in
mehrfacher Hinsicht einen Bruch mit den bisherigen Versuchen, die Freiheit der
Kurden zu erlangen. Das zeigt sich bereits an der Biographie eines Großteils
der Gründer der Partei. Anders als die vorangegangenen Aufstandsführer gehörten
Abdullah Öcalan und seine Genossen keinem mächtigen Clan an, wie Barzani. Sie
waren keine religiösen Führer wie Sheik Said, Seyid Riza oder Ghazi Mohammed.
Die meisten Gründer der PKK waren junge Männer und Frauen aus dem Volk, die
ihre Jugend auf dem Dorf verbracht hatten und als erste in ihren Familien zum
Studium in die Städte gingen, wo sie mit sozialistischem Gedankengut in
Berührung kamen. Aus der Niederlage Barzanis, der bis dahin auch von vielen
Kurden in der Türkei als unangefochtener Führer des Befreiungskampfes gesehen
wurde, zog Öcalan Mitte der 70er Jahre die Lehre, dass sich ein Befreiungskampf
allein auf die eigene Stärke verlassen müsse. Keinesfalls dürfe sich ein
Befreiungskampf in ein Abhängigkeitsverhältnis von einer der Großmächte bringen
lassen. Barzani war in Öcalans Augen das typische Beispiel eines „primitiven“
Nationalisten, der sich auf rückständige feudale Stammesstrukturen stütze und
nur halbherzig für Autonomie statt für Unabhängigkeit kämpfte. Alle bisherigen
kurdischen Aufstände seien gescheitert, weil sie weder wirklich sozialistische
noch konsequente nationale Befreiungskämpfe waren.
Im Unterschied zum Barzani-Clan setzt die PKK in ihrem
fast 35 jährigen Volkswiderstand nicht auf feudale Würdenträger und
Stammesloyalitäten, sondern mobilisiert arme Bauern, die Bewohner der
städtischen Elendsviertel und insbesondere die Frauen gegen den türkischen Kolonialismus
und die Unterdrückung durch kurdische Feudalherren gleichermaßen. Da die
kurdischen feudalen Oberklassen – Aghas und Sheiks – de facto zu Agenten des
türkischen Kolonialismus verkommen waren und sich eine kurdische
Kapitalistenklasse gar nicht erst entwickeln konnte, blieben als Träger des
Befreiungskampfes nur die Volksmassen selber. Im programmatischen Manifest der
PKK von 1978 liest sich das wie folgt: „Die Formierung der
Feudal-Kompradoren-Schicht während der Entwicklungsphase des türkischen
Kolonialismus in eine Agentenstruktur, die Unmöglichkeit der Entwicklung des
nationalen Kapitalismus und die darauf folgende Nichtentstehung einer
national-bürgerlichen Klasse und die materielle Abhängigkeit der städtischen
Kleinbourgeoisie vom türkischen Kolonialismus und von der
Feudal-Kompradoren-Schicht lässt die Arbeiter-Bauern-Allianz als Hauptkraft
übrig.“ Dazu kommen die Jugend und die Intellektuellen sowie die städtische
Kleinbourgeoisie als Bündnisschichten. Ausgehend von dieser Klassenanalyse der
kurdischen Gesellschaft richteten sich die ersten Aktionen der PKK Ende der
70er Jahre auch nicht direkt gegen den türkischen Staat, sondern gegen dessen
kurdische Agenten in Form von Großgrundbesitzern und Clanchefs. Erst im August
1984 begann der bewaffnete Kampf gegen die türkischen Besatzungstruppen. Ein
auf die armen Volksmassen gestützter Freiheitskampf entwickelt eine ganz andere
Dynamik als die von Stammes- und Religionsführern geleiteten Kämpfe von
Stammesföderationen. Wo religiöse Trennung zwischen Sunniten und Aleviten und
feudale Stammesschranken bislang einen gemeinsamen Widerstand verhindert hatten
und oft genug zu Verrat aus kurzsichtigen und egoistischen Motiven führten,
gelang es der PKK, diese feudalen Schranken in zunehmenden Maße zu überwinden
und die Einheit der Volksmassen um die Fahne des kurdischen Patriotismus
herzustellen.
Nicht Separatismus sondern Befreiung
Bei ihrer Gründung
1978 trat die PKK für ein aus vereinigtes Kurdistan als eigenständiger Staat
ein. Dieses Ziel war nicht primär separatistisch gemeint, sondern fügte sich in
eine Strategie zur Befreiung der Nahostegion insgesamt ein.
Die meisten
türkischen sozialistischen Organisationen hatten ein Etappenkonzept vertreten.
Demzufolge müsse zuerst die Türkei vom Imperialismus befreit werden müsse, ehe
das Selbstbestimmungsrecht der Kurden zu realisieren sei. Dagegen äußerte
PKK-Mitbegründer Kemal Pir, der selber türkischer Herkunft war und sich als
Internationalist den Revolutionären Kurdistans um Öcalan angeschlossen hatte,
die Überzeugung, dass der Weg der Befreiung der Türkei über die Freiheit des
kurdischen Volkes führen müsse. Dies entsprach dem Diktum von Marx und Engels,
wonach ein „Volk, das andere unterdrückt, […] sich nicht selbst emanzipieren“
könne.
Im Gründungsmanifest
der PKK von 1978 wird Kurdistan als das schwächste Glied der imperialistischen
Kette im Mittleren Osten und zugleich der zu lösende „gordische Knoten“ in der
Region charakterisiert. „So, wie die Revolution Vietnams unter Führung des
Proletariats eine Schlüsselrolle für die Revolution Indochinas gespielt hat, so
wird auch die Revolution Kurdistans unter unterschiedlichen zeitlichen und
örtlichen Voraussetzungen unter der Führung des Proletariats für die
Volksrevolutionen des Mittleren Ostens eine Schlüsselrolle spielen.“
Nachdem die PKK durch
Serhildans (Volksaufstände) Anfang der 90er Jahre zur Massenbewegung auch in
den Städten geworden war, verkündete Abdullah Öcalan im März 1993 den ersten
großen Waffenstillstand. Dabei rückte er vom bisherigen Maximalziel der
Unabhängigkeit ab. „Uns geht es nicht unbedingt um eine sofortige Abtrennung
und Loslösung von der Türkei. Wir sind dafür, auf der Basis gleichberechtigter
politisch-militärischer Gleichheit in brüderlichen Beziehungen zusammenzuleben.
Wenn dies durch eine neue Verfassung gesichert würde, können wir unseren Kampf
auf eine politische Ebene transformieren.“ An dieser 1993 erstmals geäußerten
Linie der PKK, wonach das Ziel nicht Unabhängigkeit um jeden Preis sondern
geschwisterliches Zusammenleben auf gleicher Augenhöhe ist, hat sich bis heute
nichts geändert. Statt für
einen zwangsläufig von einer imperialistischen Schutzmacht abhängigen
kurdischen Nationalstaat tritt die PKK ebenso wie ihre Schwesterorganisationen
in Irak, Iran und Syrien heute für demokratische Autonomie durch rätedemokratische
Selbstorganisation in allen Teilen Kurdistans ohne Veränderung der
Staatsgrenzen ein. So könnte den Großmächten die kurdische Karte aus der Hand
genommen werden, benennt Öcalan eine solche Lösung der kurdischen Frage
zugleich als Voraussetzung für eine eigenständige demokratische Entwicklung des
Mittleren Ostens.
Ihre heutige Stärke konnte die
kurdische Bewegung in der Türkei nur durch die zeitweilige Separation von einer
im Banne des Kemalismus gefangenen und das Selbstbestimmungsrecht der Kurden verneinenden
Linken in der Türkei erreichen. Während die türkische Linke den Schläge der
Putschjunta nach dem 12. September 1980 nicht standhalten konnte und seitdem am
Boden liegt, wuchs der Widerstand gegen die Militärdiktatur in Kurdistan. Es gehört
zur Dialektik der Geschichte, dass die kurdische Befreiungsbewegung, deren
Wurzeln in der radikalen türkische Linken der 60er und 70er Jahre liegen, heute
zum Kraftreservoir einer noch schwachen sozialistischen Linken in der Türkei geworden
ist. Symbolisch dafür steht die Tatsache, dass im Rahmen des pro-kurdisch-sozialistischen
„Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ erstmals seit den 60er Jahren
wieder radikale türkische Sozialisten ins Parlament gewählt wurden. So
bewahrheitet sich Kemal Pirs Erkenntnis, dass die Befreiung der Türkei von imperialistischer
Dominanz und Kapitalherrschaft über die Befreiung Kurdistans führen wird.
Abdullah Öcalan über zwei Wege der kurdischen Nationsbildung
„Im Moment versuchen die Kurden gerade mit zwei
ineinander verschränkten Methoden gleichzeitig, zu einer Nation zu werden. Die
erste Methode ist die der primitiv-nationalistischen, feudal-bourgeoisen
kurdischen Oberschicht, welche vom westlich-kapitalistischen System unterstützt
wird und ihr Programm vorläufig im föderalen kurdischen Staat im Irak
konkretisiert. Die zweite ist die Methode des werktätigen kurdischen Volkes,
die auf der eigenen Kraft beruht und bezweckt, zu einer demokratischen und
freiheitlichen Nation zu werden. Während die erste von reaktionären Interessen
geleitet wird und feudale, religiöse und Stammesbindungen benutzt, beruht die
zweite auf demokratischen und freiheitlichen Beziehungen, für die enge
Stammesgrenzen und feudale und religiöse Tendenzen keine Rolle spielen. Während
die Vertreter der ersten Methode hauptsächlich unter den Bedingungen der
US-Besatzung in Irakisch-Kurdistan die Führung zu übernehmen versuchen,
versucht die zweite, gestützt auf die eigene Kraft, einer anderen
Interpretation von Kurdistan zum Durchbruch zu verhelfen – nicht als Hemmschuh
für die Demokratisierung der Türkei zu wirken, sondern als ihr Antrieb.“
(Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und
Gewalt, Neuss 2010, S.350)