Wogen im Teeglas geglättet
Mit Tee und Kuchen hat Bundesaußenminister Sigmar Gabriel am Wochenende
seinen „Freund“, den türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu,
in seiner Heimatstadt Goslar bewirtet.
NICK BRAUNS
Von einem „Neustart“
der deutsch-türkischen Beziehungen, wie in den Medien zu lesen war, kann
allerdings nicht die Rede sein. Gekittet wurden vielmehr oberflächliche Risse
in der ansonsten seit 150 Jahren bestehenden Waffenbrüderschaft der deutschen
und türkischen herrschenden Klassen.
Denn den von Çavuşoğlu benannten „Differenzen“, „Problemen“,
„Spannungen“ und „Eskalationen“ lagen keine tieferen
ökonomischen oder politischen Ursachen im deutsch-türkischen Verhältnis
zugrunde. Vielmehr waren sie das Resultat einer vom türkischen Präsidenten nach
dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 und im Vorfeld des Referendums über die
Einführung einer Präsidialdiktatur aus innenpolitischen Motiven
vorangetriebenen Eskalation zur Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft durch
Polarisierung und die Projizierung innerer und äußerer Feindbilder.
Versöhnliche Signale
nach Ankara
Das war auch der
Bundesregierung bewusst, die auf Erdoğans
Nazi-Beschimpfungen gegenüber Bundeskanzlerin Merkel mit einem erstaunten
Schulterzucken reagiert hatte. Lediglich auf die Geiselnahme deutscher
Journalisten und Menschenrechtsaktivisten folgten leicht verschärfte
Reisewarnungen und die Zurückhaltung einiger Waffenlieferungen. Weitergehende
Drohungen der deutschen Regierungsparteien gegenüber Ankara entpuppten sich
schnell als substanzloses Wahlkampfgetöse. Dagegen sandte die Bundesregierung
mit einer Verschärfung des nun auch auf die Symbole der syrisch-kurdischen
Verbände YPG/YPJ und PYD ausgeweiteten PKK-Verbots und Einschränkungen des Demonstrationsrechts
für Kurden ein versöhnliches Signal an Ankara.
Versuch der
Frontbegradigung
Dort kam die Botschaft
an. Denn aufgrund eines chronischen Minus in der Leistungsbilanz ist die Türkei
extrem abhängig von ausländischem Kapital. Ein Einbruch der Lira, eine
Inflationsrate um die zwölf Prozent und der Anstieg der Verbraucherpreise
lassen den Boden für Erdoğan vor den anstehenden
Wahlen im kommenden Jahr zunehmend schlüpfrig erscheinen. Das jetzige Einlenken
Ankaras gegenüber Berlin muss angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage
der Türkei als Versuch der Frontbegradigung verstanden werden.
Erdoğan erscheint alternativlos
Erdoğan ist sicherlich nicht der Wunschkandidat der Bundesregierung auf dem
Präsidentensessel in Ankara, aber das AKP-Regime erscheint momentan
alternativlos. Für Irritationen in Berlin sorgen die Unberechenbarkeit Erdoğans einschließlich seiner temporären Hinwendung
zu Russland und insbesondere seine polarisierende Politik, die die Türkei an
den Rand des Bürgerkriegs treibt. Denn damit steht die Stabilität der Türkei
als Markt, Investitions- und Produktionsstandort von rund 6000 deutschen
Unternehmen, als Energietransferland und militärisches Sprungbrett des Westens
in den Nahen Osten auf dem Spiel.
Nicht der Krieg gegen
die Kurden bereitet der Bundesregierung Sorgen
Nicht Erdoğans diktatorische Anwandlungen, sondern im Gegenteil
die wachsende Unfähigkeit der AKP, ihre Hegemonie auch auf die andere Hälfte
der Bevölkerung auszudehnen, erscheint als Hindernis für die wirtschaftlichen,
politischen und geopolitischen Interessen des deutschen Kapitals in der Türkei.
Und nicht der Krieg gegen die Kurden, sondern vielmehr das Unvermögen des
AKP-Regimes, den über die Landesgrenzen der Türkei hinausgewachsenen kurdischen
Aufstand einzudämmen, bereitet der Bundesregierung Sorgen.
Große Aussichten am
Euphrat und Tigris
Im Jahr 1902 schrieb
der bekannte deutsche Kolonialstratege und Propagandist des Bagdadbahn-Projektes
Paul Rohrbach: „Einzig und alleine eine politisch und militärisch starke
Türkei“ könne Deutschland, „die großen Aussichten, welche sich in den Ländern
am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die
Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten“, ermöglichen. „Für eine
schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht
wird.“
Deutsches Schweigen
zur Vernichtung der Armenier
Unter deutschem
Oberkommando kämpften und starben die türkischen Soldaten im ersten Weltkrieg
für die Weltmachtphantasien des deutschen Kaisers und Finanzkapitals. Im
Gegenzug schwieg die Deutsche Reichsregierung, als das jungtürkische Regime den
Kriegszustand zur Vernichtung der Armenier im eigenen Land nutzte. „Unser
einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu
halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht“, gab
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die Linie vor.
Wieder im
militärischen Gleichschritt
An der vor über 100
Jahren formulierten strategischen Orientierung des deutschen Imperialismus hat
sich bis heute nichts geändert. Nicht Demokratisierung und Menschenrechte,
sondern Stabilität und Kapital-Anlagesicherheit sind es, was die
Bundesregierung in der Türkei einfordert.
Das gab Gabriel seinem
türkischen Amtskollegen Çavuşoğlu zu
verstehen. Welchen Preis die demokratischen Kräfte in der Türkei und
Exiloppositionelle in Deutschland dafür zu zahlen haben, dass die herrschenden
Klassen beider Länder wieder in den militärischen Gleichschritt zurückfinden,
werden die kommenden Wochen zeigen.
Anschlag auf Deniz Naki
Zumindest
Welt-Journalist Deniz Yücel, der seit fast einem Jahr ohne Anklage in der
Türkei festgehalten wird, könnte demnächst freikommen. Diese Bedingung hat
Gabriel benannt, um die Freigabe zurückgehaltener Rüstungsexporte zu prüfen.
Während also der eine Deniz Grund zu verhaltenen Optimismus hat, geriet ein
anderer Deniz in Lebensgefahr. Der Wagen des Mannschaftskapitäns von Amedspor Deniz Naki wurde auf der
Autobahn bei Aachen beschossen. Die Vermutung des in der Türkei wegen seines
Einsatzes gegen den Krieg in Kurdistan als „Terrorist“ verfolgten Fußballers,
dass es sich um einen politisch motivierten Anschlag gehandelt habe, ist
naheliegend.
Weiter so!
Für Erdoğans tausendköpfige Armee aus Agenten, Spitzeln,
Trollen und Osmanen-Schlägern in Deutschland ging von dem Teekränzchen in
Goslar vor allem ein Signal aus: weiter so! Ihr habt nichts zu befürchten,
solange die Profite von Siemens, Deutscher Bank, Rheinmetall & Co im
Türkeigeschäft stimmen.
YENIÖZGÜRPOLITIKA Mittwoch, 10 Jan 2018,