Bauschan biegt links ab
Ralf Höllers rasanter Roman »Das Wintermärchen« über
die bayerische Revolution
Von Nick Brauns
Die Geschichte der bayerischen Revolution
ist schon oft erzählt worden: vom Streik der Münchner Rüstungsarbeiter im
Februar 1918 über den Sturz des letzten Wittelsbacher
Königs nach einer Antikriegskundgebung bis zur Ausrufung des Freistaates Bayern
durch den sozialistischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner. Von dessen Ermordung
durch einen antisemitischen Eiferer und der ersten Räterepublik aus Anarchisten
und Sozialdemokraten. Vom gescheiterten Gegenputsch über die zweite kommunistische
Räterepublik im April 1919 bis zur Niederschlagung der Arbeitermacht in einem
Blutbad der Freikorps. Zum 100. Jahrestag der Ereignisse hat Ralf Höller nun
»Das Wintermärchen« vorgelegt. Der Buchtitel spielt auf eine Rede Eisners bei
der Revolutionsfeier im Nationaltheater an: Ein Märchen sei Wirklichkeit
geworden, meinte er da.
Nach dem Sachbuch »Der Anfang, der ein Ende war«
(1999) lässt Höller die Ereignisse nun noch einmal passieren, in einer
rasanten, mitreißenden Reportage , die sich aus Texten
zeitgenössischer Schriftsteller und Intellektueller speist. Diese waren in
führender Rolle an der Revolution beteiligt. Eisner war Journalist, der
anarchistische Schriftsteller Gustav Landauer Minister für Volksaufklärung in
der Räterepublik, der Dichter Erich Mühsam unermüdlicher Agitator des
Revolutionären Arbeiterrates, und unter Führung des eigentlich pazifistischen
Dichters Ernst Toller gelang der bayerischen Roten Armee im April 1919 bei
Dachau ein Überraschungssieg gegen die weißen Truppen.
Zu den Sympathisanten zählten der schöngeistige
Dichter Rainer Maria Rilke und sein proletarisches Gegenstück Oskar Maria Graf,
zu den entschiedenen Gegnern der Gymnasiallehrer Josef Hofmiller und der
deutschnationale Historiker Karl Alexander von Müller. Irgendwo dazwischen
pendelte Thomas Mann, der sich mitten in der Arbeit am »Zauberberg« befand.
»München, wie Bayern, regiert von jüdischen Literaten«, klagte er zunächst,
doch die Sorge um seine Bogenhausener Villa wich zunehmend der Sorge um das
Vaterland. Da erschien ihm der Bolschewismus schon mal als das kleinere Übel
angesichts alliierter Diktate. »Ich bin imstande, auf die Straße zu laufen und
zu schreien: ›Nieder mit der westlichen Lügendemokratie! Hoch Deutschland und
Russland! Hoch der Kommunismus!‹« vertraute Thomas
Mann seinem Tagebuch an. Ausdruck seines Sinneswandels war die Novelle »Herr
und Hund«, deren Protagonist sich beim Morgenspaziergang mit Mischlingshund Bauschan immer häufiger für die linke Abzweigung in die
Stadt entscheidet, wo die revolutionäre Politik gemacht wird, statt nach rechts
in die idyllische Natur zu gehen.
Dem gutsortierten Textfundus – vgl. etwa Hansjörg Viesels umfangreiches Sammelwerk »Literaten an der Wand.
Die Münchner Räterepublik und die Schriftsteller« (1980) – hat Höller kaum Neues
hinzuzufügen, noch bleibt Platz für eine aus geschichtswissenschaftlicher Sicht
unerlässliche Einordnung der Quellen, deren Charakter, Intention und
Wahrheitsgehalt doch sehr unterschiedlich ist. Das »Wintermärchen« ist mehr
historischer Roman als Geschichtsbuch, aber Geschichte soll ja auch Spaß
machen. Und Rilkes Liebschaften oder Grafs Suche nach
Mäzenen kommen so nicht zu kurz.
Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch
heute, heißt es im Märchen. Viele Protagonisten des bayerischen Wintermärchens
starben keines natürlichen Todes. Gustav Landauer wurde von Freikorpsmännern
erschlagen und liegt heute auf dem Israelitischen Friedhof in München neben
seinem ermordeten Genossen Eisner. Wenige Meter entfernt erinnert ein kleiner,
von Hasenlöchern unterminierter Obelisk an Eugen Leviné.
Die letzten Worte des am 5. Juni 1919 hingerichteten Vorsitzenden der
kommunistischen Räterepublik lauteten: »Wir Kommunisten sind alle Tote auf
Urlaub«. Erich Mühsam, an den heute ein kleiner Platz im längst gentrifizierten einstigen Künstlerviertel Schwabing
erinnert, wurde 1934 im KZ Oranienburg von der SS zu Tode gequält. Ernst Toller
nahm sich 1939 im Alter von 45 Jahren in New York das Leben. Der ebenfalls
dorthin geflohene Oskar Maria Graf blieb bis an sein Lebensende im Exil, statt
in das Land der Mörder seiner Freunde zurückzukehren.
Was ist geblieben vom bayerischen Wintermärchen? Zu
Unrecht wird der »Freistaat« heute gemeinhin mit der CSU assoziiert. Obwohl die
Bayerinnen dank der Revolution noch vor ihren Schwestern im Reich das
Stimmrecht ausüben durften, liegt der Frauenanteil im Bayerischen Landtag bei
mageren 28 Prozent. In Münchner Biergärten wird die »Russen-Maß« serviert. Der
Name dieser Mischung aus Weißbier und Zitronenlimo geht auf die im Volksmund
als »Russen« bezeichneten Räterepublikaner zurück, die das erstmals im Mathäserbräu ausgeschenkte Getränk angesichts schwindender
Biervorräte und der Notwendigkeit eines klaren Kopfes kreiert hatten.
Geblieben ist Kurt Eisners Traum von einer Revolution,
die »Ideal und Wirklichkeit vereint«. Und aktuell ist auch Gustav Landauers
Bemerkung zum Verrat an dieser Idee: »In der ganzen Naturgeschichte kenne ich
kein ekelhafteres Lebewesen als die sozialdemokratische Partei.«
Ralf Höller: Das Wintermärchen:
Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik
1918/1919, Edition Tiamat, Berlin 2017, 320 S., 20
Euro
Aus: junge Welt 16.5.2018