Ein vergessener Völkermord

 

Der kurdische Schriftsteller Haydar Isik erinnert mit einem historischen Roman an die Zerstörung von Dersim vor 65 Jahren

 

Wenn heute um den EU-Beitritt der Türkei verhandelt wird, erinnert sich kaum noch jemand an den Völkermord der türkischen Armee vor 65 Jahren an den Kurden von Dersim. Bis zu 100.000 Menschen – Männer und Frauen, Alte und Kinder – wurden damals von der Armee nieder geschlachtet, vergast, verbrannt. Ihre einzige Schuld war es, als Kurden geboren zu sein.

 

Mit dem jetzt auf deutsch in der Edition Ararat erschienen historischen Roman „Die Vernichtung von Dersim“ erinnert der nach dem Militärputsch 1980 aus der Türkei zwangsausgebürgerte und heute in München lebende kurdische Schriftsteller Haydar Isik an den Schicksalswinter seines Volkes. Isik ist selber ein Überlebender der Massaker. Geboren im Jahr 1937 rettete seine Mutter ihren einzigen Sohn in die Wälder, wo sie ihn permanent säugte, damit die Soldaten nicht durch das Schreien des Babys alarmiert wurden.

 

„Vergesst niemals dieses Massaker! Vergesst niemals diesen Vernichtungsfeldzug! Erzählt euren Kindern von diesem Grauen!“ Diese in den Mund seines Romanhelden, des Dorfältesten Alibinat gelegte Mahnung an die Überlebenden des Genocids ist für den Schriftsteller Verpflichtung. Schon sein erster Roman „Der Agha aus Dersim“  der ihn trotz sofortigen Verbots in der Türkei bekannt machte, widmete sich dem Schicksal der Dersim-Kurden.

 

Dersim galt Mitte der 30er Jahre als die „letzte freie Burg“ der Kurden in der Türkei. In den unzugänglichen Berghöhen waren die kleinen Bauerndörfer der Kontrolle des türkischen Staates weitgehend entzogen. Von den anderen Kurden waren die Dersimer durch ihren alewitischen Glauben, einen liberale Strömung des Islam isoliert. So schwiegen die Dersim-Kurden auch, als die Armee gegen die anderen Kurden als „islamische Reaktionäre“ vorging oder sie kämpften wie die Romanfigur des Unteroffiziers Riza Tschausch sogar auf Seiten des Staates.

 

„Dersim ist für die Türkische Republik eine Eiterbeule. Es ist absolut erforderlich, diese Eiterbeule zu operieren, bedauerlichen Vorfällen zuvorzukommen, die Gesundheit der Heimat zu erhalten“ – mit diesen Worten erklärte die Regierung von Ankara im Dezember 1935 Dersim den Krieg. Ab 1936 wurde Dersim von der türkischen Armee attackiert. Dorfbewohner wurden angegriffen, kurdische Schulen geschlossen, das Wort „Kurde“ und „Kurdistan“ verboten. Auch der kurdische Name Dersim wurde bis heute durch den türkischen Namen „Tunceli“, das beutet „Eisenfaust“, ersetzt.

 

Gegen die einsetzende Repression bildeten sich innerhalb weniger Wochen starke kurdische Guerillaverbände, die in den Bergen erbitterten Widerstand leistete. Geführt wurde der Aufstand für die Autonomie der Dersim-Kurden von dem Geistlichen Seyid Riza, bis dieser durch Verrat verhaftet und im November 1937 in Elazig hingerichtet wurde.

 

Da die mit über 50.000 Soldaten in der Region Dersim aktive Armee den Widerstand der Bauernguerilla nicht bezwingen konnte, ging sie im Winter 1937/38 zur völligen ethnischen Säuberung gegen die Zivilbevölkerung über. Ganze Dörfer wurden von der Armee umzingelt, die Männer auf dem Dorfplatz erschossen, Frauen und Kinder in ihren Häusern verbrand. Wo es der Bevölkerung gelang, in Berghöhlen zu fliehen, mauerten die Soldaten die Höhleneingänge zu oder warfen Gasbomben hinein. Tausende Frauen stürzten sich von den hohen Felsen in den Fluss Munzur, um nicht von den Soldaten vergewaltigt zu werden. Nach dem Ende des Vernichtungskrieges gegen Dersim 1938 ließ die Regierung Hunderttausende Überlebende in andere Landesteile deportieren, weitere Zehntausende wurden dabei ermordet. Erst mehr als 40 Jahre später sollte es mit dem Guerillakrieg der PKK zu einem neuen großen Aufstand in Türkisch-Kurdistan kommen. Die Niederschlagung des Dersim-Aufstandes veranlasste übrigens Adolf Hitler dazu, den türkischen Staatsführer Mustafa Kemal Atatürk zu seinen Vorbildern zu erklären.

 

Im Zentrum von Haydar Isiks Roman steht das Schicksal der Bewohner des Dorfes Mergasur in Ost-Dersim. Der Schriftsteller versetzt den Leser zurück in jenen eisigen und blutigen Winter 1937/38. Die religiösen und sozialen Bräuche der Alewiten, ihre Liebe zu den „heiligen Bergen“, ihr Stolz und ihre Toleranz gegenüber Fremden werden in farbigen Worten geschildert. Isik zeigt aber auch, wie die Feindschaft der Clans untereinander und die Kollaboration einzelner Bandenführer und Aghas mit dem Staat es der Armee leicht machten, den Widerstand der Kurden zu brechen.

 

Im weiteren Verlauf konzentriert sich die Handlung auf das Schicksal des Mädchens Gule, das die Massaker überlebte und von einer türkischen Offiziersfamilie adoptiert wurde. Gule, die einen neuen türkischen Namen erhält und kemalistisch erzogen wird, ist ein Symbol für die Assimilierungspolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden. Als junge Frau wird sie Nacht für Nacht von den Albträumen des in ihrem Unterbewusstsein gespeicherten Genozids geplagt, bis sie von ihrer wahren Herkunft erfährt und in ihrem Adoptivvater den Mörder ihrer Familie erkennt. Und so, wie Gule zu ihrer kurdischen Identität zurückfindet und als Lehrerin nach Dersim geht, konnte die türkische Vernichtungspolitik bis heute nicht des Geist des kurdischen Widerstandes in Dersim auslöschen. „Gule ist mein Dersim“ kommentiert Isik seinen Roman.

 

Nick Brauns

 

Haydar Isik: Die Vernichtung von Dersim, Edition arArat im Unrast Verlag, Gebunden, 344 S, 16 €, ISBN 3-89771-852-9