Interview mit Dr. Nick Brauns zu den Wahlen in der Türkei

Erdogan hat die Präsidentschaftswahl gleich im ersten Wahlgang gewonnen, im Parlament haben AKP und MHP zusammen die absolute Mehrheit. Haben Sie mit so einem Ergebnis gerechnet?

Wer glaubt, der Faschismus ließe sich einfach abwählen, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Es gibt den alten Anarchisten-Spruch, ‚wenn Wahlen etwas verändern würden, dann wären sie verboten‘. Das gilt umso mehr für eine Diktatur wie die Türkei. Erdogan und die AKP konnten alle Machtmittel des Staates für ihren Wahlkampf, für die Durchführung der Wahlen und auch für Wahlmanipulation einsetzen. Wir haben unzählige Meldungen insbesondere aus den kurdischen Landesteilen über Wahlmanipulationen, von Bedrohungen und körperlichen Angriffen auf Wahlbeobachter der Opposition durch AKP-Anhänger bis zu verbrannten Stimmzetteln. Es gibt Meldungen, wonach aus Afrin syrische Milizkämpfer zur Wahl nach Hatay gebracht wurden. Viele Unregelmäßigkeiten wurden bekannt. Neben direktem Wahlbetrug war aber das weitgehende Medienmonopol der AKP mit der Kontrolle über fast alle Fernsehsender, die so gut wie nichts über den Wahlkampf der Opposition, insbesondere nicht über die HDP berichteten, für die Wahlen ausschlaggebend. Viele AKP-Wähler kennen schlicht keine andere Wirklichkeit mehr, als die Mischung aus religiöser und nationalistischer Propaganda und Fake News, die ihnen rund um die Uhr auf allen Kanälen präsentiert werden. Und vergessen wir nicht, dass viele junge Erstwähler an der Wahl teilnahmen, die das Schulsystem der AKP durchlaufen haben und nie etwas anderes erlebt hatten, als eine Regierung Erdogan. Wenn wir uns das Wahlergebnis anschauen, sehen wir wie beim Referendum zwei etwa gleich große Blöcke – für Erdogan und gegen ihn. Wobei der Oppositionsblock in sich noch gespalten ist. Stimmenverschiebungen fanden offenbar nur innerhalb dieser Blöcke statt. Unzufriedene AKP-Wähler wechselten zur MHP, CHP-Wähler zur HDP oder IYI. Durch das Medienmonopol der Regierung hatte die Opposition kaum eine Chance, Anhänger des Regierungsblocks aus AKP und MHP im Wahlkampf zu erreichen.

Im Wahlkampf sah es doch noch hoffnungsvoll aus. Es gab große Oppositionskundgebungen?

Sowohl der CHP als auch der HDP gelungen, ihre eigenen Anhänger zu mobilisieren und im Wahlkampf massiv auf die Straße zu rufen. Die Kundgebungen von Muharrem Ince in Izmir und Istanbul mit Millionen Teilnehmern waren sicherlich die größten oppositionellen Wahlkundgebungen seit vielen Jahren. Und die HDP hielt die größten Kundgebungen ihrer Geschichte ab. Es herrschte wirklich ein Wind des Wandels in der Türkei. Wie beim Adalet-Marsch im letzten Sommer, den großen Demonstrationen zum Frauentag am 8. März, den Newroz-Festen und den Arbeiterdemonstrationen am 1. Mai in diesem Jahr wurde die Opposition wieder sichtbar. Das wichtigste Ergebnis war wohl, dass die Angst, die viele Oppositionsanhänger gelähmt hatte, plötzlich weg war. Ich befürchte allerdings, dass nun viele Oppositionsanhänger nach dem Wahlergebnis und der miserablen Haltung von Muharrem Ince nach seiner Wahlniederlage entmutigt wurden und gar keine Perspektive mehr sehen. Das gilt vor allem für die Westtürkei. Die Kurden haben durch ihren Jahrzehntelangen Widerstandskampf genug Erfahrungen um sich nicht entmutigen zu lassen. Zudem sind sie im Unterschied zu den Oppositionellen in der Westtürkei besser organisiert.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das Abschneiden der HDP?

Die HDP kann stolz auf ihren Wahlerfolg sein. Die Partei hat bewiesen, dass sie trotz der Inhaftierung von Tausenden Funktionären und massiver Repression weiterhin die Zehnprozenthürde überspringen kann. In vielen kurdischen Provinzen wurde die HDP zur stärksten Partei. Das war ein klares Signal, dass die kurdische Bevölkerung trotz des Krieges und Staatsterrors weiterhin für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage unter Wahrung der eigenen Identität aber im Rahmen der Türkei eintritt. Die Bewohner der in den letzten Jahren durch die Armee zerstörten HDP-Hochburgen – von Diyarbakir-Sur, Cizre, Nusaybin, Sirnak etc. – haben eindrucksvoll gezeigt: ‚wir sind immer noch da! Ihr könnt unsere Häuser, unsere Städte zerstören, doch nicht unsere Moral!‘

Was bedeutet es für die HDP, dass sie diesmal auch viele Wähler in der Westtürkei erreichen konnte?

Ausschlaggebend für das Überspringen der Hürde war, dass es der HDP gelungen ist, sozialdemokratische und liberale Wählern in der Westtürkei anzusprechen, die sonst eher CHP gewählt hatten. Das ist ein wichtiges Zeichen. Denn wenn diese Wähler geglaubt hätten, dass die HDP eine Terroristenpartei ist, hätten sie ihr nicht ihre Stimmen gegeben. Dass sich Teile dieses städtischen säkularen Milieus, dass bis vor kurzem den Kurden bzw. der kurdischen Bewegung sehr distanziert bis feindselig gegenüberstand, auf die HDP zubewegt hat, ist sehr positiv. Jetzt aber muss es darum gehen, diese Wähler, die die HDP nicht aus Überzeugung sondern nur taktisch gegen die AKP gewählt haben, auch von den Zielen der HDP zu überzeugen. Es gilt, diese Menschen für den zukünftigen Widerstand gegen die AKP-MHP-Herrschaft zu organisieren. Da das Parlament im Präsidialsystem und erst recht mit einer Mehrheit aus AKP und MHP macht- und bedeutungslos geworden ist, wird dieser Widerstand vornehmlich außerparlamentarisch stattfinden müssen.

Und die CHP? Wie erklären Sie sich Muharrem Inces Reaktion auf den Wahlsieg von Erdogan?

Ince hat sich im Wahlkampf als starker Herausforderer Erdogans inszeniert. Das hat vielen Menschen Hoffnung gegeben. Doch in der Wahlnacht hat er sein wahres Gesicht offenbar und deutlich gemacht, dass er nur ein Maulheld ist, der nicht wirklich bereit ist, bis zum letzten für einen Sieg zu kämpfen. Einige meinen ja, Ince sei erpresst worden, als er Erdogans Wahlsieg noch vor der vollständigen Auszählung der Stimmen anerkannte. Ich denke nicht, dass Ince persönlich bedroht wurde. Er hat in dieser Situation nur so gehandelt, wie wir es von einem Sozialdemokraten beziehungsweise einem Kemalisten zu erwarten haben. Die CHP sieht sich als kemalistische und sozialdemokratische Partei. In der Praxis heißt das, sie vereint jeweils die schlechtesten Eigenschaften aus diesen beiden politischen Traditionen –nämlich Staatsfixiertheit, Angst vor der Aktivität der Volksmassen und Nationalismus. 1933 haben die Führer der deutschen Sozialdemokratie ja nicht anders reagiert, als Hitler zum Reichskanzler wurde. Während damals viele Sozialdemokraten an der Basis gemeinsam mit den Kommunisten in den Streik und Kampf gegen die Nazis treten wollten, haben ihre Führer sie auf das machtlose Parlament vertröstet. Das ist leider das Wesen des Sozialdemokratismus weltweit.

Was wäre denn die Alternative für Ince gewesen?

Er hätte das offizielle Wahlergebnis, das wie gesagt lange vor Auszählung aller Stimmen bekanntgegeben wurde, zurückweisen können. Er hätte unter Verweis auf die zahlreichen Unregelmäßigkeiten und Wahlmanipulationen, auf den überaus unfairen Wahlkampf unter Bedingungen des Ausnahmezustands seine Anhänger zu Protesten auf die Straße rufen können. In so einem Fall wären wohl auch die Anhänge der HDP, die Kurden und andere Oppositionelle auf die Straße gegangen. Die Gefahr, dass Erdogan dann seine bewaffneten Milizen, die Osmanli Ocalkari, die Sadat-Banden eingesetzt hätte, ist real. Das hätte möglicherweise Bürgerkrieg bedeutet. Ince war als ein Mann des Staates und der Nation nicht bereit, gestützt auf die Massen auf der Straße den Entscheidungskampf gegen Erdogan zu suchen. Schon gar nicht wollte er gemeinsam mit den Kurden gegen die Staatsmacht auf die Straße gehen. Da hat er lieber kapituliert - so wie Kilicdaroglu sich nach dem Referendum im vergangenen Jahr von den Demonstrationen gegen Wahlbetrug distanziert und damit diese Protestbewegung abgewürgt hatte.

Erdogan verfügt jetzt durch das Präsidialsystem über eine unglaubliche Machtfülle. Gibt es jetzt überhaupt noch Chance, ihn loszuwerden und die Türkei zu demokratisieren?

Die Diktatur war doch längst da. Die Weichen dafür wurden bereits mit dem Verfassungsreferendum 2010 - sogar mit Unterstützung einiger naiver Linker und Liberaler – gestellt. Es folgte der Ausnahmezustand nach dem gescheiterten Putschversuch und das Referendum im vergangenen Jahr. Was wir jetzt erlebt haben, war keine Schicksalswahl, wie westliche Kommentatoren und türkische Liberale glaubten, sondern lediglich der Versuch Erdogans, seine autoritäre Herrschaft national und international durch die Wahlen durch Wahlen zu legitimieren. Erdogan verfügt über alle politischen und militärischen Machtmittel, aber in Wahrheit steht seine Herrschaft auf sehr dünnen Brettern. Der entscheidende Grund, für die vorgezogenen Neuwahlen war ja die scheinbar unausweichlich kommende schwere Wirtschaftskrise. Die Talfahrt der Lira, ein Rückgang der Auslandsinvestitionen, der Anstieg der Inflation und Arbeitslosigkeit, die Teuerung von Nahrungsmitteln sind ja alles Indizien für den drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch. Vor den Wahlen hat die AKP die Konjunktur künstlich angeheizt. Doch jetzt muss die AKP-Regierung ihre Versprechungen, die sie vor den Wahlen den internationalen Finanzmärkten gemacht hat, einlösen. Erdogan muss sich um die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes bemühen und zwar nicht nach den Erfordernissen der Volksmassen sondern des internationalen Finanzkapitals, der Gläubiger, der Gebermächte. Das aber bedeutet weitere neoliberale Reformen, einen Einbruch der Konjunktur, soziale Härten, eine Verarmungspolitik, die über kurz oder lang auch die kleinbürgerliche und mittelständische Anhängerschaft der AKP und MHP treffen wird. Erdogan und die AKP brauchen die Vollmachten des Präsidialregimes, um eine solche Politik gegen die Bevölkerung einschließlich vieler ihrer eigenen Anhänger durchzusetzen. So, wie der Militärputsch vom 12. September 1980 notwendig war, um die von Weltbank und IWF geforderten neoliberalen Reformen gegen die damals starke Arbeiterbewegung und Linke durchzusetzen. Hier gibt es leider auch auf der Linken in der Türkei Fehleinschätzungen. In der HDP herrscht der Irrglaube, alleine die fehlende Demokratie und die Korruption seien die Ursache der wirtschaftlichen Misere. Doch das Kapital braucht keine Demokratie, im Gegenteil. Das zeigen schon die positiven Reaktionen von TÜSIAD und den anderen Kapitalistenverbänden auf die Wahl von Erdogan. Was das Kapital allerdings braucht, ist Sicherheit, Anlagesicherheit. Die ist in den letzten Jahren durch Erdogans Unberechenbarkeit, durch den milliardenschweren Raub des Eigentums der gülenistischen Kapitalfraktion verloren gegangen. Darum wird sich Erdogan bemühen, den Wünschen des internationalen Finanzkapitals nachzukommen und dieses Vertrauen in die Türkei als Kapitalanlageort wieder herzustellen.

Ich halte es übrigens durchaus für möglich, dass die AKP für die anstehenden sozialen Grausamkeiten ihre Herrschaft auf eine breitere Basis stellen wird und neben der MHP auch die CHP oder IYI formal etwa durch Vizepräsidentenposten in die Regierung einbezieht. Dennoch gibt es die Chance, dass sich im Zuge der ökonomischen Krise Brüche im herrschenden Block auftun, die von oppositionellen Kräften genutzt werden können, sind da. Ich war vor einer Woche auf einer Konferenz der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP eingeladen, dass sind aus Bundesmitteln finanzierte Regierungsberater. Dort waren sich Experten aus Deutschland und der Türkei relativ einig, dass sich die zukünftige Regierung der Türkei aufgrund der wirtschaftlichen Situation und möglicher Massenproteste gegen eine neoliberale Sanierung wohl keine zwei Jahre an der Macht halten kann. Vergessen wir nicht, der erste Wahlerfolg der AKP 2002 war auch die Folge einer Wirtschaftskrise, in der die Bevölkerung das Vertrauen in alle Altparteien verloren hatte. Die linken und demokratischen Kräfte in der Türkei müssen sich heute auf einen solchen absehbaren Bruch vorbereiten, um dann die Gelegenheit zu nutzen, die AKP-Herrschaft zu stürzen. Das wird aber nur außerparlamentarisch gehen. Und dazu brauchen die Linken auch Antworten auf die wirtschaftlichen Probleme. Das Versprechen von Geldgeschenken und Steuererleichterungen für Arbeiter, Rentner, Bauern etc. wie es HDP und zum Teil CHP in ihrem Wahlprogramm gemacht hatten, und der Kampf gegen Korruption reicht nicht aus. Es muss auch gesagt werden, wo das Geld herkommen soll. In diesem Zusammenhang müssen wir über eine Wiederverstaatlichung der von der AKP privatisierten Industrien und Infrastruktur sprechen, über die Vergesellschaftung von Banken und Konzernen, über eine planmäßige Wirtschaftsentwicklung im Interesse der Werktätigen. Wir müssen über Alternativen zum Kapitalismus sprechen.

Interview von Süheyla Kaplan für Artı Gerçek