17.04.2004      junge Welt Wochenendbeilage

 

»Tote auf Urlaub«  

Die Münchner Räterepublik vor 85 Jahren

Viele Münchner wollten am Morgen des 7. April 1919 ihren Augen nicht
trauen. »Die Entscheidung ist gefallen«, verkündeten Plakate in der ganzen
Stadt. »Baiern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines
Geschicks.« So war es vom Zentralrat der bayerischen Arbeiter-, Soldaten-
und Bauernräte während einer nächtlichen Sitzung im ehemaligen Schlafzimmer
der Königin von Bayern beschlossen worden. Dieser Zentralrat, der sich aus
Vertretern der SPD, USPD, KPD sowie Volksräten der Arbeiter, Bauern- und
Soldatenräte zusammensetzte, war nach der am 21. Februar erfolgten Ermordung
des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und den am selben Tag im
Landtag abgegebenen Schüssen eines anarchistischen Arbeiters gebildet
worden, um das entstandene Machtvakuum zu füllen.

Nach der Errichtung der ungarischen Räterepublik am 21. März war auch in
Bayern der Ruf nach Räteherrschaft lauter geworden. Mit einem Generalstreik
versuchten die Augsburger Arbeiter am
4. April, den Zentralrat zur Ausrufung einer bayerischen Räterepublik zu
drängen. Am folgenden Tag versicherten die Münchner Kasernenräte, daß ihre
Sympathien auf der Seite der Arbeiter lägen, und der monarchistische
Standortkommandeur erklärte den Landtag für nicht schützenswert. Die Mitte
März gebildete sozialdemokratische Landesregierung von Ministerpräsident
Hoffmann flüchtete daraufhin nach Bamberg.

Ausgerechnet rechte Sozialdemokraten wie Stadtkommandant Oskar Dürr und
Militärminister Ernst Schneppenhorst gehörten nun zu den entschiedensten
Verfechtern einer Räterepublik. Beide hatten in den Wochen zuvor noch
militärische Gewalt gegen die Räte angedroht. Jetzt sahen sie die Chance zur
Kompromittierung des Rätegedankens, wenn sie aktiv zur verfrühten Ausrufung
einer »Räterepublik« drängten. Während sich die Anarchisten Gustav Landauer
und Erich Mühsam sowie die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) um ihren
Vorsitzenden Ernst Toller bedenkenlos mit den plötzlich gewendeten
Mehrheitssozialdemokraten auf die Ausrufung der Räterepublik einigten,
verweigerte die KPD jegliche Unterstützung für dieses Unternehmen.

Die KPD-Zentrale hatte Eugen Leviné, einen erfahrenen Mitkämpfer Karl
Liebknechts und Rosa Luxemburgs, zur Unterstützung der Münchner Genossen
geschickt. Als Chefredakteur der Münchner Roten Fahne warnte Leviné: »Das
Ganze scheint mehr eine Provokation der SPD zu sein. Sie sehen, daß unser
Einfluß von Tag zu Tag größer wird, und versuchen nun, künstlich von oben
eine Räterepublik einzusetzen, die keinen genügenden Unterbau hat und leicht
zu zerschmettern und vor den Massen zu diskreditieren ist. Das gäbe ihnen
auch den gewünschten Anlaß, ihre Truppen in München einmarschieren zu
lassen.« Prophetisch erkannte er: »Nach dem ersten Rausch würde folgendes
eintreten: Die Mehrheitssozialisten würden sich unter dem ersten besten
Vorwand zurückziehen und das Proletariat bewußt verraten. Die USPD würde
mitmachen, dann umfallen, anfangen zu verhandeln und dadurch zum unbewußten
Verräter werden. Und wir Kommunisten würden mit dem Blut unserer Besten eure
Tat bezahlen.«

In Nürnberg sprach sich eine Mehrheit gegen die Räterepublik aus, in anderen
bayerischen Städten entstanden kurzlebige Räterepubliken, die meist schon
nach wenigen Tagen zerfielen oder gestürzt wurden. Die Münchner
Räteregierung wurde von Idealisten ohne praktische politische Erfahrung
gebildet. Staatsoberhaupt war als Präsident des Zentralrates der
Schriftsteller Ernst Toller. Für den Philosophen Gustav Landauer als
Volksbeauftragten für Volksaufklärung stand die Verbreitung atheistischer
Propaganda im katholischen Bayern im Vordergrund. Der Volksbeauftragte für
das Äußere, ein gewisser Dr. Lipp, stellte sich nach wenigen Tagen als
geisteskrank heraus. Zuvor beklagte er sich in einem Telegramm an Lenin
noch: »Bamberg Sitz des Flüchtlings Hoffmann, welcher aus meinem Ministerium
den Abortschlüssel mitgenommen hat.« Für die Finanzen verantwortlich war der
Erfinder der Freigeldlehre, Silvio Gesell, dessen wirre Theorien von der
Abschaffung des »kapitalistischen Geldes« als »Dritter Weg« zwischen
Kapitalismus und Kommunismus bis heute von Anarchisten und Rechtsextremen
nachgebetet werden.

Der Sozialdemokrat Schneppenhorst, der zuvor am entschiedensten auf die
Ausrufung der Räterepublik gedrängt hatte, setzte sich ab, um als
Militärminister der Regierung Hoffmann die militärische Niederschlagung
der »Räterepublik« vorzubereiten.

Die revolutionärste Änderung unter der »Rätemacht« war die Schreibweise
Baierns mit einem »i« statt einem »y«. Die Münchner Rote Fahne
höhnte: »Alles wie sonst. In den Betrieben schuften und fronen die
Proletarier nach wie vor zugunsten des Kapitals. In den Ämtern sitzen nach
wie vor die königlichen Wittelsbacher Beamten. An den Straße die alten Hüter
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Schutzmannssäbel. Kein
bewaffneter Arbeiter zu erblicken. Keine roten Fahnen. Keine Besetzung der
Machtpositionen der Bourgeoisie ...«

Unter Levinés Leitung begann die Partei systematisch mit dem Aufbau von
Parteizellen in Betrieben und Kasernen. »Gewiß, wir stehen auf dem Boden des
Rätesystems, aber wir haben die Voraussetzungen erst noch zu schaffen, die
dieses System gewährleisten. Wir haben Arbeiterräte zu bilden aus den
Betriebsräten der beschäftigten Arbeiterschaft und der Fülle der
Arbeitslosen« umriß Leviné die nächsten Aufgaben der Kommunisten. Zunehmend
gerieten diese wegen ihrer Weigerung, der Räteregierung beizutreten, unter
Druck der revolutionären Arbeiter. Gestützt auf ihre Obleute in den
Betrieben und Kasernen erklärte die KPD schließlich ihre Bereitschaft, dem
Zentralrat in beratender Funktion zu unterstützen.

Die »Scheinräterepublik« existierte nur knapp eine Woche. Am Palmsonntag den
13. April besetzten Mitglieder der SPD-nahen Republikanischen Schutztruppe
im Auftrag der Hoffmann-Regierung Regierungsgebäude sowie den Bahnhof und
verhafteten zwölf Mitglieder der Räteregierung, darunter Erich Mühsam und
Dr. Lipp. Unter der Führung des kommunistischen Matrosen Rudolf Egelhofer
gelang es bewaffneten Arbeitern, die Gegenrevolutionäre in die Flucht zu
treiben.

»Die bayerische Räterepublik entstand nicht, wie wir es für notwendig
halten, aus dem Willen und der Einsicht der Proletariermassen heraus. Sie
entstand, weil einige abhängige und unabhängige Sozialdemokaten sich in eine
Sackgasse verrannt hatten, aus der sie keinen Ausweg wußten als die
Ausrufung der Räterepublik«, hieß es in einem Aufruf der Zentrale der
KPD. »Aber einmal da, müssen die Massen ernst machen. Einmal das Schwert
gezogen, müssen die Massen es am Knaufe fassen, da es die Führer an der
Klinge fassen wollen. Einmal an der Macht, müssen die Proletariermassen sie
ausgestalten und sie gebrauchen in ihrem Sinne.« Daher waren die Kommunisten
nun bereit, an der Seite der Arbeiter für eine wirkliche kommunistische
Räterepublik zu kämpfen.

Noch während am Bahnhof geschossen wurde, tagten im Hofbräuhaus die
Betriebs- und Kasernenräte. Ein fünfzehnköpfiger Aktionsausschuß der
Arbeiter- und Soldatenräte aus Vertretern der SPD, der USPD und der KPD
wurde gewählt. Dem vierköpfigen Vollzugsrat der neuen Räterepublik gehörten
jetzt die drei Kommunisten Eugen Leviné, Max Levin und Paul Fröhlich an.

Zur Verteidigung der Räterepublik trat die Münchner Arbeiterschaft vom 14.
bis zum 22. April in einen zehntägigen Generalstreik. Der 23jährige Rudolf
Egelhofer wurde Stadtkommandant von München und Oberkommandierender einer
eilig aufgestellten bayerischen Roten Armee aus rund 10 000
Freiwilligen. »Sämtliche Bürger haben binnen zwölf Stunden jede Art von
Waffen in der Stadtkommandantur abzuliefern. Wer innerhalb dieser Zeit die
Waffe nicht abgegeben hat, wird erschossen«, hieß es in einem Aufruf der
roten Matrosen. Am nächsten Morgen konnten Lastwagen die Waffen auf den
Straßen einsammeln.

Die Räteregierung arbeitete auf der Grundlage eines kommunistischen
Programms. Betriebsräte übernahmen die Stadtverwaltung und requirierten
Lebensmittel. Die Banken wurden dem Rätestaat unterstellt, in den Safes
liegende Gelder beschlagnahmt und jede Abhebung kontrolliert. In den meisten
Betrieben übten Betriebsräte die Kontrolle über Produktion und Finanzen aus.
Die bürgerliche Presse, die im restlichen Bayern die schlimmsten Lügen über
die Räterepublik verbreitete, blieb verboten.

Die Regierung Hoffmann hetzte die Landbevölkerung gegen die »Diktatur der
Russen und Juden« in der Stadt auf, die angeblich die Frauen zu
Gemeineigentum erklärt hätten. Die Bauern begannen nun eine Hungerblockade
gegen die Münchner Räterepublik. Jetzt rächte es sich, daß die Münchner
Revolutionäre die Notwendigkeit eines Bündnisses mit den Bauern im Agrarland
Bayern unterschätzt hatten.

In Dachau gelang es der Roten Armee am 15. April noch, ein Vorauskommando
der Weißgardisten zurückzuschlagen. Da bayerische und württembergische
Freikorpsverbände nicht ausreichten und reguläre bayerische Truppen nicht
bereit waren, gegen die Räterepublik zu kämpfen, forderte die
Hoffmann-Regierung bei Reichswehrminister Gustav Noske Verstärkung an. Bis
Ende April schlossen 60 000 Freikorpsmänner unter General v. Oven den
Belagerungsring um München. Darunter waren spätere Naziführer wie Ernst
Röhm, Heinrich Himmler und Rudolf Heß. Die Soldaten der Brigade Erhardt
trugen schon damals das Hakenkreuz am Helm.

Am letzten Tag des Generalstreiks, dem 22. April, marschierten noch einmal
15 000 bewaffnete Arbeiter durch München. Doch je näher die weißen Truppen
rückten, desto mehr gerieten die Unabhängigen Sozialdemokraten in Panik.
Erfolglos versuchten sie, die Regierung Hoffmann in Bamberg zu Verhandlungen
zu bewegen. Auch Ernst Toller stimmte nun in den bürgerlichen Chor ein und
diffamierte die Kommunisten als »landfremde Elemente«. Als die Mehrheit im
Aktionsausschuß am 27. April die Bildung einer »bodenständigen Regierung«
aus »echten Bayern« beschloß, erklärten Leviné und die anderen KPD-Vertreter
ihren Austritt. Egelhofer blieb auf seinem Posten als Kommandant der Roten
Armee.

Nachdem Nachrichten über Massaker der Freikorps im Münchner Umland bekannt
wurden, ließ ein Rotarmist am 30. April im Luitpoldgymnasium eigenmächtig
acht gefangene Mitglieder der Thulegesellschaft, einer Vorläuferorganisation
der Nazipartei, und zwei Freikorpssöldner hinrichten. Bis heute gelten diese
Morde in vielen Geschichtsbüchern als Beweis für den »roten Terror« in
München.

Während sich am 1. Mai 1919 die sozialdemokratischen Arbeiter unbewaffnet
zur Maifeier versammelten, drangen die ersten Freikorps in die Stadt ein.
Noch bis zum 3. Mai leisteten Einheiten der Roten Armee erbitterten
Widerstand. In den Arbeitervierteln Giesing, Sendling und rund um den
Schlachthof wüteten die Freikorps besonders grausam. Es galt das Standrecht.
Ohne jede gesetzliche Grundlage und ohne Aktenführung tagten in Wirtshäusern
wilde Freigerichte, in denen ein Leutnant oder Unteroffizier zum Richter
über Leben und Tod wurde. Die Todesstrafe wurde unmittelbar nach ihrer
Verhängung vollstreckt. So erschossen Freikorpsmänner am 2. Mai Rudolf
Egelhofer. Gustav Landauer wurde im Gefängnis Stadelheim von einem Offizier
mit der Reitpeitsche halb totgeschlagen und anschließend erschossen. Ein
Wachtmeister trampelte noch auf den Sterbenden herum. »Hier wird aus
Spartakistenblut Blut- und Leberwurst gemacht«, hieß eine Parole auf der
Gefängnismauer.

Aufgrund willkürlicher Denunziationen wurden Hunderte verhaftet oder gleich
erschossen. Ein Perlacher Pfarrer denunzierte zwölf Arbeiter, weil sie keine
fleißigen Kirchgänger waren. Sie wurden vom Freikorps Lützow erschossen und
ausgeraubt. Als Denunziant tat sich auch der Gefreite der Infanterie Adolf
Hitler hervor. Während der Revolution hatte er sich feige versteckt. Nun
lieferte Hitler Regimentskameraden ans Messer, die mit der Räterepublik
sympathisiert hatten. Viele der Gemordeten tauchten später in den amtlichen
Statistiken als »tödlich verunglückt« auf. Erst nachdem am 6. Mai aus
Regierungstruppen gebildete Freikorps 21 Mitglieder des katholischen
Gesellenvereins St. Joseph in einem Keller am Karolinenplatz als
vermeintliche »Spartakisten« abschlachteten, hob die Regierung das
Standrecht wieder auf. Während die Regierungstruppen 38 Gefallene meldeten,
waren weit über
1 000 Arbeiter dem Wüten der Freikorps zum Opfer gefallen, darunter auch 52
russische Kriegsgefangene, die in einer Kiesgrube bei Gräfelfing erschossen
wurden. »Für die umsichtige erfolgreiche Leitung der Operation in München
spreche ich Ihnen meine volle Anerkennung aus und der Truppe herzlichen Dank
für ihre Leistung«, telegraphierte der sozialdemokratische
Reichswehrminister Gustav Noske nach dem Ende der Schlächtereien an General
von Oven.

In den folgenden Monaten verurteilten Volksgerichte 2 209 Räterepublikaner,
darunter Erich Mühsam und Ernst Toller, zu langjährigen Haftstrafen. Im Juni
1919 wurde Eugen Leviné zum Tode verurteilt. »Wir Kommunisten sind alle Tote
auf Urlaub«, erklärte der kommunistische Führer der Münchner Räterepublik in
seiner Verteidigungsrede. Mit dem Ruf »Es lebe die Weltrevolution!« starb er
6. Juni 1919 unter den Kugeln eines Exekutionskommandos im Gefängnis
München-Stadelheim.

 

17.04.2004   junge Welt Wochenendbeilage
Von Nick Brauns

 »Tote auf Urlaub«   Die Münchner Räterepublik vor 85 Jahren

Viele Münchner wollten am Morgen des 7. April 1919 ihren Augen nicht
trauen. »Die Entscheidung ist gefallen«, verkündeten Plakate in der ganzen
Stadt. »Baiern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines
Geschicks.« So war es vom Zentralrat der bayerischen Arbeiter-, Soldaten-
und Bauernräte während einer nächtlichen Sitzung im ehemaligen Schlafzimmer
der Königin von Bayern beschlossen worden. Dieser Zentralrat, der sich aus
Vertretern der SPD, USPD, KPD sowie Volksräten der Arbeiter, Bauern- und
Soldatenräte zusammensetzte, war nach der am 21. Februar erfolgten Ermordung
des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und den am selben Tag im
Landtag abgegebenen Schüssen eines anarchistischen Arbeiters gebildet
worden, um das entstandene Machtvakuum zu füllen.

Nach der Errichtung der ungarischen Räterepublik am 21. März war auch in
Bayern der Ruf nach Räteherrschaft lauter geworden. Mit einem Generalstreik
versuchten die Augsburger Arbeiter am
4. April, den Zentralrat zur Ausrufung einer bayerischen Räterepublik zu
drängen. Am folgenden Tag versicherten die Münchner Kasernenräte, daß ihre
Sympathien auf der Seite der Arbeiter lägen, und der monarchistische
Standortkommandeur erklärte den Landtag für nicht schützenswert. Die Mitte
März gebildete sozialdemokratische Landesregierung von Ministerpräsident
Hoffmann flüchtete daraufhin nach Bamberg.

Ausgerechnet rechte Sozialdemokraten wie Stadtkommandant Oskar Dürr und
Militärminister Ernst Schneppenhorst gehörten nun zu den entschiedensten
Verfechtern einer Räterepublik. Beide hatten in den Wochen zuvor noch
militärische Gewalt gegen die Räte angedroht. Jetzt sahen sie die Chance zur
Kompromittierung des Rätegedankens, wenn sie aktiv zur verfrühten Ausrufung
einer »Räterepublik« drängten. Während sich die Anarchisten Gustav Landauer
und Erich Mühsam sowie die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) um ihren
Vorsitzenden Ernst Toller bedenkenlos mit den plötzlich gewendeten
Mehrheitssozialdemokraten auf die Ausrufung der Räterepublik einigten,
verweigerte die KPD jegliche Unterstützung für dieses Unternehmen.

Die KPD-Zentrale hatte Eugen Leviné, einen erfahrenen Mitkämpfer Karl
Liebknechts und Rosa Luxemburgs, zur Unterstützung der Münchner Genossen
geschickt. Als Chefredakteur der Münchner Roten Fahne warnte Leviné: »Das
Ganze scheint mehr eine Provokation der SPD zu sein. Sie sehen, daß unser
Einfluß von Tag zu Tag größer wird, und versuchen nun, künstlich von oben
eine Räterepublik einzusetzen, die keinen genügenden Unterbau hat und leicht
zu zerschmettern und vor den Massen zu diskreditieren ist. Das gäbe ihnen
auch den gewünschten Anlaß, ihre Truppen in München einmarschieren zu
lassen.« Prophetisch erkannte er: »Nach dem ersten Rausch würde folgendes
eintreten: Die Mehrheitssozialisten würden sich unter dem ersten besten
Vorwand zurückziehen und das Proletariat bewußt verraten. Die USPD würde
mitmachen, dann umfallen, anfangen zu verhandeln und dadurch zum unbewußten
Verräter werden. Und wir Kommunisten würden mit dem Blut unserer Besten eure
Tat bezahlen.«

In Nürnberg sprach sich eine Mehrheit gegen die Räterepublik aus, in anderen
bayerischen Städten entstanden kurzlebige Räterepubliken, die meist schon
nach wenigen Tagen zerfielen oder gestürzt wurden. Die Münchner
Räteregierung wurde von Idealisten ohne praktische politische Erfahrung
gebildet. Staatsoberhaupt war als Präsident des Zentralrates der
Schriftsteller Ernst Toller. Für den Philosophen Gustav Landauer als
Volksbeauftragten für Volksaufklärung stand die Verbreitung atheistischer
Propaganda im katholischen Bayern im Vordergrund. Der Volksbeauftragte für
das Äußere, ein gewisser Dr. Lipp, stellte sich nach wenigen Tagen als
geisteskrank heraus. Zuvor beklagte er sich in einem Telegramm an Lenin
noch: »Bamberg Sitz des Flüchtlings Hoffmann, welcher aus meinem Ministerium
den Abortschlüssel mitgenommen hat.« Für die Finanzen verantwortlich war der
Erfinder der Freigeldlehre, Silvio Gesell, dessen wirre Theorien von der
Abschaffung des »kapitalistischen Geldes« als »Dritter Weg« zwischen
Kapitalismus und Kommunismus bis heute von Anarchisten und Rechtsextremen
nachgebetet werden.

Der Sozialdemokrat Schneppenhorst, der zuvor am entschiedensten auf die
Ausrufung der Räterepublik gedrängt hatte, setzte sich ab, um als
Militärminister der Regierung Hoffmann die militärische Niederschlagung
der »Räterepublik« vorzubereiten.

Die revolutionärste Änderung unter der »Rätemacht« war die Schreibweise
Baierns mit einem »i« statt einem »y«. Die Münchner Rote Fahne
höhnte: »Alles wie sonst. In den Betrieben schuften und fronen die
Proletarier nach wie vor zugunsten des Kapitals. In den Ämtern sitzen nach
wie vor die königlichen Wittelsbacher Beamten. An den Straße die alten Hüter
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Schutzmannssäbel. Kein
bewaffneter Arbeiter zu erblicken. Keine roten Fahnen. Keine Besetzung der
Machtpositionen der Bourgeoisie ...«

Unter Levinés Leitung begann die Partei systematisch mit dem Aufbau von
Parteizellen in Betrieben und Kasernen. »Gewiß, wir stehen auf dem Boden des
Rätesystems, aber wir haben die Voraussetzungen erst noch zu schaffen, die
dieses System gewährleisten. Wir haben Arbeiterräte zu bilden aus den
Betriebsräten der beschäftigten Arbeiterschaft und der Fülle der
Arbeitslosen« umriß Leviné die nächsten Aufgaben der Kommunisten. Zunehmend
gerieten diese wegen ihrer Weigerung, der Räteregierung beizutreten, unter
Druck der revolutionären Arbeiter. Gestützt auf ihre Obleute in den
Betrieben und Kasernen erklärte die KPD schließlich ihre Bereitschaft, dem
Zentralrat in beratender Funktion zu unterstützen.

Die »Scheinräterepublik« existierte nur knapp eine Woche. Am Palmsonntag den
13. April besetzten Mitglieder der SPD-nahen Republikanischen Schutztruppe
im Auftrag der Hoffmann-Regierung Regierungsgebäude sowie den Bahnhof und
verhafteten zwölf Mitglieder der Räteregierung, darunter Erich Mühsam und
Dr. Lipp. Unter der Führung des kommunistischen Matrosen Rudolf Egelhofer
gelang es bewaffneten Arbeitern, die Gegenrevolutionäre in die Flucht zu
treiben.

»Die bayerische Räterepublik entstand nicht, wie wir es für notwendig
halten, aus dem Willen und der Einsicht der Proletariermassen heraus. Sie
entstand, weil einige abhängige und unabhängige Sozialdemokaten sich in eine
Sackgasse verrannt hatten, aus der sie keinen Ausweg wußten als die
Ausrufung der Räterepublik«, hieß es in einem Aufruf der Zentrale der
KPD. »Aber einmal da, müssen die Massen ernst machen. Einmal das Schwert
gezogen, müssen die Massen es am Knaufe fassen, da es die Führer an der
Klinge fassen wollen. Einmal an der Macht, müssen die Proletariermassen sie
ausgestalten und sie gebrauchen in ihrem Sinne.« Daher waren die Kommunisten
nun bereit, an der Seite der Arbeiter für eine wirkliche kommunistische
Räterepublik zu kämpfen.

Noch während am Bahnhof geschossen wurde, tagten im Hofbräuhaus die
Betriebs- und Kasernenräte. Ein fünfzehnköpfiger Aktionsausschuß der
Arbeiter- und Soldatenräte aus Vertretern der SPD, der USPD und der KPD
wurde gewählt. Dem vierköpfigen Vollzugsrat der neuen Räterepublik gehörten
jetzt die drei Kommunisten Eugen Leviné, Max Levin und Paul Fröhlich an.

Zur Verteidigung der Räterepublik trat die Münchner Arbeiterschaft vom 14.
bis zum 22. April in einen zehntägigen Generalstreik. Der 23jährige Rudolf
Egelhofer wurde Stadtkommandant von München und Oberkommandierender einer
eilig aufgestellten bayerischen Roten Armee aus rund 10 000
Freiwilligen. »Sämtliche Bürger haben binnen zwölf Stunden jede Art von
Waffen in der Stadtkommandantur abzuliefern. Wer innerhalb dieser Zeit die
Waffe nicht abgegeben hat, wird erschossen«, hieß es in einem Aufruf der
roten Matrosen. Am nächsten Morgen konnten Lastwagen die Waffen auf den
Straßen einsammeln.

Die Räteregierung arbeitete auf der Grundlage eines kommunistischen
Programms. Betriebsräte übernahmen die Stadtverwaltung und requirierten
Lebensmittel. Die Banken wurden dem Rätestaat unterstellt, in den Safes
liegende Gelder beschlagnahmt und jede Abhebung kontrolliert. In den meisten
Betrieben übten Betriebsräte die Kontrolle über Produktion und Finanzen aus.
Die bürgerliche Presse, die im restlichen Bayern die schlimmsten Lügen über
die Räterepublik verbreitete, blieb verboten.

Die Regierung Hoffmann hetzte die Landbevölkerung gegen die »Diktatur der
Russen und Juden« in der Stadt auf, die angeblich die Frauen zu
Gemeineigentum erklärt hätten. Die Bauern begannen nun eine Hungerblockade
gegen die Münchner Räterepublik. Jetzt rächte es sich, daß die Münchner
Revolutionäre die Notwendigkeit eines Bündnisses mit den Bauern im Agrarland
Bayern unterschätzt hatten.

In Dachau gelang es der Roten Armee am 15. April noch, ein Vorauskommando
der Weißgardisten zurückzuschlagen. Da bayerische und württembergische
Freikorpsverbände nicht ausreichten und reguläre bayerische Truppen nicht
bereit waren, gegen die Räterepublik zu kämpfen, forderte die
Hoffmann-Regierung bei Reichswehrminister Gustav Noske Verstärkung an. Bis
Ende April schlossen 60 000 Freikorpsmänner unter General v. Oven den
Belagerungsring um München. Darunter waren spätere Naziführer wie Ernst
Röhm, Heinrich Himmler und Rudolf Heß. Die Soldaten der Brigade Erhardt
trugen schon damals das Hakenkreuz am Helm.

Am letzten Tag des Generalstreiks, dem 22. April, marschierten noch einmal
15 000 bewaffnete Arbeiter durch München. Doch je näher die weißen Truppen
rückten, desto mehr gerieten die Unabhängigen Sozialdemokraten in Panik.
Erfolglos versuchten sie, die Regierung Hoffmann in Bamberg zu Verhandlungen
zu bewegen. Auch Ernst Toller stimmte nun in den bürgerlichen Chor ein und
diffamierte die Kommunisten als »landfremde Elemente«. Als die Mehrheit im
Aktionsausschuß am 27. April die Bildung einer »bodenständigen Regierung«
aus »echten Bayern« beschloß, erklärten Leviné und die anderen KPD-Vertreter
ihren Austritt. Egelhofer blieb auf seinem Posten als Kommandant der Roten
Armee.

Nachdem Nachrichten über Massaker der Freikorps im Münchner Umland bekannt
wurden, ließ ein Rotarmist am 30. April im Luitpoldgymnasium eigenmächtig
acht gefangene Mitglieder der Thulegesellschaft, einer Vorläuferorganisation
der Nazipartei, und zwei Freikorpssöldner hinrichten. Bis heute gelten diese
Morde in vielen Geschichtsbüchern als Beweis für den »roten Terror« in
München.

Während sich am 1. Mai 1919 die sozialdemokratischen Arbeiter unbewaffnet
zur Maifeier versammelten, drangen die ersten Freikorps in die Stadt ein.
Noch bis zum 3. Mai leisteten Einheiten der Roten Armee erbitterten
Widerstand. In den Arbeitervierteln Giesing, Sendling und rund um den
Schlachthof wüteten die Freikorps besonders grausam. Es galt das Standrecht.
Ohne jede gesetzliche Grundlage und ohne Aktenführung tagten in Wirtshäusern
wilde Freigerichte, in denen ein Leutnant oder Unteroffizier zum Richter
über Leben und Tod wurde. Die Todesstrafe wurde unmittelbar nach ihrer
Verhängung vollstreckt. So erschossen Freikorpsmänner am 2. Mai Rudolf
Egelhofer. Gustav Landauer wurde im Gefängnis Stadelheim von einem Offizier
mit der Reitpeitsche halb totgeschlagen und anschließend erschossen. Ein
Wachtmeister trampelte noch auf den Sterbenden herum. »Hier wird aus
Spartakistenblut Blut- und Leberwurst gemacht«, hieß eine Parole auf der
Gefängnismauer.

Aufgrund willkürlicher Denunziationen wurden Hunderte verhaftet oder gleich
erschossen. Ein Perlacher Pfarrer denunzierte zwölf Arbeiter, weil sie keine
fleißigen Kirchgänger waren. Sie wurden vom Freikorps Lützow erschossen und
ausgeraubt. Als Denunziant tat sich auch der Gefreite der Infanterie Adolf
Hitler hervor. Während der Revolution hatte er sich feige versteckt. Nun
lieferte Hitler Regimentskameraden ans Messer, die mit der Räterepublik
sympathisiert hatten. Viele der Gemordeten tauchten später in den amtlichen
Statistiken als »tödlich verunglückt« auf. Erst nachdem am 6. Mai aus
Regierungstruppen gebildete Freikorps 21 Mitglieder des katholischen
Gesellenvereins St. Joseph in einem Keller am Karolinenplatz als
vermeintliche »Spartakisten« abschlachteten, hob die Regierung das
Standrecht wieder auf. Während die Regierungstruppen 38 Gefallene meldeten,
waren weit über
1 000 Arbeiter dem Wüten der Freikorps zum Opfer gefallen, darunter auch 52
russische Kriegsgefangene, die in einer Kiesgrube bei Gräfelfing erschossen
wurden. »Für die umsichtige erfolgreiche Leitung der Operation in München
spreche ich Ihnen meine volle Anerkennung aus und der Truppe herzlichen Dank
für ihre Leistung«, telegraphierte der sozialdemokratische
Reichswehrminister Gustav Noske nach dem Ende der Schlächtereien an General
von Oven.

In den folgenden Monaten verurteilten Volksgerichte 2 209 Räterepublikaner,
darunter Erich Mühsam und Ernst Toller, zu langjährigen Haftstrafen. Im Juni
1919 wurde Eugen Leviné zum Tode verurteilt. »Wir Kommunisten sind alle Tote
auf Urlaub«, erklärte der kommunistische Führer der Münchner Räterepublik in
seiner Verteidigungsrede. Mit dem Ruf »Es lebe die Weltrevolution!« starb er
6. Juni 1919 unter den Kugeln eines Exekutionskommandos im Gefängnis
München-Stadelheim.

17.04.2004   junge Welt Wochenendbeilage
Von Nick Brauns

 »Tote auf Urlaub«   Die Münchner Räterepublik vor 85 Jahren

Viele Münchner wollten am Morgen des 7. April 1919 ihren Augen nicht
trauen. »Die Entscheidung ist gefallen«, verkündeten Plakate in der ganzen
Stadt. »Baiern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines
Geschicks.« So war es vom Zentralrat der bayerischen Arbeiter-, Soldaten-
und Bauernräte während einer nächtlichen Sitzung im ehemaligen Schlafzimmer
der Königin von Bayern beschlossen worden. Dieser Zentralrat, der sich aus
Vertretern der SPD, USPD, KPD sowie Volksräten der Arbeiter, Bauern- und
Soldatenräte zusammensetzte, war nach der am 21. Februar erfolgten Ermordung
des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und den am selben Tag im
Landtag abgegebenen Schüssen eines anarchistischen Arbeiters gebildet
worden, um das entstandene Machtvakuum zu füllen.

Nach der Errichtung der ungarischen Räterepublik am 21. März war auch in
Bayern der Ruf nach Räteherrschaft lauter geworden. Mit einem Generalstreik
versuchten die Augsburger Arbeiter am
4. April, den Zentralrat zur Ausrufung einer bayerischen Räterepublik zu
drängen. Am folgenden Tag versicherten die Münchner Kasernenräte, daß ihre
Sympathien auf der Seite der Arbeiter lägen, und der monarchistische
Standortkommandeur erklärte den Landtag für nicht schützenswert. Die Mitte
März gebildete sozialdemokratische Landesregierung von Ministerpräsident
Hoffmann flüchtete daraufhin nach Bamberg.

Ausgerechnet rechte Sozialdemokraten wie Stadtkommandant Oskar Dürr und
Militärminister Ernst Schneppenhorst gehörten nun zu den entschiedensten
Verfechtern einer Räterepublik. Beide hatten in den Wochen zuvor noch
militärische Gewalt gegen die Räte angedroht. Jetzt sahen sie die Chance zur
Kompromittierung des Rätegedankens, wenn sie aktiv zur verfrühten Ausrufung
einer »Räterepublik« drängten. Während sich die Anarchisten Gustav Landauer
und Erich Mühsam sowie die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) um ihren
Vorsitzenden Ernst Toller bedenkenlos mit den plötzlich gewendeten
Mehrheitssozialdemokraten auf die Ausrufung der Räterepublik einigten,
verweigerte die KPD jegliche Unterstützung für dieses Unternehmen.

Die KPD-Zentrale hatte Eugen Leviné, einen erfahrenen Mitkämpfer Karl
Liebknechts und Rosa Luxemburgs, zur Unterstützung der Münchner Genossen
geschickt. Als Chefredakteur der Münchner Roten Fahne warnte Leviné: »Das
Ganze scheint mehr eine Provokation der SPD zu sein. Sie sehen, daß unser
Einfluß von Tag zu Tag größer wird, und versuchen nun, künstlich von oben
eine Räterepublik einzusetzen, die keinen genügenden Unterbau hat und leicht
zu zerschmettern und vor den Massen zu diskreditieren ist. Das gäbe ihnen
auch den gewünschten Anlaß, ihre Truppen in München einmarschieren zu
lassen.« Prophetisch erkannte er: »Nach dem ersten Rausch würde folgendes
eintreten: Die Mehrheitssozialisten würden sich unter dem ersten besten
Vorwand zurückziehen und das Proletariat bewußt verraten. Die USPD würde
mitmachen, dann umfallen, anfangen zu verhandeln und dadurch zum unbewußten
Verräter werden. Und wir Kommunisten würden mit dem Blut unserer Besten eure
Tat bezahlen.«

In Nürnberg sprach sich eine Mehrheit gegen die Räterepublik aus, in anderen
bayerischen Städten entstanden kurzlebige Räterepubliken, die meist schon
nach wenigen Tagen zerfielen oder gestürzt wurden. Die Münchner
Räteregierung wurde von Idealisten ohne praktische politische Erfahrung
gebildet. Staatsoberhaupt war als Präsident des Zentralrates der
Schriftsteller Ernst Toller. Für den Philosophen Gustav Landauer als
Volksbeauftragten für Volksaufklärung stand die Verbreitung atheistischer
Propaganda im katholischen Bayern im Vordergrund. Der Volksbeauftragte für
das Äußere, ein gewisser Dr. Lipp, stellte sich nach wenigen Tagen als
geisteskrank heraus. Zuvor beklagte er sich in einem Telegramm an Lenin
noch: »Bamberg Sitz des Flüchtlings Hoffmann, welcher aus meinem Ministerium
den Abortschlüssel mitgenommen hat.« Für die Finanzen verantwortlich war der
Erfinder der Freigeldlehre, Silvio Gesell, dessen wirre Theorien von der
Abschaffung des »kapitalistischen Geldes« als »Dritter Weg« zwischen
Kapitalismus und Kommunismus bis heute von Anarchisten und Rechtsextremen
nachgebetet werden.

Der Sozialdemokrat Schneppenhorst, der zuvor am entschiedensten auf die
Ausrufung der Räterepublik gedrängt hatte, setzte sich ab, um als
Militärminister der Regierung Hoffmann die militärische Niederschlagung
der »Räterepublik« vorzubereiten.

Die revolutionärste Änderung unter der »Rätemacht« war die Schreibweise
Baierns mit einem »i« statt einem »y«. Die Münchner Rote Fahne
höhnte: »Alles wie sonst. In den Betrieben schuften und fronen die
Proletarier nach wie vor zugunsten des Kapitals. In den Ämtern sitzen nach
wie vor die königlichen Wittelsbacher Beamten. An den Straße die alten Hüter
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Schutzmannssäbel. Kein
bewaffneter Arbeiter zu erblicken. Keine roten Fahnen. Keine Besetzung der
Machtpositionen der Bourgeoisie ...«

Unter Levinés Leitung begann die Partei systematisch mit dem Aufbau von
Parteizellen in Betrieben und Kasernen. »Gewiß, wir stehen auf dem Boden des
Rätesystems, aber wir haben die Voraussetzungen erst noch zu schaffen, die
dieses System gewährleisten. Wir haben Arbeiterräte zu bilden aus den
Betriebsräten der beschäftigten Arbeiterschaft und der Fülle der
Arbeitslosen« umriß Leviné die nächsten Aufgaben der Kommunisten. Zunehmend
gerieten diese wegen ihrer Weigerung, der Räteregierung beizutreten, unter
Druck der revolutionären Arbeiter. Gestützt auf ihre Obleute in den
Betrieben und Kasernen erklärte die KPD schließlich ihre Bereitschaft, dem
Zentralrat in beratender Funktion zu unterstützen.

Die »Scheinräterepublik« existierte nur knapp eine Woche. Am Palmsonntag den
13. April besetzten Mitglieder der SPD-nahen Republikanischen Schutztruppe
im Auftrag der Hoffmann-Regierung Regierungsgebäude sowie den Bahnhof und
verhafteten zwölf Mitglieder der Räteregierung, darunter Erich Mühsam und
Dr. Lipp. Unter der Führung des kommunistischen Matrosen Rudolf Egelhofer
gelang es bewaffneten Arbeitern, die Gegenrevolutionäre in die Flucht zu
treiben.

»Die bayerische Räterepublik entstand nicht, wie wir es für notwendig
halten, aus dem Willen und der Einsicht der Proletariermassen heraus. Sie
entstand, weil einige abhängige und unabhängige Sozialdemokaten sich in eine
Sackgasse verrannt hatten, aus der sie keinen Ausweg wußten als die
Ausrufung der Räterepublik«, hieß es in einem Aufruf der Zentrale der
KPD. »Aber einmal da, müssen die Massen ernst machen. Einmal das Schwert
gezogen, müssen die Massen es am Knaufe fassen, da es die Führer an der
Klinge fassen wollen. Einmal an der Macht, müssen die Proletariermassen sie
ausgestalten und sie gebrauchen in ihrem Sinne.« Daher waren die Kommunisten
nun bereit, an der Seite der Arbeiter für eine wirkliche kommunistische
Räterepublik zu kämpfen.

Noch während am Bahnhof geschossen wurde, tagten im Hofbräuhaus die
Betriebs- und Kasernenräte. Ein fünfzehnköpfiger Aktionsausschuß der
Arbeiter- und Soldatenräte aus Vertretern der SPD, der USPD und der KPD
wurde gewählt. Dem vierköpfigen Vollzugsrat der neuen Räterepublik gehörten
jetzt die drei Kommunisten Eugen Leviné, Max Levin und Paul Fröhlich an.

Zur Verteidigung der Räterepublik trat die Münchner Arbeiterschaft vom 14.
bis zum 22. April in einen zehntägigen Generalstreik. Der 23jährige Rudolf
Egelhofer wurde Stadtkommandant von München und Oberkommandierender einer
eilig aufgestellten bayerischen Roten Armee aus rund 10 000
Freiwilligen. »Sämtliche Bürger haben binnen zwölf Stunden jede Art von
Waffen in der Stadtkommandantur abzuliefern. Wer innerhalb dieser Zeit die
Waffe nicht abgegeben hat, wird erschossen«, hieß es in einem Aufruf der
roten Matrosen. Am nächsten Morgen konnten Lastwagen die Waffen auf den
Straßen einsammeln.

Die Räteregierung arbeitete auf der Grundlage eines kommunistischen
Programms. Betriebsräte übernahmen die Stadtverwaltung und requirierten
Lebensmittel. Die Banken wurden dem Rätestaat unterstellt, in den Safes
liegende Gelder beschlagnahmt und jede Abhebung kontrolliert. In den meisten
Betrieben übten Betriebsräte die Kontrolle über Produktion und Finanzen aus.
Die bürgerliche Presse, die im restlichen Bayern die schlimmsten Lügen über
die Räterepublik verbreitete, blieb verboten.

Die Regierung Hoffmann hetzte die Landbevölkerung gegen die »Diktatur der
Russen und Juden« in der Stadt auf, die angeblich die Frauen zu
Gemeineigentum erklärt hätten. Die Bauern begannen nun eine Hungerblockade
gegen die Münchner Räterepublik. Jetzt rächte es sich, daß die Münchner
Revolutionäre die Notwendigkeit eines Bündnisses mit den Bauern im Agrarland
Bayern unterschätzt hatten.

In Dachau gelang es der Roten Armee am 15. April noch, ein Vorauskommando
der Weißgardisten zurückzuschlagen. Da bayerische und württembergische
Freikorpsverbände nicht ausreichten und reguläre bayerische Truppen nicht
bereit waren, gegen die Räterepublik zu kämpfen, forderte die
Hoffmann-Regierung bei Reichswehrminister Gustav Noske Verstärkung an. Bis
Ende April schlossen 60 000 Freikorpsmänner unter General v. Oven den
Belagerungsring um München. Darunter waren spätere Naziführer wie Ernst
Röhm, Heinrich Himmler und Rudolf Heß. Die Soldaten der Brigade Erhardt
trugen schon damals das Hakenkreuz am Helm.

Am letzten Tag des Generalstreiks, dem 22. April, marschierten noch einmal
15 000 bewaffnete Arbeiter durch München. Doch je näher die weißen Truppen
rückten, desto mehr gerieten die Unabhängigen Sozialdemokraten in Panik.
Erfolglos versuchten sie, die Regierung Hoffmann in Bamberg zu Verhandlungen
zu bewegen. Auch Ernst Toller stimmte nun in den bürgerlichen Chor ein und
diffamierte die Kommunisten als »landfremde Elemente«. Als die Mehrheit im
Aktionsausschuß am 27. April die Bildung einer »bodenständigen Regierung«
aus »echten Bayern« beschloß, erklärten Leviné und die anderen KPD-Vertreter
ihren Austritt. Egelhofer blieb auf seinem Posten als Kommandant der Roten
Armee.

Nachdem Nachrichten über Massaker der Freikorps im Münchner Umland bekannt
wurden, ließ ein Rotarmist am 30. April im Luitpoldgymnasium eigenmächtig
acht gefangene Mitglieder der Thulegesellschaft, einer Vorläuferorganisation
der Nazipartei, und zwei Freikorpssöldner hinrichten. Bis heute gelten diese
Morde in vielen Geschichtsbüchern als Beweis für den »roten Terror« in
München.

Während sich am 1. Mai 1919 die sozialdemokratischen Arbeiter unbewaffnet
zur Maifeier versammelten, drangen die ersten Freikorps in die Stadt ein.
Noch bis zum 3. Mai leisteten Einheiten der Roten Armee erbitterten
Widerstand. In den Arbeitervierteln Giesing, Sendling und rund um den
Schlachthof wüteten die Freikorps besonders grausam. Es galt das Standrecht.
Ohne jede gesetzliche Grundlage und ohne Aktenführung tagten in Wirtshäusern
wilde Freigerichte, in denen ein Leutnant oder Unteroffizier zum Richter
über Leben und Tod wurde. Die Todesstrafe wurde unmittelbar nach ihrer
Verhängung vollstreckt. So erschossen Freikorpsmänner am 2. Mai Rudolf
Egelhofer. Gustav Landauer wurde im Gefängnis Stadelheim von einem Offizier
mit der Reitpeitsche halb totgeschlagen und anschließend erschossen. Ein
Wachtmeister trampelte noch auf den Sterbenden herum. »Hier wird aus
Spartakistenblut Blut- und Leberwurst gemacht«, hieß eine Parole auf der
Gefängnismauer.

Aufgrund willkürlicher Denunziationen wurden Hunderte verhaftet oder gleich
erschossen. Ein Perlacher Pfarrer denunzierte zwölf Arbeiter, weil sie keine
fleißigen Kirchgänger waren. Sie wurden vom Freikorps Lützow erschossen und
ausgeraubt. Als Denunziant tat sich auch der Gefreite der Infanterie Adolf
Hitler hervor. Während der Revolution hatte er sich feige versteckt. Nun
lieferte Hitler Regimentskameraden ans Messer, die mit der Räterepublik
sympathisiert hatten. Viele der Gemordeten tauchten später in den amtlichen
Statistiken als »tödlich verunglückt« auf. Erst nachdem am 6. Mai aus
Regierungstruppen gebildete Freikorps 21 Mitglieder des katholischen
Gesellenvereins St. Joseph in einem Keller am Karolinenplatz als
vermeintliche »Spartakisten« abschlachteten, hob die Regierung das
Standrecht wieder auf. Während die Regierungstruppen 38 Gefallene meldeten,
waren weit über
1 000 Arbeiter dem Wüten der Freikorps zum Opfer gefallen, darunter auch 52
russische Kriegsgefangene, die in einer Kiesgrube bei Gräfelfing erschossen
wurden. »Für die umsichtige erfolgreiche Leitung der Operation in München
spreche ich Ihnen meine volle Anerkennung aus und der Truppe herzlichen Dank
für ihre Leistung«, telegraphierte der sozialdemokratische
Reichswehrminister Gustav Noske nach dem Ende der Schlächtereien an General
von Oven.

In den folgenden Monaten verurteilten Volksgerichte 2 209 Räterepublikaner,
darunter Erich Mühsam und Ernst Toller, zu langjährigen Haftstrafen. Im Juni
1919 wurde Eugen Leviné zum Tode verurteilt. »Wir Kommunisten sind alle Tote
auf Urlaub«, erklärte der kommunistische Führer der Münchner Räterepublik in
seiner Verteidigungsrede. Mit dem Ruf »Es lebe die Weltrevolution!« starb er
6. Juni 1919 unter den Kugeln eines Exekutionskommandos im Gefängnis
München-Stadelheim.

 

Nick Brauns