Junge Welt 21.02.2005 Feuilleton
»Verbannung ins Nichts«
Verdrängung des Völkermords an den Armeniern – Schwerpunktthema im Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung
Der verdrängte Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg« ist Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe des Bulletins für Faschismus- und Weltkriegsforschung. Die Untersuchung des Historikers Alexander Bahar schließt an eine Serie des Autors in der jungen Welt an.
Auch 90 Jahre nach der Ermordung von über einer Million Armeniern wird dieser
Genozid in der Türkei verschwiegen. So erklärte der türkische Schriftsteller
Orhan Pamuk, dessen neuestes Buch »Schnee« in der ehemals armenischen Stadt
Kars spielt, Anfang Februar in einem Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger:
»30000 Kurden und eine Million Armenier wurden in der Türkei getötet. Fast
niemand außer mir wagt es, darüber zu sprechen. Und die Nationalisten hassen
mich dafür.« Sofort war der Erfolgsautor heftigen Angriffen der türkischen Presse
ausgesetzt. Pamuks Äußerungen seien eine »große Lüge«, behauptete der Leiter
des Instituts für Armenische Studien beim türkischen Historikerverband, Hikmet
Ozdemir. „Bedeutet die Freiheit der Meinungsäußerung auch die Freiheit zum
Verrat“, fragte die Tageszeitung Vatan.
Das Jungtürken-Regime
Bahar verweist darauf, daß die Situation christlicher Minderheiten immer wieder
als Vorwand »humanitärer Interventionen« der Großmächte diente, die es auf die
Zerstückelung des Osmanischen Reiches abgesehen hatten. »Das Osmanische Reich
muß ausschließlich türkisch sein, die Existenz fremder Elemente bietet einen
Vorwand für europäische Interventionen. Diese Elemente müssen mit Waffengewalt
türkisiert werden.« Dieses Dogma des jungtürkischen Führers Mehmet Nazim wurde
in das Programm des jungtürkischen »Komitees für Einheit und Fortschritt«
aufgenommen, das nach dem Sturz des »blutigen Sultans« Abdulhamid II. im Jahr
1909 die Staatsmacht übernahm.
Ihr bürgerlicher Klassenstandpunkt brachte die Jungtürken in Gegensatz zu den
Bedürfnissen der Bauern, Arbeiter und unterdrückten Nationalitäten, schreibt
Bahar mit Bezug auf Leo Trotzkis Analyse der Balkankriege. »Das
Jungtürken-Regime – sowohl in seiner ursprünglichen Form unter dem Triumvirat
Enver, Talaat und Cemal als auch in seiner späteren Variante unter Kemal
›Atatürk‹ – unterschied sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderen
bürgerlich nationalistischen Regimes im 20. Jahrhundert.« Militärische
Niederlagen der osmanischen Armee sowie lokal beschränkte Versuche armenischer
Selbstverteidigung gaben der herrschenden Junta um Enver, Cemal und Talaat im
Frühjahr 1915 den Vorwand zur Realisierung ihres völkermörderischen Programms.
»Verbannung ins Nichts« nannte Innenminister Talaat die »kriegsbedingte
Umsiedlung« der armenischen Bevölkerung. Eine Spezialorganisation rekrutierte
Todesschwadronen aus kurdischen Stämmen und freigelassenen Schwerverbrechern.
Die Hälfte der Armenier kam durch Pogrome an ihren Siedlungsorten um, die
anderen wurden in Todeszügen in die mesopotamischen Wüsten deportiert, wo sie
vor Durst, Hunger und Hitze starben.
Ökonomische Interessen
Deutsche Offiziere, die seit 1913 im Rahmen einer Militärmission die Türkei als
Waffenbruder für den Weltkrieg aufrüsteten, gehörten zu den Mitwissern und
Gehilfen des Völkermordes. »Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner
Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich
niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Haß, der sich in
mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu
ihrer Ermordung führte«, erklärte der deutsche General Fritz Bronsart von
Schellendorf, Generalstabschef des osmanischen Feldheeres in Istanbul.
Wie der nazistische Völkermord an den Juden trage auch der Genozid an den
Armeniern Züge einer »zur Zwangsneurose gesteigerten Projektion«, meint Bahar.
Als geschlossene christliche Gruppe mit guten Kontakten nach Europa dienten die
jahrhundertelang diskriminierten Armenier als ein Feindbild par excellence.
Ökonomische Motive spielten eine entscheidende Rolle. So kontrollierten
Armenier neben anderen Minderheiten die für gläubige Muslime verbotenen
Bereiche Handel und Finanzen im Osmanischen Reich. Durch ihre Vernichtung
sollte der Markt für die entstehende türkische Bourgeoisie freigemacht werden.
Der Raub armenischen Eigentums diente der primären Akkumulation türkischen
Kapitals.
Um einer Bestrafung zu entgehen, flüchteten sich viele Verantwortliche für den
Völkermord nach der Kriegsniederlage in die Befreiungsarmee Mustafa Kemals. Die
Fragen der nationalen Unabhängigkeit und der Straffreiheit wurden so
miteinander vermengt. Per Beschluß der türkischen Nationalversammlung wurde
1922 der Raub armenischen Eigentums durch den türkischen Staat legitimiert.
»Die personelle und organisatorische Kontinuität der Vernichtungsmaschinerie
der Jungtürken (...) in Kemals Befreiungsarmee bildet die größte historische
Hypothek der heutigen Republik Türkei«, schreibt Bahar. Durch den Vormarsch des
Islamismus und die ungelöste Kurdenfrage werden die Kernelemente der
Staatsideologie des Kemalismus – Nationalismus und Säkularismus – zunehmend
untergraben und Teile der türkischen Bourgeoisie befürchten ein
Auseinanderbrechen des Landes. Hier liegt der Kern der staatlichen
Leugnungspolitik.
Aktuelle Ziele
Auch bei der Auseinandersetzung um die Anerkennung oder Nichtanerkennung des
Völkermords an den Armeniern müsse man fragen, dient sie tatsächlich der
Aufarbeitung der Vergangenheit oder aktuellen politischen Zielen, schreibt
Bahar und verweist auf den Konkurrenzkampf der westlichen Mächte um Einfluß in
der ölreichen Kaukasusregion. Während weit über ein Dutzend Parlamente,
darunter die der USA und die der EU-Mitglieder Frankreich, Griechenland und
Belgien, den Genozid an den Armeniern als Völkermord im Sinne der UN-Konvention
von 1948 anerkannt haben, vermied der deutsche Bundestag jede verbindliche
Stellungnahme. Inzwischen bemühen CDU-Politiker die türkische Leugnung des
Genozids als Argument gegen einen EU-Beitritt der Türkei, während die
Grünen-Politikerin Angelika Beer im April 2004 auf einer Gedenkveranstaltung
für den Armeniergenozid Parallelen zur Lage der bosnischen Muslime und Albaner
im Kosovo zog, um die deutsche Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien
zu rechtfertigen.
Als zentrale Lehre aus der Tragödie des armenischen Volkes von den Pogromen des
19. Jahrhunderts über den Genozid im Ersten Weltkrieg bis zum Karabach-Konflikt
Ende des 20. Jahrhunderts fordert Bahar mit Verweis auf die
Nationalitätenpolitik der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki: Die nationale
Frage im Transkaukasus kann nur auf der Grundlage einer völkerübergreifenden
Föderation gelöst werden.
Die neue Ausgabe des Bulletins enthält außerdem die letzte Publikation des im
Sommer verstorbenen Militärhistorikers Hans Umbreit über Rommels Stellung in
der Historiographie, einen Artikel von Gerhart Hass über kulturelle
»Gleichschaltung« nach 1933, einen umfangreichen Rezensionsteil und
Tagungsberichte. Die Sparten Dokumente bzw. Miszellen behandeln erneut den
Umgang der Berliner Humboldt-Universität mit dem »Generalplan Ost«, den Streit
um das von den USA beschlagnahmte Gold ungarischer Juden sowie die Zukunft der
Stiftung Topographie des Terrors.
Nick Brauns
* Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Heft 24, 2005. 10 Euro. ISSN 1434-5781. Versand@Argument.de. Tel. 030/6113983; Fax: 030/6114270
Quellentext:
Kleine Anfrage des Abgeordneten Karl Liebknecht (USPD) im Deutschen Reichstag
11.Januar 1916
Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist. Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Greuel zu verhindern?
Präsident: Zur Beantwortung der Anfrage hat das Wort der Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amte, Kaiserliche Gesandte Herr Dr. von Stumm:
Von Stumm, Kaiserlicher Gesandter, Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Kommissar des Bundesrats: Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, daß die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahme findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden.
Liebknecht: Ich bitte ums Wort zur Ergänzung der Anfrage! (Heiterkeit.)
Präsident: Zur Ergänzung der Anfrage hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Liebknecht.
Liebknecht: Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen – (Glocke des Präsidenten. Redner versucht weiterzusprechen. – Rufe: „Ruhe! Ruhe!“)
Präsident: Herr Abgeordneter, das ist eine neue Anfrage, die ich nicht zulassen kann.
Liebknecht: Herr Präsident, zur Geschäftsordnung!
Präsident: Bitte, zur Geschäftsordnung.
Liebknecht: Ehe der Herr Präsident noch die Anfrage zu Ende gehört hat, wird er nicht in der Lage sein, zu beurteilen (Heiterkeit), ob es sich um eine neue Anfrage handelt oder nicht. Im übrigen hebe ich hervor, daß der Herr Präsident nicht aus eigenem Antrieb zu der Auffassung, daß eine neue Anfrage vorliegt, gelangte, sondern ihm aus dem Hause erst zugerufen wurde.
Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, diese Kritik meiner Geschäftsführung muß ich mir verbitten (Lebhaftes „Bravo!“).
(Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften Band VIII, Berlin 1974, S. 438f.)