Verhaftungen wie nach dem
Militärputsch
Verschärfte grenzüberschreitende
Kurdenverfolgung in der Türkei
von Nick Brauns
In der Türkei vergeht kaum ein Tag ohne
Polizeirazzien in Parteibüros, Redaktionen und Rathäusern. Allein in den ersten
sechs Wochen dieses Jahres haben Menschenrechtsorganisationen mehr als 1500
Festnahmen prokurdischer und linker Oppositioneller gezählt. So durchsuchten
Antiterroreinheiten der Polizei am 13.Februar die Zentrale der linksgerichteten
Gewerkschaftsföderation des öffentlichen Dienstes (KESK) und zweier
Einzelgewerkschaften in Ankara.
Den 14 dabei
inhaftierten Gewerkschaftssekretärinnen werden Vorbereitungen zum Frauentag am
8.März sowie Gewerkschaftsdemonstrationen am «Tag zur Beseitigung von Gewalt
gegen Frauen» am 28.November vorgehalten und als Unterstützung der Gemeinschaft
der Kommunen Kurdistans (KCK) ausgelegt.
Unter dem Vorwurf, diesem Dachverband der
verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, wurden seit 2009
mindestens 9000 Oppositionelle fest- und über 5000 in Haft genommen. Unter
ihnen sind 16 Bürgermeister, sechs Parlamentsabgeordneten und Hunderte
Kommunalpolitiker, Menschenrechtler, Frauenrechtsaktivistinnen,
Parteivorstände, Anwälte und Journalisten. Auch türkischstämmige Intellektuelle
wie die Verfassungsrechtlerin Büsra Ersanli und der Verleger Ragip Zarakolu,
die sich mit den Forderungen der kurdischen Bewegung nach demokratischen
Autonomierechten solidarisieren, befinden sich in Haft.
Eine «integrierte Strategie»
Die Kommunalwahlen im Frühjahr 2009, bei denen
die später verbotene prokurdische Partei für eine demokratische Gesellschaft
(DTP) rund 100 Rathäuser erobern konnte, und die Parlamentswahl im Juni 2011,
bei der der links-kurdische Wahlblock 36 Direktmandate gewann, haben der
islamisch konservativen AKP-Regierung und ihrer autoritär-neoliberalen Politik
in Kurdistan ein Stoppschild vorgehalten. Weil es der AKP und dem in Polizei
und Justiz einflussreichen islamischen Fethullah-Gülen-Orden
nicht gelungen ist, die Mehrheit der Menschen in den kurdischen Kerngebieten
mit der islamischen Karte für sich zu gewinnen, setzen sie jetzt auf massive
Repression.
Keinem der unter KCK-Vorwurf Verhafteten
werden bewaffnete Aktionen unterstellt. Stattdessen wirft Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan ihnen vor, sie würden einen
«parallelen Staat» in der Türkei schaffen. Als «terroristisch» gilt bereits der
Aufbau von Rätestrukturen in den Kommunen, das Eintreten für
Geschlechtergerechtigkeit und muttersprachlichen Schulunterricht.
Der Co-Vorsitzende der prokurdischen Partei
für Frieden und Demokratie (BDP), Selahattin Demirtas, nennt die
Massenverhaftungen, die ein Ausmaß wie nach dem Militärputsch vom 12.September
1980 erreicht haben, einen «politischen Genozid». Dass die türkische Justiz
dabei keineswegs unabhängig agiert, hat der stellvertretende Ministerpräsident
Besir Atalay in einem Fernsehinterview zugegeben: «Als Staat setzen wir
einseitig eine integrierte Strategie um. Von grenzüberschreitenden
Militäroperationen bis hin zu KCK-Operationen läuft alles koordiniert. Sie
wurden diskutiert, beschlossen, geplant und werden umgesetzt.»
Kaum legale Möglichkeiten
Die Selbstverwaltungsstrukturen in den
kurdischen Städten lassen sich vielerorts aufgrund der Inhaftierung von
Stadträten und Mitarbeitern der Stadtverwaltungen kaum noch aufrechterhalten.
Auch die Proteste auf der Straße sind aufgrund der Inhaftierung Tausender
BDP-Kader deutlich zurückgegangen. Sichtbar wurde dies zuletzt am 15.Februar,
dem 13.Jahrestag der Verschleppung von PKK-Führer Abdullah Öcalan durch ein
Geheimdienstkomplott in die Türkei. Kam es an diesem Datum in den letzten
Jahren noch zu tagelangen aufstandsähnlichen
Massenprotesten mit Zehntausenden Teilnehmern, so fanden in diesem Jahr nur
vereinzelt größere Aktionen statt, die von der Polizei umgehend mit
Pfefferspray angegriffen wurden. Über den weiterhin von Millionen Kurden als
ihren politischen Repräsentanten gesehenen Öcalan wurde nach den
Parlamentswahlen eine faktische Kontaktsperre verhängt, seine Anwälte werden
seit Juli letzten Jahres nicht mehr zu ihrem Mandanten vorgelassen, der auf der
Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftiert ist.
Da der kurdischen Bewegung zunehmend alle
legalen Möglichkeiten der Aktivität genommen werden, droht eine erneute
Zuspitzung des bewaffneten Kampfes. In diesem Winter gingen, anders als in den
Vorjahren, die Militäroperationen lückenlos weiter, Dutzende Guerillakämpfer
wurden dabei getötet, ebenso 35 jugendliche Dorfbewohner Ende letzten Jahres
bei einem Luftangriff im türkisch-irakischen Grenzgebiet.
«Der Krieg wird sich auf alle Bereiche
ausweiten, von den Bergen zu den Städten und Metropolen», kündigte
KCK-Exekutivratsmitglied Cemil Bayik am 6.Februar
eine neue Phase des Widerstands an. «Die kurdische Freiheitsbewegung wird die
staatliche Militärmacht, Polizei und Konterguerilla ebenso ins Visier nehmen
wie die Verwaltung und Politik, die im Zentrum dieses Krieges stehen.» Drei
Tage nach dieser Ankündigung griffen Guerillakämpfer mehrere Militärstützpunkte
bei Cukurca an und töteten nach eigenen Angaben mehr
als 40 Soldaten. Besondere Bedeutung für den zivilen Widerstand dürfte in
diesem Jahr dem Newroz-Fest am 21.März zukommen, das
zum Funken für ein erneutes massenhaftes Aufflammen des kurdischen Aufstandes
werden könnte.
Türkei–Syrien–Iran
Die antikurdische Strategie der türkischen
Regierung findet ihre Fortsetzung in Europa. Nachdem ein Kopenhagener Gericht
im Januar 2012 den in Dänemark lizensierten Satellitensender Roj TV wegen «Verstößen gegen das Antiterrorgesetz» zu
einer hohen Geldstrafe verurteilte, beendete der teilweise staatseigene
französische Satellitenbetreiber Eutelsat die
Ausstrahlung des kurdisch- und türkischsprachigen
Senders, der von Millionen Menschen in Europa und dem Nahen Osten genutzt wird.
Wie vom Enthüllungsportal Wikileaks veröffentlichte
Depeschen beweisen, war die Schließung des Senders eine Bedingung der
türkischen Regierung für ihre Zustimmung zur Wahl des früheren dänischen
Ministerpräsidenten Rasmussen zum NATO-Chef im Jahr 2009. In Deutschland gilt
die seit 1993 verbotene PKK als «terroristische Vereinigung im Ausland». Unter
Verweis auf «völkerrechtliche Verpflichtungen» aufgrund der EU-Terrorliste
verhängte das Stuttgarter Ordnungsamt im Februar 2012 ein politisches
Betätigungsverbot gegen den Politiker und Journalisten Muzaffer Ayata, der nach 20jähriger Haft on der Türkei nach
Deutschland geflohen und hier erneut bis Ende 2009 dreieinhalb Jahre inhaftiert
wurde.
Während die Türkei gegenüber Iran und Syrien
auf NATO-Kurs einschwenkte, gelang der PKK ein Aufbrechen ihrer internationalen
Umzingelung ausgerechnet in diesen beiden Staaten, in denen sie in den
vergangenen Jahren besonderer Repression ausgesetzt war. Hatten iranische
Truppen im vergangenen Sommer noch gemeinsam mit der türkischen Luftwaffe das
Hauptquartier der PKK und ihrer iranisch-kurdischen Schwesterpartei PJAK im
irakisch-iranischen Grenzgebiet bombardiert, so herrscht inzwischen
Waffenstillstand zwischen Teheran und der PKK/PJAK. Das iranisch-türkische
Bündnis zerbrach, als Ankara grünes Licht für die Stationierung des gegen Iran
gerichteten NATO-Raketen-Abwehrsystems in der Türkei gab.
In Syrien hatte das Baath-Regime nach der von
der Türkei mit Kriegsdrohungen erzwungenen Vertreibung Öcalans im Herbst 1998
ein Abkommen mit Ankara zur Bekämpfung der PKK geschlossen. Doch seit Beginn
des «syrischen Frühlings» ist die Regierung in Damaskus bemüht, die Kurden mit
Zugeständnissen ruhig zu halten. Da der von Moslembrüdern dominierte Syrische
Nationalrat und die Freie Syrische Armee von der Türkei aus operieren, hat das
Baath-Regime im Gegenzug der PKK und ihrer syrisch-kurdischen
Schwesterorganisation Partei der Demokratischen Union (PYD) freie Hand geben.
Während andere syrisch-kurdische Parteien auf
eine ausländische Intervention zum Sturz der Baath-Herrschaft hoffen, nutzt die
PYD die Gunst der Stunde zum Aufbau von Selbstverwaltungsinstitutionen. Ein auf
PYD-Initiative gewählter Volksrat von Westkurdistan
bekennt sich zur «Unterstützung der friedlichen und demokratischen
Volksbewegung, die einen radikalen Wandel der Struktur und der Institutionen
des politischen Systems anstrebt» und erklärt zugleich, «ausländische
Einmischung und Interventionsversuche» verhindern und zurückweisen zu wollen.
Ein Wandel «darf nicht von einer ausländischen Macht kommen, die Syrien zu
einem Satellitenstaat machen will», warnt PYD-Sprecher Zuhat Kobani mit Blick auf die Türkei.
Von der weiteren Entwicklung in Syrien hängen
auch die Handlungsspielräume der kurdischen Bewegung insgesamt ab. Weiterhin
gilt: Ohne Lösung der kurdischen Frage wird es keine demokratische und vom
Imperialismus unabhängige Entwicklung im Mittleren Osten geben.
Aus: Soz –
Sozialistische Zeitung 3/2012