Junge Welt 02.08.2014
/ Geschichte / Seite 15
Pakt am Bosporus
Vor 100 Jahren wurde ein geheimer Bündnisvertrag
zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich geschlossen
Von Nick
Brauns
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Einen Tag nach der deutschen
Kriegserklärung an Rußland schlossen am 2. August
1914 in Konstantinopel die deutsche und die osmanische Regierung einen geheimen
Bündnisvertrag. Das auf osmanischer Seite von Kriegsminister Enver Pascha und
Innenminister Talaat Bey
sowie auf deutscher Seite durch Botschafter Hans von Wangenheim unterzeichnete
Abkommen, dem auch die österreichische Regierung brieflich zustimmte, machte
das Osmanische Reich zum integralen Bestandteil des deutsch-österreichischen
»Nibelungenbündnisses«: »Falls Rußland mit aktiven
militärischen Maßnahmen eingreifen und dadurch für Deutschland den Casus foederis [Bündnisfall]
gegenüber Österreich-Ungarn herbeiführen sollte, so würde dieser Casus foederis ebenfalls für die
Türkei in Kraft treten.« Für diesen zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung ja
bereits eingetretenen Kriegsfall ließ sich die deutsche Regierung einen
»wirksamen Einfluß« ihrer seit 1913 im Osmanischen
Reich tätigen Militärmission auf die türkische Armeeführung absichern. Im
Gegenzug verpflichtete sich die deutsche Seite, »das Gebiet des Osmanischen
Reiches im Falle der Bedrohung nötigenfalls mit den Waffen« zu verteidigen.
Nach der selbst vor mehreren Kabinettsmitgliedern der regierenden Jungtürken geheimgehaltenen Vertragsunterzeichnung wurde die
»bewaffnete Neutralität« verkündet. So sollte Zeit für die Reorganisation der Truppe
durch die deutschen Militärberater unter Leitung des zum osmanischen
Generalinspekteur ernannten Generals Otto Liman von Sanders gewonnen werden.
Zwar bestanden seit den 1880er Jahren zunehmend engere politische,
wirtschaftliche und militärische Beziehungen zwischen beiden Reichen, deren
sichtbarstes Symbol der Bau der Bagdadbahn durch ein
von der Deutschen Bank geleitetes Konsortium war. Doch die deutsch-türkische
Waffenbrüderschaft war keineswegs ausgemachte Sache. Ein Flügel der Jungtürken
plädierte für Neutralität im absehbaren Krieg oder befürwortete aus
ideologischer Verbundenheit mit den Werten des französischen Republikanismus
ein Bündnis mit der Triple Entente. Diesbezügliche Gespräche mit Rußland und Frankreich waren im Mai allerdings gescheitert.
Denn die russische Heeresleitung hatte bereits im Februar auf einer
Geheimsitzung beschlossen, selbst bei Neutralität der Türkei im Kriegsfalle
Konstantinopel und damit den Zugang zum Mittelmeer zu erobern. Während auch Rußlands Verbündete Frankreich und Großbritannien sich von
einem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches territoriale Eroberungen
versprachen, setzte das deutsche Kaiserreich auf Erhalt der Türkei – wenn auch
in Form eines deutschen Protektorates. Kriegsminister Enver war als Militärattaché
in Berlin in den Jahren 1909 bis 1911 zum Bewunderer des preußischen
Militarismus geworden. In einem Bündnis mit dem Kaiserreich sah er die Chance,
nicht nur ehemalige osmanische Provinzen in Nordafrika zurückzuerobern, sondern
infolge eines als sicher angenommenen Sieges der Mittelmächte seinen Traum
eines Großreiches aller Turkvölker zu verwirklichen.
Am 22. Juli 1914 signalisierte Enver gegenüber Wangenheim entsprechende
Bündnisabsichten. Doch der deutsche Botschafter hatte zu diesem Zeitpunkt noch
erhebliche Zweifel an der Zweckmäßigkeit eines solchen Bündnisses mit dem
maroden Großreich, dessen Armee sich nach der Niederlage in den Balkankriegen
1912/13 in einem desolaten Zustand befand. »Theoretisch richtig, aber im
jetzigen Augenblick falsch!« wischte Kaiser Wilhelm
II. derartige Bedenken vom Tisch. »Jetzt handelt es sich um Gewinnung jeder
Büchse, die auf dem Balkan bereit ist, für Österreich gegen die Slawen
loszugehen, daher ist ein turko-bulgarisches Bündnis
mit Anschluß an Österreich wohl zu akzeptieren«,
notierte der Kaiser am Rande von Wangenheims telegraphischer Nachricht über das
Gespräch mit Enver. General von Sanders, der noch im April der osmanischen
Armee »einen schnellen militärischen Zusammenbruch im Falle kriegerischer Verwicklungen«
attestiert hatte, meldete inzwischen Erfolge der Reorganisation. So gab
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg am 31. Juli seinem Botschafter am
Bosporus grünes Licht zur Unterzeichnung eines Bündnisvertrags, wenn »die
Türkei im jetzigen Krieg auch nennenswerte Aktionen gegen Rußland
unternehmen kann und wird«.
An jenem 2. August, an dem die prodeutsche Fraktion der Jungtürken ihr Bündnis
mit dem Deutschen Reich besiegelte, ließ der britische Marineminister Winston
Churchill zwei im türkischen Auftrag gebaute Kriegsschiffe, die ein
Gegengewicht zur russischen Schwarzmeerflotte bilden sollten, in britischen
Werften beschlagnahmen. Eine Woche nach dieser Brüskierung der türkischen
Führung suchten die zwei deutschen Kreuzer »Goeben«
und »Breslau« auf der Flucht vor der britischen Royal Navy
Zuflucht im Bosporus. »Ein Sohn ist uns geboren!«
jubelte Enver, der den Schiffen ohne Kabinettsbeschluß
die Einfahrt gestattet hatte. Um den Neutralitätsbruch zu verschleiern,
erklärte die türkische Regierung nach Abstimmung mit Berlin, sie habe die
Kreuzer als Ersatz für die von Großbritannien beschlagnahmten Schiffe gekauft.
Zum Beweis wurden die Kreuzer in »Yavuz« und »Midilli«
umbenannt, und die deutsche Besatzung mußte statt
ihrer Matrosenmützen einen Fes tragen. Nun wurde der deutsche Admiral Wilhelm Souchon vom Sultan zum Ersten Kommandanten der osmanischen
Flotte ernannt, und die bislang für die Reorganisation der Marine zuständigen
britischen Militärberater wurden heimgeschickt.
Um vorerst den Schein der Neutralität zu wahren, fanden Mitte August türkische
Sondierungsgespräche mit der Entente statt. Die osmanische Regierung forderte
neben Garantien für die territoriale Integrität des Reiches die Aufhebung der
Kapitulationen genannten kolonialen Handelsabkommen, die europäischen Mächten
Privilegien insbesondere bei den Zöllen einräumten. Die Zurückweisung dieser
Forderung nahm auch den letzten jungtürkischen Befürwortern einer Allianz mit
der Entente wie dem Marineminister Djemal Pascha ihre
Illusionen. Großwesir Said Halim Pascha proklamierte nun die einseitige Aufkündigung
der Kapitulationen.
Nach der deutschen Niederlage an der Marne und dem Vormarsch russischer Truppen
in Galizien drängte die deutsche Oberste Heeresleitung im September zum türkischen
Kriegseintritt, um Rußland im Kaukasus und
Großbritannien in Ägypten zu binden. Mit einer nach Kriegseintritt zu zahlenden
deutschen Staatsanleihe von zwei Millionen türkischen Pfund versuchte die
Reichsregierung, die noch zögernden Jungtürken zu bestechen. Um vollendete
Tatsachen zu schaffen, befahl Enver am 22. Oktober in einer geheimen Depesche
an Admiral Souchon: »Suchen Sie die russische Flotte
auf und greifen Sie sie ohne Kriegserklärung an, wo Sie sie finden.« Die durch die »Yavuz« und die »Midilli«
verstärkte Marine beschoß darauf am 29. und 30.
Oktober die Hafenstädte Sewastopol und Odessa und versenkte mehrere russische
Schiffe. Rußland reagierte am 2. November mit der
Kriegserklärung an die Türkei, die anderen Entente-Mächte folgten. Das Komplott
der deutschen und türkischen Militaristen war aufgegangen. In dem ungleichen
Bündnis einer imperialistischen Großmacht mit einem halbkolonialen Land übten
deutsche Offiziere Kommandogewalt über die osmanischen Truppen aus, während
rund 25000 deutsche Soldaten an Fronten des Nahen Ostens und des Kaukasus
kämpften. Mit diesem Bündnis, in dem beide Seiten Illusionen von der Kampfkraft
ihres Partners hatten, wurde der Untergang des 500jährigen Reiches besiegelt.
Quellentext. Marineminister Djemal
Pascha über das deutsche Interesse an der Türkei
Deutschland war, man kann sagen, was
man will, doch die einzige Macht, die den Wunsch hegte, eine starke Türkei zu
sehen. Die Interessen Deutschlands konnten einzig und allein durch die Stärkung
der Türkei sichergestellt werden. Deutschland konnte nicht die Hand auf die
Türkei wie auf eine Kolonie legen, denn das erlaubten ihm weder die
geographische Lage noch seine Hilfsmittel. Infolgedessen betrachtete
Deutschland die Türkei als ein Bindeglied für den Handel und wurde dadurch ihr
zuverlässigster Verteidiger gegen die Entente-Regierungen, die sie aufzuteilen
wünschten. Umso mehr, als das Verschwinden der Türkei die endgültige
Einschließung Deutschlands bedeuten würde. Nur dank der Türkei blieb seine
südöstliche Front noch offen. Um nun nicht von dem eisernen Ring erdrückt zu
werden, blieb als einziger Ausweg übrig, die Zerstückelung der Türkei zu
verhindern.
Djemal Pascha: Erinnerungen, München 1922,
S. 120