„Schafft Rote Hilfe!“
Rote Hilfe Deutschlands – lange Zeit war diese Organisation deren
Mitgliederzahl Anfang der 1930er Jahre in die Hunderttausende ging, und
zu deren Führungspersönlichkeiten oder Unterstützern so
unterschiedliche Menschen wie Wilhelm Pieck, Clara Zetkin, Herbert
Wehner, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Albert Einstein oder Thomas Mann
gehörten, in Vergessenheit geraten.
Dabei
sind zentrale Themen der Roten Hilfe wie Kampf gegen ein politisches
Strafrecht, das gezielt gegen die Linke eingesetzt wird, für ein
Asylrecht, das diesen Namen auch verdient, gegen Polizeiwillkür und
Beschneidung der bürgerlichen Grundrechte, für die weltweite
Abschaffung der Todesstrafe, (leider) auch heute noch aktuell.
Eine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Roten Hilfe in
Deutschland von ihren Vorläufern in den Jahren 1919 bis 1923 über den
Aufbau der zentralisierten Mitgliederorganisation ab 1924 bis zur
Umwandlung der – illegalen – Roten Hilfe in die Deutsche Volkshilfe
Ende der 30er Jahre fehlte bislang sowohl in der bürgerlichen wie
marxistischen Geschichtsschreibung.
Die Arbeit des Münchner Historikers Nikolaus Brauns schließt diese
Lücke und kein an der deutschen Arbeiterbewegung Interessierter wird
sie ignorieren können. Nicht nur die beeindruckende Materialfülle,
erstmalig ausgewertete Quellen aus einem halben Dutzend deutscher
Archive, besticht, sondern auch die zeitlich und sachlich klar
gegliederte Darstellung der verschiedenen Aktivitäten der Roten Hilfe
von der Sozialfürsorge für die Familien politischer Gefangener, über
die juristische Unterstützung proletarischer Angeklagter und die
rechtswissenschaftliche Tätigkeit bis hin zu illegalen
Fluchthilfeaktivitäten und dem Widerstand gegen den
Nationalsozialismus.
Die Arbeitsweise der Roten Hilfe wird an den großen Kampagnen deutlich,
die sich um so legendäre Namen wie Erich Mühsam, Max Hoelz, Richard
Scheringer, Sacco und Vanzetti oder um die Abschaffung des § 218, die
Freilassung politischer Gefangener in (halb)faschistischen Ländern wie
Bulgarien, Polen, Ungarn und Italien rankten.
Aber auch die alltägliche Kleinarbeit, das Sammeln von Spenden für die
Familienhilfe oder Unterschriften für die Vollamnestie, der Kontakt zu
politischen Gefangenen durch Besuche und Briefe, Demonstrationen,
Filmabende und Gedenkveranstaltungen für gefallene Revolutionäre werden
anschaulich dargestellt.
Kurswechsel in der KPD
Auch für die Debatte um die Ursachen der scharfen Kurswechsel der KPD
in den 20er Jahren liefert Brauns umfangreiches neues Material. Führten
die Interventionen widerstreitender Fraktionen der Kominternführung zu
den Kursschwankungen oder lagen die Ursachen hierfür in den sozialen,
politischen und wirtschaftlichen Konflikten in Deutschland sowie den
Mitgliederinteressen und -einstellungen innerhalb der KPD?
Erstaunlicherweise spielte die Rote Hilfe in dieser Debatte bislang
überhaupt keine Rolle, obwohl diese mitgliederstärkste kommunistisch
gelenkte Massenorganisation ab 1928 ebenfalls in den Sog der
KPD-Fraktionskämpfe geriet. Der Autor liefert in seiner Analyse der
Roten Hilfe zahlreiche überzeugende Hinweise für die These, dass weder
primär der Einfluss der Komintern-Führung für die radikale Wandlung der
deutschen kommunistischen Bewegung verantwortlich war, wie von Hermann
Weber behauptet, noch der Linienkampf verschiedener Cliquen innerhalb
der KPD, wie von Klaus Kinner vertreten.
Er sieht im Wechselverhältnis der politischen und ökonomischen Krise in
Deutschland einerseits und einer durch eben diese Umstände
radikalisierten Anhängerschaft der proletarischen Organisationen
andererseits den Boden, der für die Eingriffe der Moskauer
Komintern-Führung günstige Voraussetzungen schuf. Die Reaktion der
Roten Hilfe auf die schändliche Haltung der SPD-Führung zur
Vollamnestie für Tausende proletarische Gefangene, Ereignisse wie den
„Berliner Blutmai“ von 1929 oder die Einrichtung von Schnellgerichten
ab 1932 verdeutlichen, dass es auch die praktische Erfahrung mit der
Rolle der Sozialdemokratie im Staat sowie mit dem rapiden Abbau
demokratischer Rechte war, die zu einer Radikalisierung kommunistischer
Politik führten.
Als einzige Massenorganisation der KPD wurde die Rote Hilfe auch unter
dem Faschismus bis Ende 1938 aufrechterhalten. Die Untersuchung der
Aktivitäten der Roten Hilfe während dieser Zeit bringt neue
Erkenntnisse über Möglichkeiten und Grenzen des antifaschistischen
Widerstands in Deutschland. Bei den Bemühungen der Kommunisten zur
Schaffung „antifaschistischer Einheits- und Volksfronten“ in
Deutschland und den angrenzenden Ländern spielte die Rote Hilfe, die
auf langjährige Erfahrung in der Bündnispolitik zurückgreifen konnte,
eine bis jetzt unterschätzte Schlüsselrolle als Bindeglied zu
nichtkommunistischen Teilen des Widerstands.
Bücher dieses Umfangs können trotz klarer Struktur und flüssigen Stils
manchmal ermüdend sein. Um so höher ist es Autor und Verlag
anzurechnen, dieses Buch im Großformat mit rund 300 Abbildungen und
Faksimiles, von denen ein gut Teil seit den 20er und 30er Jahren
erstmalig wieder veröffentlicht werden, auch zu einer opulenten
optischen Zeitreise durch ein fast vergessenes Kapitel der Weimarer
Republik gemacht zu haben.
J. T.
Nikolaus
Brauns: Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der
proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene (1919-1938)
348 S., 300 Abb., Großformat, gebunden. Pahl-Rugenstein Verlag, 32.00€
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