unsere zeit - Zeitung der DKP

23. Januar 2004


Die letzte Seite


Geschichte der "Roten Hilfe Deutschlands"
Nikolaus Brauns legt erste Gesamtdarstellung vor

Lange hat es gedauert, bis die erste umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte, Organisation und Tätigkeitsfelder der Roten Hilfe Deutschlands (RHD) veröffentlicht werden konnte. Zu verdanken ist dies dem engagierten Münchner Historiker Dr. Nikolaus Brauns, der, basierend auf seiner Promotionsarbeit, im Pahl-Rugenstein Verlag den idealen Partner zur Veröffentlichung dieses umfangreichen Werks fand. Kaum zu glauben, aber faktisch belegt ist, dass bis heute kein Historiker sich dieses wichtigen Kapitels der deutschen Arbeiterbewegung angenommen hat. Hilde Benjamin, die langjährige Justizministerin der DDR, sollte und wollte dies tun. Als ehemalige Rechtsanwältin der RHD, die ihre ersten Erfolge bei der Verteidigung proletarischer Angeklagter hatte, war sie geradezu prädestiniert. Die hohe Arbeitsbelastung ließ jedoch keinen Freiraum und letztlich war es dann zu spät dafür. Geplant war die Herausgabe dieses Buchs bereits zum Mai vergangenen Jahres, aber dann erfuhr der Autor, dass im Archiv des Karl-Valentin-Museums in München noch ein großer Bestand in Vergessenheit geratener Zeitschriften der RHD lagerte. Nach Sichtung und Auswertung entschieden Autor und Verlag, viele dieser Dokumente zu verwenden. Es kamen dann gut hundert Seiten hinzu und das Erscheinen verschob sich um ein halbes Jahr.

Als "opulente Zeitreise" durch die Geschichte der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland von 1919 bis 1938 bezeichnet Jukka Tarkka diese längst überfällige Dokumentation. Bereits nach der Niederschlagung des Berliner Januaraufstandes 1919 und besonders nach den blutigen Standgerichten, die gegen die Bayerischen Räterepublikaner wüteten, entstand die Frauenhilfe für politische Gefangene, als Vorläuferorganisation der RHD. Diese völlig unpolitische, karitative Einrichtung wurde dennoch als "Kommunistisches Werbebüro" gesehen. Die bürgerliche Presse verlangte die Entfernung dieser "staatsgefährlichen" Gesellschaft und die Sozialdemokratie betrieb schließlich die Auflösung 1923. Der Versuch, eine aufgabenbezogene, überparteiliche Organisation zu schaffen, wurde verraten. 1924 wurde die KPD-Landtagsabgeordnete Rosa Aschenbrenner, Mitbegründerin der Frauenhilfe, Leiterin des Rote-Hilfe-Komitees der KPD in Bayern. Die Gründung der Roten Hilfe war keine strategische Entscheidung der Partei, sondern entwickelte sich zwingend aus der Überlebensfrage unzähliger hungernder und frierender Proletarierfamilien, deren - oft einzige - Ernährer ermordet oder eingekerkert wurden.

Die Losung "Wir fragen euch nicht nach Verband und Partei ...", wie sie im Arbeiterlied "Der Rote Wedding" formuliert wurde, war durchgängig Orientierung für diese Organisation. Eine halbe Million Mitglieder und noch mal so viele Kollektivmitgliedschaften waren in der RHD organisiert. Am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme weisen Dokumente 1,02 Millionen Mitglieder aus. Anarchisten, Linksradikale, Christen, bürgerliche Humanisten und sogar einige Sozialdemokraten zahlten - trotz Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD - Mitgliedsbeiträge. Auf der Führungsebene hatten immer Kommunisten alle wichtigen Funktionen inne und repräsentierten nach den Parteilosen auch die größte Gruppe der Mitglieder.

Neben den großen Führungspersönlichkeiten Clara Zetkin und Wilhelm Pieck gehörten auch bekannte Namen wie Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Heinrich und Thomas Mann und Albert Einstein zu den Unterstützern. Große Verdienste bei der Anwerbung bekannter Künstler und Intellektueller hatte "Lydia Wilhelm", Geschäftsführerin des Zentralkomitees der Roten Hilfe. Dank ihres Erscheinungsbilds als bürgerliche "Spießerin" blieb ihre wahre Identität lange auch vor der Polizei unentdeckt. Sie war niemand anderes als die Sekretärin und Vertraute Lenins, die Lehrerin und Revolutionärin Jelena Stassowa. Als Auge und Ohr der Komintern hatte sie von Lenin persönlich die Anweisung, die RHD aufzubauen. "Genossin Absolut", wie ihr Parteiname lautete, übernahm nach dem Tod Clara Zetkins 1933 die Leitung der Internationalen Roten Hilfe (IRH).

Die Aufgaben und Betätigungsfelder der RHD sind derart vielgestaltig und spannend, dass alleine unter diesem Aspekt das Lesen des Buches lohnt. Von der juristischen und moralischen Betreuung politischer Gefangener über die Versorgung und Ernährung der Frauen, der Agitation und Propaganda, der Beschaffung falscher Dokumente, Schleusungen über Staatsgrenzen bis hin zur Errichtung und zum Betrieb eigener Kindererholungsheime reichte die Palette. Die beiden Erholungsheime in Elgersburg und Worpswede sind heute als Gedenkstätten noch zu besichtigen. Nicht minder interessant sind die Beiträge, die sich mit den Arbeitsmethoden beschäftigen. Exemplarisch sei hier nur das "Trojanische Pferd" referiert. Diesen Begriff prägte erstmals Georgi Dimitroff auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale. Unter dieser Bezeichnung wurden Genossen in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eingeschleust. Gelang dann der Aufstieg in die Leitung einer Stadtteilorganisation konnte es losgehen. Gelder flossen dann gezielt an die Familien inhaftierter Genossen und notleidender Proletarier. Belegt ist auch der Fall des Musikvereins "H." (Aus Sicherheitsgründen geben die Dokumente der RHD keine Information zu Ort und Namen her.). Aus 30 Mitgliedern, darunter acht SA-Leute, wurden durch gezielten Beitritt Roter Helfer und KPD-Genossen 65. Nach der Übernahme wichtiger Vereinsfunktionen flossen Gelder an den Bezirksvorstand der Roten Hilfe und wurden als Ausgaben für neue Posaunenmundstücke oder Schlagzeugbespannungen verbucht.

Zitiert sei hier das Resümee des Autors: "Die von der Roten Hilfe Deutschlands geschaffene Tradition der Solidarität hat es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten." Diesem berechtigten Anliegen wird das vorgestellte Buch in jeder Hinsicht gerecht. Es bettet spannende und interessante Geschichten in ein wissenschaftlich aufgebautes Umfeld ein. Ungezählte Bilder und faksimilierte Dokumente machen die Lektüre zu einem wahren Genuss. Keine der erwähnten Fakten und Begebenheiten bleiben unbelegt. Im Hinblick auf wissenschaftliche Methodik wurden keine Kompromisse zugelassen. Das Sach- und Personenregister erlaubt die Verwendung als Nachschlagewerk. Der Preis von 32 Euro schreckt nur auf den ersten Blick und führt bald zur Erkenntnis, dass dieses großformatige Buch jeden Cent wert ist. Ohne Übertreibung darf gesagt werden, dass "Schafft Rote Hilfe!" zu dieser Thematik das Attribut Standardwerk uneingeschränkt verdient.

Warum ich es bei dieser Besprechung nicht mit einer Kaufempfehlung belasse, sondern daraus einen Aufruf zu dessen Erwerb mache, liegt nicht nur an der sehr guten Darstellung der Vergangenheit, sondern an einem Aspekt, der möglicherweise Autor und Verlag gar nicht bewusst ist: Das soziale Klima wird merklich kälter, die Klassenauseinandersetzungen nehmen zu, nach außen geht es immer aggressiver und nach innen immer repressiver zur Sache. Das Sechstel dieser Erde, das uns immer Stärke und Rückhalt gab, gibt es nicht mehr. Keiner wird im Ernstfall an unserer Seite stehen. Das können wir nur selber tun. Geradezu sträflicher Leichtsinn wäre es, nicht aus den Kämpfen, Siegen und Niederlagen derer zu lernen, die mutig, entschlossen und diszipliniert für die gerechteste Sache der Welt gekämpft haben.

Dieter W. Feuerstein


Nikolaus Brauns: Schafft Rote Hilfe!, Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2003, geb., 348 Seiten, 32 Euro