Ankara als Geburtshelfer des Terrorkalifats in Irak
und Syrien
Nick Brauns, Journalist/Historiker
Der
»Islamische Staat« (IS/ISIS) verdanke insbesondere der Türkei seinen
gegenwärtigen Erfolg. Das bekundete ein Kommandant der dschihadistischen
Organisation freimütig gegenüber US-amerikanischen Journalisten. Nach der Einnahme
der irakischen Stadt Mûsil (Mossul)
hat der IS Ende Juni ein grenzüberschreitendes Kalifat in Irak und Syrien
ausgerufen. Vor Massakern und anderen Gräueltaten der Gotteskrieger, die unter
der schwarzen Fahne ihr mittelalterliches Verständnis des Islam mit Gewalt
durchsetzen wollen, sind inzwischen Hunderttausende Menschen auf der Flucht.
Der
Nahostexperte der britischen Tageszeitung »The Independent« Patrick Cockburn benennt in seinem vielbeachteten Artikel »ISIS Consolidates« Saudi-Arabien, die Golfmonarchien und die
Türkei als die »Ziehväter des ISIS« und anderer sunnitischer dschihadistischer Bewegungen im Irak und in Syrien.[1] Zwar verfügten
die Dschihadisten auch über lokale Wurzeln, aber ihr
Aufstieg würde von äußeren sunnitischen Kräften gefördert. Während die
Golfmonarchien die Finanzierung übernahmen, bestand laut Cockburn
die Rolle der Türkei darin, ihre 900 Kilometer lange Grenze nach Syrien für die
Gotteskrieger offen zu halten. Jahrelang diente die Türkei als Transitland für
die mobilen Dschihadisten, als ihr Sprungbrett in den
syrischen Bürgerkrieg, ihre Rückzugsbasis für verwundete Kämpfer und wichtigste
Nachschubbasis für Munition und Logistik. Die islamisch-konservative
AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte allen Feinden des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad einen roten Teppich ausgerollt. Neben dem
Sturz des Baath-Regimes zielt die türkische Unterstützung für die bewaffneten
syrischen Oppositionsgruppen einschließlich Al-Qaida-naher Verbände wie der Al-Nusra-Front und des IS darauf, mit ihrer Hilfe die
Etablierung einer kurdischen Autonomieregion im Norden Syriens entlang der
türkischen Grenze zu verhindern.
Ein Großteil
der aus aller Welt zum »Dschihad« nach Syrien strebenden Gotteskrieger ist in
den letzten Jahren über die Türkei eingereist. Dies belegen Pässe im Kampf
gefallener oder gefangen genommener ausländischer IS- oder Al-Nusra-Mitglieder mit türkischen Einreisestempeln.
Hilfsorganisationen wie die der AKP nahestehende »Stiftung für Humanitäre
Hilfe« (IHH) kümmerten sich nach ihrer Ankunft um ihre Unterbringung und
Versorgung. Die Ein- und Durchreise geschah nicht nur mit Wissen und Billigung
türkischer Behörden, diese stellten auch die nötige logistische Unterstützung.
Die beweist unter anderem ein der Tageszeitung Yeni
Özgür Gündem zugespielter Brief des türkischen
Innenministers Muammer Güler an den Provinzgouverneur von Hatay,
der wohl auch an die Gouverneure der anderen Grenzprovinzen Mêrdîn
(Mardin), Riha (Urfa) und Dîlok
(Antep) ging. In dem auf den 15. März 2013 datierten
Schreiben wies Güler die Behörden an, die aus verschiedenen Ländern stammenden
und unter Kontrolle des türkischen Geheimdienstes MIT stehenden
Al-Qaida-Kämpfer logistisch durch die Bereitstellung von Wohn- und
Trainingsmöglichkeiten zu unterstützen. Die Kämpfer sollten in Gebäuden des
staatlichen Religionsamtes und vom Geheimdienst ausgewählten Wohnheimen
untergebracht werden. Die Türkei unterstütze die Mudschaheddin im Einklang mit
ihren regionalen Interessen, wird in dem Schreiben der Kampf der Gotteskrieger
gegen die selbstverwalteten kurdischen Kantone in Rojava/Nordsyrien
benannt. Noch im Juli geleitete der MIT Medienberichten
zufolge Dutzende mit Turkish Airlines aus dem
Kaukasus eingeflogene Gotteskrieger zu ihren Camps.
MIT als Waffenschmuggler
Über den
türkischen Geheimdienst wurden hunderte Wagenladungen mit Waffen und Munition
an die in Syrien kämpfenden Oppositionsgruppen gebracht. Ein Großteil dieser
Waffen dürfte inzwischen in die Hände des IS gelangt sein. Sei es, weil dessen
Kämpfer direkt mit den Waffen beliefert wurden, oder weil sich andere vormals
als »gemäßigt« geltende Kampfverbände aus den Reihen der »Freien Syrischen
Armee« oder »Islamischen Front« zwischenzeitlich dem IS angeschlossen haben,
oder weil diese Waffen vom IS im Kampf gegen solche konkurrierenden
Rebellengruppen erbeutet wurden.
Beweise für
solche von der türkischen Regierung stets bestrittenen Waffenlieferungen nach
Syrien fand der Journalist Tolga Tanış im
vergangenen Jahr sogar in der offiziellen Datenbank des Statistikamtes der
Türkei über Importe und Exporte. Gemäß diesen Zahlen wurden zwischen Juni und
Oktober 2013 47 Tonnen Waffen und Munition aus der Türkei nach Syrien
geliefert.[2]
Mehrere
Waffenlieferungen flogen im Zuge des Machtkampfes zwischen der AKP-Regierung
und der tief im Staat verwurzelten Bewegung des Predigers Fethullah
Gülen auf. Zu Jahresbeginn 2014 ließ die Staatsanwaltschaft in Hatay nach einem anonymen Tipp einen angeblichen
Hilfsgütertransport der islamischen Hilfsorganisation »Stiftung für Humanitäre
Hilfe« (IHH) stoppen. Offiziell handelte es sich bei dem Transport um
Hilfsgüter für Turkmenen in Syrien, doch zwischen »einigen Lebensmitteln«
fanden die Militärpolizisten Raketen und Munition. Ein Agent des türkischen
Geheimdienstes, der den Transport begleitete, verbot die weitere Durchsuchung
der Ladung, die er als »Staatsgeheimnis« deklarierte. Ohne dazu befugt zu sein,
gab AKP-Provinzgouverneur Celalettin Lekesiz seine
Genehmigung zur Weiterfahrt des LKW. An der Durchsuchung beteiligte Polizisten
wurden vom Dienst suspendiert, ihnen drohen jetzt Haftstrafen wegen »Verrats
von Staatsgeheimnissen«. Die Fahrer eines am 19. Januar 2014 auf der Straße von
Adana nach Dîlok gestoppten LKW, der Granaten und
Munition geladen hatte, gaben an, die Ladung am Esenboğa-Flughafen
von Ankara entgegengenommen zu haben, um sie an MIT-Agenten in der Grenzstadt Reyhanlı auszuliefern. Der MIT würde die Waffen dann
an die Al-Nusra-Front oder den IS verteilen. Es habe
bereits mehrere solcher Transporte gegeben. »Der MIT betreibt routinemäßig
Waffenschmuggel«, ist der Abgeordnete der linken Demokratischen Partei der
Völker (HDP) Ertuğrul Kürkçü
überzeugt.
Medizinische Versorgung für IS-Kämpfer
»Die Türkei
hat uns den Weg bereitet. Hätte die Türkei nicht so viel Verständnis für uns gehabt,
wäre der Islamische Staat nicht in seiner gegenwärtigen Position«[3], gestand ein
IS-Kämpfer während seiner Behandlung in einem Krankenhaus in Ankara einem
türkischen Journalisten. Die türkische Regierung sei den Mudschaheddin gewogen
gewesen und habe einer großen Zahl von ihnen medizinische Versorgung
ermöglicht. Dies bestätigt auch Abu Yusaf, ein
Oberkommandierender des IS, der sich in der türkischen Grenzstadt Reyhanlı mit Reportern der Washington Post traf: »Wir
haben für gewöhnlich einige Kämpfer – sogar hochrangige Mitglieder des
Islamischen Staates – in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen.«[4]Auch der in den
Reihen des IS kämpfende frühere Berliner Gangster-Rapper Deso
Dogg soll in der Türkei nach einer Schussverletzung
ärztlich versorgt worden sein.
Im
städtischen Krankenhaus der Stadt Kilis, 120
Kilometer nordöstlich von Hatay, werden die Dschihadisten in einer eigenen, abgeschirmten Abteilung
versorgt. 30 bis 40 von ihnen sind es im Schnitt. Krankenwagen mit türkischen
Nummernschildern brachten nach Augenzeugenberichten während der Gefechte mit
kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) um die geteilte Grenzstadt Serê Kaniyê (Ras al-Ayn/Ceylanpınar) im Sommer
2013 verwundete Dschihadisten über die Grenze. Auch
nach dem jüngsten Vorstoß des IS in die kurdischen Siedlungsgebiete des Irak
wurden noch verwundete IS-Kämpfer von türkischen Ambulanzen abgeholt. Auf eine
parlamentarische Anfrage der HDP, wie viele nach Kämpfen mit den YPG verwundete
Dschihadisten in Krankenhäusern im nordkurdischen
Teil Serê Kaniyês (Ceylanpınar) und in Kaniya Xezalan (Akçakale) versorgt
würden, bestätigte Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoğlu
die medizinische Versorgung der Dschihadisten. »Unser
Ministerium bietet jedem gesundheitliche Versorgung
an, ohne Ansehen von Religion, Sprache, Geschlecht oder der Ethnie. In Ceylanpınar wurden bislang 319 und in Akçakale 552 Personen in türkische Krankenhäuser gebracht.«
Schwarze Fahnen in Istanbul
Der IS nutzt
nicht nur die Türkei als Transitland und logistische Basis, sondern ist längst
auch im Land aktiv und rekrutiert hier neue Anhänger. In einer Fußgängerzone
des Istanbuler Mittelklasse-Vorortes Haznedar warb
noch im Juli die Hilfsorganisation Hisader mit
Transparenten, auf denen das von IS als Symbol genutzte Siegel des Propheten
prangte. Der Verein, dessen Büro in dem Bezirk liegt, stellt sich auf seiner
Website als eine Hilfsorganisation für Jugendliche mit Drogen- oder
Alkoholproblemen vor. Auch Hilfslieferungen für Syrien hat der Verein
organisiert – gewidmet wurden die Lieferungen jungen aus Haznedar
stammenden Männern, die als Al-Qaida-Kämpfer getötet wurden. Der Journalist
Emre Erciş veröffentlichte ein Foto, das den
stellvertretenden Hisader-Vorsitzenden mit einer
Kalaschnikow in der Hand in einem IS-Camp in Syrien zeigen soll. Die Mutter
eines von Hisader betreuten drogenkranken
Jugendlichen beschuldigte den Verein, ihren Sohn zum Dschihad in Syrien
verschleppt zu haben. Der Chefredakteur der kemalistischen Tageszeitung Yurt,
Kerem Çalışkan, bezeichnet den Istanbuler
Stadtteil Güngören mit den Vierteln Haznedar und Bağcılar
als Rekrutierungsgebiete für den Dschihad in Syrien. Ein Laden in Bağcılar verkaufte offen T-Shirts mit dem
IS-Logo. Nach mehreren kritischen Medienberichten erklärte der
Vereinsvorsitzende von Hisader Ende Juli die
Schließung der Organisation.[5]
Zum Eid-Fest
am Ende des Ramadan trafen sich am 28. Juli hunderte Sympathisanten des IS auf
einem Picknick-Platz im Istanbuler Kreis Ömerli.
Organisiert wurde das Solidaritätscamp für die IS-Kämpfer in Syrien und dem
Irak über die Zeitschrift Tevhid, die aus ihren
Sympathien für den IS keinen Hehl macht. Der Abgeordnete der kemalistischen
Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei), Sezgin Tanrıkulu,
hat nun eine Anfrage an die Regierung gestellt, ob die Berichte zuträfen,
wonach Polizei und Gendarmerie die ausdrückliche Anweisung gehabt hätten, nicht
einzugreifen. Weiterhin wollte Tanrıkulu wissen,
ob Meldungen zuträfen, wonach der türkische IS-Ableger auf diesem Camp zum
Dschihad in Istanbul aufgerufen habe. Viele junge Männer in der Türkei seien
bereit, der IS-Ideologie zu folgen, meint der frühere Leiter des Deutschen
Orientinstituts Udo Steinbach. »Es ist eine Mischung aus Frustration über die
gesellschaftlichen Verhältnisse, wie beispielsweise hohe Arbeitslosigkeit. Dazu
kommen Abenteuerlust und die Motivation, die türkische Gesellschaft zur
islamischen Ordnung zurückzuführen«, erklärt der Islamwissenschaftler.[6]
Türkische
Behörden schätzen die Zahl türkischer Staatsbürger innerhalb des IS auf rund
1000, dazu kommen zahlreiche türkeistämmige IS-Kämpfer aus Westeuropa. »Es kann
kein Zweifel herrschen, dass türkischstämmige EU-Bürger und türkische
Staatsbürger mittlerweile den bei weitem größten nicht arabischen
Ausländeranteil des IS stellen«[7], meint der
Türkeikorrespondent der Tageszeitung »Die Welt«, Boris Kalnoky.
In der Tageszeitung Zaman wurde ein angeblich aus Syrien zurückgekehrter
IS-Kommandant mit den Worten zitiert, die Organisation habe »mehrere Tausende
Türken« trainiert und »in ihre Heimat« zurückgeschickt. Islamwissenschaftler
Steinbach warnt vor einer »Gefahr für die innere Stabilität der Türkei« durch den IS. Wie reell diese Gefahr ist, zeigte sich bereits am
11. Mai letzten Jahres, als zwei Autobomben in der türkischen Grenzstadt Reyhanlı in der Provinz Hatay
explodierten und mehr als 50 Menschen töteten. Die türkische Regierung
beschuldigte türkische Linksradikale im Bund mit dem syrischen Geheimdienst,
hinter dem Massaker zu stecken. Dagegen beweisen Dokumente des
Nachrichtendienstes der Militärpolizei, die von der linksradikalen
Hacker-Gruppe Red Hack veröffentlicht wurden, dass
die Behörden über die Vorbereitung dieser Anschläge durch Al-Qaida in Syrien
informiert waren. Ziel dieser der syrischen Regierung angelasteten Anschläge
war es offenbar, im Vorfeld eines Treffens des türkischen Ministerpräsidenten
Recep Tayyip Erdoğan
mit US-Präsident Barak Obama Stimmung für eine sowohl von Ankara als auch den
syrischen bewaffneten Oppositionsgruppen geforderte NATO-Militärintervention zu
machen. Rund fünf Monate nach den Anschlägen bekannte sich IS offiziell zur
Täterschaft.
Im Juni 2014
stufte die türkische Regierung den IS offiziell als terroristische Organisation
ein. Meldungen über Schusswechsel zwischen IS-Kämpfern und türkischen Soldaten
an der Grenze sowie Inhaftierungen ausländischer Kämpfer durch die türkische
Polizei häufen sich. »Es ist nicht mehr so einfach, in die Türkei zu kommen«,
beklagt IS-Kommandant Abu Yusaf in Reyhanlı gegenüber der Washington Post. »Ich musste
die Hilfe von Schmugglern in Anspruch nehmen, aber wie Sie sehen, gibt es
weiterhin Wege und Methoden.« Doch inzwischen sei der
IS nicht mehr so stark auf die Hilfe von außen angewiesen. Das Kalifat umfasst
jetzt große Teile Syriens und des Irak, es verfügt dort über eine eigene
ökonomische Grundlage durch die von ihm kontrollierten Öl- und Gasvorkommen und
große Mengen auch schwerer Waffen, die in Mûsil von
der irakischen Armee erbeutet wurden. Im Irak stützt sich das Kalifat zudem auf
einheimische Bündnispartner unter den sunnitischen Stämmen. »Jetzt bekommen wir
genug Waffen aus dem Irak, und es gibt auch in Syrien genug zu kaufen«, so Abu Yusaf. »Daher besteht keine Notwendigkeit mehr, Dinge von
außerhalb zu bekommen.«
Allerdings
muss der IS sein Öl auch verkaufen, um es zu Geld zu
machen. Und hier kommt wieder die Türkei ins Spiel. Der Abgeordnete der
kemalistischen Opposition aus der an Syrien grenzenden Provinz Hatay, Ali Ediboğlu,
bezifferte im Juli den Wert des allein in diesem Jahr an die Türkei verkauften
Öls mit 800 Millionen Dollar. Das Öl aus den vom IS kontrollierten Ölquellen in
Syrien und inzwischen auch dem Irak würde zuerst mit einfachen Mitteln
raffiniert und dann an die syrisch-türkische Grenze gebracht. Von syrischen
Dörfern seien Pipelines in die türkischen Grenzregionen Hatay,
Kilis, Urfa und Gaziantep gelegt worden, um das Öl
gegen Bargeld an Schmuggler auf türkischer Seite zu verkaufen, die das Öl in
Plastikkanistern mit Traktoren weitertransportieren. Auch über den Nordirak
verlaufen Schmuggelrouten für das bei Mûsil unter die
Kontrolle des IS geratene Öl, das in der Türkei und dem Iran mit 18 Dollar weit
unter dem von der Bagdader Zentralregierung festgesetzten Barrel-Preis von 62
Dollar verkauft wird. Die irakische Regierung hatte sich bereits mehrfach in
Ankara deswegen beschwert, zwischenzeitlich haben auch die Vereinten Nationen
auf eine russische Eingabe hin die türkische Regierung aufgefordert, diesen
Handel zu unterbinden. Zumindest in Einzelfällen ist die türkische Armee gegen
den Ölschmuggel vorgegangen und hat solche Untergrundpipelines zerstört.[8]
Offenbar als
Rückversicherung für das generelle Wohlverhalten der Türkei dienen dem IS die
49 nach seinem Einmarsch in Mûsil am 10. Juni als
Geiseln genommenen Mitarbeiter des türkischen Konsulats, darunter Generalkonsul
Oztürk Yılmaz. Schon
die Geiselnahme an sich wirft Rätsel auf. So hatte der Gouverneur von Mûsil, Atheel al-Nujaifi, die türkische Regierung vor dem bevorstehenden
Angriff des IS auf die Stadt gewarnt und auf die Evakuierung des Konsulats
gedrängt. Dem habe sich der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu
aber widersetzt. An die Sicherheitskräfte des Konsulats sei zudem die Weisung
ergangen, nicht gegen den IS zu kämpfen. Kurz nach der Geiselnahme erließ die
türkische Regierung eine Nachrichtensperre zu diesen Ereignissen. An einer
diplomatischen Lösung werde gearbeitet, die Geiseln kämen bald frei, heißt es
seitdem in regelmäßigen Abständen aus dem Außenministerium. Ansonsten wird von
Seiten der türkischen Regierungspolitik der Mantel des Schweigens über die
Affäre gebreitet. Erdoğan beschuldigte die
Opposition, ihn zu »Provokationen« gegenüber dem IS drängen zu wollen. Man
sollte einmal diese Nicht-Reaktionen der türkischen Regierung auf die nun schon
über zwei Monate andauernde Geiselnahme ihrer Diplomaten durch den IS mit den
verbalradikalen Drohungen Erdoğans anlässlich
der in der Vergangenheit in die Gefangenschaft der PKK geratenen türkischen
Soldaten oder angeblich von der PKK verschleppten Jugendlichen vergleichen. Auf
einem Iftar-Essen appellierte Erdoğan
im Juli sogar an seine »muslimischen Brüder« des IS, die türkischen Geiseln
freizulassen. Auch sonst spricht er vom IS lediglich von einer »Organisation«
ohne das Attribut »terroristisch«. Er sprach sich zudem gegen US-Luftangriffe
auf den IS im Irak aus, um das Leben der Geiseln nicht zu gefährden. Die
türkische Regierung glaube offensichtlich, sie hätte eine Art herzlichen
Einvernehmens mit den Dschihadisten, zitiert das
Internetportal Al-Monitor einen hohen westlichen Diplomaten.[9] Dies scheint
in der Tat der Fall zu sein. Für Erdoğan und Davutoğlu ist die Geiselnahme die willkommene Ausrede,
um keine größeren, von einigen westlichen Bündnispartnern der Türkei
eingeforderten Maßnahmen gegen den IS ergreifen zu müssen.
Flüchtlingslager als Terrorcamp
Insbesondere
für ihre Angriffe auf das kurdische Selbstverwaltungsgebiet im Norden Syriens
bekommen die Dschihadisten weiterhin grünes Licht.
Riha sei zum Hauptquartier von IS geworden, berichtet der HDP-Abgeordnete
Ibrahim Ayhan. Die IS-Männer könnten sich frei in der Stadt bewegen. »Sie
benutzen die Stadt als Militärbasis, sie nutzen die Krankenhäuser und
transportieren hier militärische Ausrüstung«, so Ayhan. Anfang Juli begann der
IS mit zuvor in Mûsil erbeuteten schweren Waffen
einen Großangriff auf den Kanton Kobanê. Nicht nur
von syrischer Seite her umzingelten die IS-Banden Kobanê
(Ain al-Arab). Auch von
türkischem Territorium aus erfolgten Angriffe. »Die AKP und ISIS haben eine
Vereinbarung getroffen. Die Einnahme von Kobanê und
die Vernichtung der Rojava-Revolution ist eine
gemeinsame Strategie beider. Mit dieser Übereinkunft versucht die türkische
Regierung auch die Mitarbeiter in Mûsil
freizubekommen«, heißt es in einer Erklärung der Gemeinschaft der
Gesellschaften Kurdistans (KCK) zu diesen Angriffen. Und die KCK warnte: »Der
Lösungsprozess in Nordkurdistan und die türkische Unterstützung von ISIS in Rojava können nicht nebeneinander existieren. Entweder der
AKP-Staat unterstützt ISIS oder er handelt im Geiste des Lösungsprozesses.« Die Demokratische Partei der Völker HDP rief die örtliche
Bevölkerung dazu auf, sich zur Grenze zu begeben, um ein Eindringen von
IS-Kämpfern aus der Türkei zu verhindern. Tausende Menschen, darunter
Abgeordnete und Bürgermeister der HDP, Künstler und alevitische
Geistliche, errichteten daraufhin Widerstandscamps entlang der Grenze, um ihre
Solidarität mit Kobanê zu zeigen. Am 21. Juli griffen
Soldaten eines der Widerstandszelte im Dorf Zerat (Ziyaret)
bei Riha-Bêrecûk (Urfa-Birecik)
an. Nach Ansicht des Menschenrechtsvereins (IHD), der eine
Untersuchungsdelegation an die Grenze geschickt hatte, dient das an Dîlok grenzende Karkamış-Lager
für Flüchtlinge aus Syrien nahe der Grenze zu Rojava
als logistisches Zentrum für den IS. »Von diesem Camp gehen die Angriffe auf
den Kanton Kobanê aus, die über die Türkei ausgeführt
werden«, heißt es in einem Bericht des IHD. Nach Ansicht des IHD sei das
Widerstandszelt in Zerat attackiert worden, weil es von dort eine gute Aussicht
auf das Grenzgebiet gab und illegale Grenzübertritte von IS-Kämpfern aus dem Karkamış-Camp beobachtet werden konnten. Um das
zu verhindern, seien die Zelte immer wieder angegriffen worden, heißt es im
IHD-Bericht.
Die
türkische Regierung hat bislang stets jede Mitverantwortung am Erstarken des IS
zurückgewiesen. Anfang August erklärte der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu, »das Gebilde ISIS kann den Anschein eines
radikalen, terroristischen Gebildes haben. (…) Dieses Gebilde wurde als
Reaktion der Empörung auf den vorhergehenden Missmut geboren. (…) Es gibt eine
Gruppe von Menschen, die sich aus Empörung zusammengetan haben.« Faktisch gesteht Davutoğlu
dem IS zu, eine legitime sunnitische Widerstandsbewegung zu sein. »Das Gespann Erdoğan/Davutoğlu hat
regelrecht ›Geburtshilfe‹ für den ›Islamischen Staat‹ an der gesamten Südgrenze
zu unserem Land geleistet«, schreibt der bekannte Journalist Cengiz Çandar. »Dies sollte verhindern, dass ›ein zweites
autonomes Kurdistan entsteht und um etwaige Forderungen der Kurden in der Türkei
abzuwenden.‹«[10]
Das vom IS
ausgerufene Kalifat grenzt bei der zwischen Heleb
(Aleppo) und Kobanê gelegenen Stadt Tell Abjad direkt an die Türkei. Von türkischer Seite aus sind
die schwarzen IS-Fahnen zu sehen. Nach den Vorstellungen des IS, der die Türkei
als nicht islamisches Land betrachtet, soll dies nicht die Grenze bleiben.
Offen beansprucht er die Gebiete im Südosten der Türkei für sein Kalifat und
droht mit der »Befreiung Istanbuls«. Das an der Brust der AKP-Regierung stark
gewordene Monster wird nicht zögern, in die Hand zu beißen, von der es
jahrelang gefüttert wurde.
[1])Patrick Cockburn: ISIS consolidates, London Review of
Books, 21. August 2014.
[2])Tolga Tanış:
Beweise, dass Waffen nach Syrien gehen, Hürriyet, 15.12.2013.
[3])Ariel Ben Solomon: Islamic State fighter: Turkey
paved the way for us, The Jerusalem Post, Online, 30.7.2014.
[4])The Washington Post, Online, 12. August 2014
[5])Jürgen Gottschlich: ISIS-Fahnen in
Istanbul, taz Online, 11.7.2014; Hürriyet Daily News, 31.7.14.
[6])Julian Roherer: Nato-Staat in
Gefahr, Focus-Online, 6.8.2014.
[7])Boris Kalnoky:
In der Terrorgruppe IS wird auch türkisch gesprochen, Berliner Morgenpost,
Online, 6.8.14.
[8])Taraf: Opposition
MP says ISIS is selling oil in Turkey, al-Monitor, 13.07.14.
[9])Amberin Zaman: Islamic State uses Turkish Consulate in Mosul as
headquarters, al-monitor, 17.7.2014.
[10])Cengiz Çandar:
Wo steht die Türkei in Sachen »Islamischer Staat«? Radikal, 9.8.2014.
Kurdistan Report Nr. 175, August September 2014