Bismarcks Sturz  

 

Auftakt für den »Neuen Kurs« einer imperialen Politik:

Vom Ende des Sozialistengesetzes zur Entlassung des »Eisernen Kanzlers« am 20. März 1890

 

„Der Lotse verläßt das Schiff“, hieß es in der englischen Presse, als Otto von Bismarck nach 28 Dienstjahren am 20. März 1890 seine Entlassung entgegennahm. Zwischen dem jungen Kaiser Wilhelm II. und seinem Kanzler war es zu einer tiefen Entfremdung gekommen. Der seit 1888 regierende Wilhelm II. wollte die Staatsgeschäfte nicht mehr dem Kanzler überlassen und verlangte von Bismarck über dessen Gespräche mit Abgeordneten informiert zu werden. Als Bismarck dieses Ansinnen unter Verweis auf eine fast 40 Jahre alte Kabinettsorder zurückwies, holte der Kaiser ihn am 15. März aus dem Bett und stellte ihn zur Rede. Bismarck erwiderte, er lasse seinen Verkehr mit Abgeordneten keiner Aufsicht unterwerfen. „Auch nicht, wenn ich es Ihnen als Ihr Souverän befehle“, fragte Wilhelm II. „Der Befehl meines Kaiser endet am Salon meiner Frau“, wies ihn Bismarck ab. Drei Tage später legte er sein Abschiedsgesuch vor. Sein Nachfolger wurde der General der Infanterie Leo von Caprivi. „Die Modalitäten, unter denen ich das Reichskanzlerpalais räumen mußte, waren für mich und meine Familie ungemein beleidigend“, schilderte Bismarck. „Wir wurden wie Hausdiebe auf die Straße gesetzt und haben beim überhasteten Bergen unserer Sachen vielerlei Eigentum verloren.“

 

Bürgerliche Historiker sehen im persönlichen Bestreben des Kaisers, den Kanzler loszuwerden, den Hauptgrund für Bismarcks Sturz. Sachliche Gegensätze wären nur vorgeschoben, schreibt Wilhelm Mommsen in seiner 1966 erschienen Bismarck-Biographie. Dagegen bemerkte August Bebel am 18. März 1890 in der Wiener Arbeiter-Zeitung: „Daß der Fall Bismarcks und der Fall der Sozialistengesetze zeitlich zusammentreffen und in engster Wechselwirkung zueinander stehen, ist ein ganz besonderer Triumph für unsere Partei.“ Mit dem von Bismarck im Oktober 1878 erlassenen „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ war jede sozialdemokratische Betätigung außerhalb der Reichstagsfraktion illegalisiert worden. Rund 1350 Zeitungen und Druckschriften wurden verboten, 900 Sozialdemokraten aus ihren Wohnorten verbannt und Unzählige zu Gefängnis- oder Geldstrafen verurteilt. Doch die Sozialdemokratie wuchs in der Illegalität zur Massenbewegung, ihre Mitglieder tarnten sich als Sport- oder Gesangsvereine, sie gründeten Unterstützungskassen für die Verbannten und der „rote Feldpostmeister“ Julius Motteler organisierte den Vertrieb der Parteipresse im Untergrund.

 

Vier Mal wurde das Sozialistengesetz verlängert. Mit der Einführung der Sozialversicherung hoffte Bismarck, die Arbeiter dennoch an den Staat zu binden. Doch das Scheitern dieser Politik von Zuckerbrot und Peitsche wurde während des großen Bergarbeiterstreiks vom Mai 1889 deutlich, als der Kaiser sich bereit erklärte, eine Arbeiterdelegation zu empfangen. „Wir stehen nicht als die Besiegten vor Ihnen; wir haben einen elfjährigen Kampf gegen Sie geführt, und in diesem Kampf sind wir Sieger geblieben“, rühmte sich der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Liebknecht während der Reichstagsdebatte über eine Verlängerung des Sozialistengesetzes. Während der Kanzler das Gesetz noch verschärfen wollte, lehnten erstmals auch die großbürgerlichen Nationalliberalen die Gesetzesvorlage aufgrund des darin enthaltenen Ausweisungsparagraphen ab und plädierten für einen flexibleren Umgang mit der Arbeiterfrage. Das Parteienkartell aus Konservativen und Nationalliberalen als Garant von Bismarcks Politik war zerbrochen. Am 25. Januar stimmten die Abgeordneten mehrheitlich gegen eine Verlängerung des Sozialistengesetzes, das am 30. September auslief.

 

Während der Kaiser mit der Ankündigung von Arbeiterschutzgesetzen das Proletariat für seine Politik zu gewinnen suchte, arbeitete Bismarck darauf hin, die „Arbeiterfrage“ mit einem Staatsstreich blutig zu lösen. Doch die Sozialdemokratie ließ sich nicht provozieren.

 

Mit der Reichstagswahl vom 20. Februar 1890 zeigte sich das ganze Ausmaß von Bismarcks Niederlage. Die junkerlich-großbürgerlichen Parteien konnten mit 135 Abgeordneten nur noch ein Drittel der Mandate besetzten, während die Sozialdemokratie mit 1,4 Millionen Stimmen und 19,7 % zur stärksten Partei geworden war. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts durfte sie nur 35 Abgeordnete entsenden. „Der 20. Februar 1890 ist der Tag des Beginns der deutschen Revolution “, schrieb Friedrich Engels, „Die alte Stabilität ist für immer dahin. Diese Stabilität beruhte auf dem Aberglauben, daß das Triumvirat Bismarck, Moltke, Wilhelm unbesiegbar und allweise sei.“

 

Durch die Herausbildung der Sozialdemokratie als Massenpartei der Arbeiterklasse hatte sich der Bonapartismus als Regierungssystem überlebt. Doch auch außenpolitisch war Bismarck in die Kritik geraten. Seit der Reichsgründung stand die Sicherung der Grenzen und die Vermeidung eines Zweifrontenkrieges mit Frankreich und Rußland im Mittelpunkt seiner Politik. Krönung seines Bündnissystems war der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag, der Rußlands im Falle eines deutsch-französischen Krieges ebenso zur Neutralität verpflichtete, wie Deutschland bei einem russisch-österreichischen Krieg.

 

Koloniale Expansion lehnte Bismarck ab. Doch der 1887 einsetzende Wirtschaftsaufschwung wurde von der Bildung von Kartellen und Monopolen begleitet, die nach außereuropäischen Erwerbungen trachteten. Nur wiederwillig akzeptierte Bismarck 1888 den Kauf von Konzessionen für die Anatolische Eisenbahn durch die Deutsche Bank. Die expansionspolitische Enthaltsamkeit des Kanzlers entsprach nicht mehr den Bedürfnissen der Monopolverbände beim Übergang in das Stadium des Imperialismus.

 

Unter dem persönlichen Regiment Kaiser Wilhelms II. trat das Deutsche Reich ein in den Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte, Interessenzonen und Kolonien. Neue außenpolitische Gegensätze mit den anderen Großmächten wurden unvermeidbar. Generalfeldmarschall von Waldersee und die Diplomaten Außenstaatssekretär Marschall von Bieberstein und Legationsrat Friedrich von Holstein beeinflußten den Kaiser in dem Glauben, daß ein Zweifrontenkrieg gegen Rußland und Frankreich unvermeidbar sei. Der eine Woche nach Bismarcks Sturz getroffene Beschluß, den deutsch-russischen Rückversicherungsvertrag nicht zu verlängern, wurde zum Signal für den „Neuen Kurs“ einer imperialen Politik, die geradewegs zum Ersten Weltkrieg führte.

 

Nick Brauns

 

 

 

Quellentext: Aus dem Entlassungsgesuch des Fürsten Bismarck an Kaiser Wilhelm II.


Eure Majestät geruhten außerdem bei meinem ehrfurchtsvollen Vortrage vom 15. d. M. mir bezüglich der Ausdehnung meiner dienstlichen Berechtigungen Grenzen zu ziehen, welche mir nicht das Maß der Beteiligung an den Staatsgeschäften, der Übersicht über letztere und der freien Bewegungen in meinen ministeriellen Entschließungen und in meinem Verkehr mit dem Reichstage und seinen Mitgliedern lassen, deren ich zur Übernahme der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit für meine amtliche Tätigkeit bedarf. Aber auch, wenn es tunlich wäre, unsere auswärtige Politik [...] unabhängig von der preußischen zu betreiben, so würde ich doch nach den jüngsten Entscheidungen Eurer Majestät über die Richtung unserer auswärtigen Politik, wie sie in dem Allerhöchsten Handschreiben zusammengefaßt sind [...] in der Unmöglichkeit sein, die Ausführung der darin vorgeschriebenen Anordnungen bezüglich der auswärtigen Politik zu übernehmen. Ich würde damit alle für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten im Sinne der beiden hochseligen Vorgänger Eurer Majestät in unseren Beziehungen zu [Rußland] unter ungünstigen Verhältnissen erlangt hat [...].


Es ist mir bei meiner Anhänglichkeit an den Dienst des Königlichen Hauses und an Eure Majestät und bei der langjährigen Einlebung in Verhältnisse, welche ich bisher für dauernd gehalten hatte, sehr schmerzlich, aus der gewohnten Beziehung zu Allerhöchstdenselben und zu der Gesamtpolitik des Reichs und Preußens auszuscheiden, aber nach gewissenhafter Erwägung der Allerhöchsten Intentionen, zu deren Ausführung ich bereit sein müßte, wenn ich im Dienst bliebe, kann ich nicht anders, als Eure Majestät alleruntertänigst bitten, mich aus dem Amt des Reichskanzlers, des Ministerpräsidenten und des Preußischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten in Gnade und mit der gesetzlichen Pension entlassen zu wollen.
Nach meinen Eindrücken in den letzten Wochen und nach den Eröffnungen, die ich gestern den Mitteilungen aus Euerer Majestät Zivil- und Militärkabinett entnommen habe, darf ich in Ehrfurcht annehmen, daß ich mit diesem meinem Entlassungsgesuch den Wünschen Euerer Majestät entgegenkomme und also auf eine huldreiche Bewilligung mit Sicherheit rechnen darf.



* Otto von Bismarck. Am Steuer des Reiches, Hg. Eugen Kalkschmidt, München und Leipzig 1908, 321 ff.