Verbalradikalismus

 

Der  VI. Weltkongress der Kommunistischen Internationale

 

Der vom  17. Juli bis zum 1. September 1928 in Moskau tagende VI. Weltkongress war die längste Tagung in der Geschichte der Kommunistischen Internationale. 515 Delegierte vertraten 66 eingeladene Parteien und Organisationen, die insgesamt 4 024 159 Mitglieder umfassten. Zahlreicher als in der Vergangenheit waren Vertreter aus kolonialen und halbkolonialen Ländern.

 

Einen  wirklichen Tätigkeitsbericht über die Zeit sei dem V. Weltkongress 1924 Zeit konnte Nikolai Bucharin, der den VI.Kongress leitete, nicht vorgelegen. Schließlich waren eine Reihe der einflussreichsten Mitglieder und Kandidaten des Exekutivkomitees im Laufe von Fraktionskämpfen aus der Komintern ausgeschlossen worden waren. Neben dem ehemaligen Vorsitzenden Sinowjew waren dies unter anderem Trotzki, Kamenew und Gessen aus der UDSSR, Treint und Girault aus Frankreich, Ruth Fischer und Arkadi Maslow aus Deutschland sowie Voja Vujovic aus Jugoslawien. Ohne Diskussion stimmten die Delegierten für eine Resolution, die die Tätigkeit der „führenden Organe“ billigte.

 

1927 hatten die wichtigsten kapitalistischen Länder, aber auch die UDSSR erstmals die Vorkriegsproduktion wieder überschritten. Die internationale Arbeiterbewegung hatte eine Reihe schwerer Niederlagen hinnehmen müssen. Der englische Bergarbeiterstreik war durch den Verrat wichtiger Gewerkschaftsführer abgebrochen worden. In China hatte General Tschiang Kai Schek nach dem Aufstand von Kanton ein Massaker unter der Arbeiterschaft angerichtet und das Bündnis mit den Kommunisten aufgekündet. Japan nutzte diese Schwächung des revolutionären Chinas für einen Überfall. Trotz weltweiter Proteste waren die Anarchisten Sacco und Vanzetti in den USA hingerichtet worden. In Italien und Polen verschärften die faschistischen Regime von Mussolini und Pilsudski ihren Terror gegenüber der Arbeiterbewegung beziehungsweise den nationalen Minderheiten. Außenpolitisch sah sich die Sowjetunion zunehmend bedroht. Durch die Aufnahme in den Völkerbund schwenkte Deutschland verstärkt auf einen antisowjetischen Kurs ein. Nach einem Polizeiüberfall auf die sowjetische Handelsmission in London waren die diplomatischen Beziehungen mit Großbritannien abgebrochen worden.

 

Aus all dem schlussfolgerte Bucharin im Bericht des Exekutivkomitees, dass nach der revolutionären Nachkriegskrise und der anschließenden Stabilisierung des Kapitalismus eine neue Periode eingesetzt habe. „Die dritte Periode ... ist eine Periode der stärksten Entwicklung der Widersprüche der Weltwirtschaft ... der allgemeinen Krise des Kapitalismus ... eine neue Phase von Kriegen zwischen den imperialistischen Staaten, von Kriegen gegen die Sowjetunion, nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Imperialismus, Interventionen des Imperialismus, gigantischen Klassenkämpfen“, heißt es im Protokoll. Nur wenige Delegierte, wie der Chinese Chou Chiu-pai äußerten Bedenken, ob es tatsächlich zwischen der zweiten und der nur vage definierten dritten Periode so gravierende Unterschiede gäbe.

„Nicht die Außenwelt hat sich geändert, sondern Sowjetrussland hat sich geändert“, meint der 1927 aus der KPD ausgeschiedene Historiker Arthur Rosenberg. „Die neue Auffassung der internationalen Lage ist immer die Konsequenz einer Wendung in der innerrussischen Politik. Die innerrussische Kompromisstaktik, im Zeitalter der NEP und der Zugeständnisse an die Kulaken, fand international ihren Ausdruck in der Taktik der Einheitsfront. Seitdem Stalin in der russischen Innenpolitik seinen so genannten Linkskurs begonnen hatte, sollte die neue Radikalisierung des Bolschewismus sich auch in der Internationale zeigen. Also musste man die Einheitsfront mit der Sozialdemokratie jetzt unbedingt ablehnen, und um scheinbar ein sachliches, aus den Verhältnissen der Internationale selbst stammendes, Motiv zu finden, musste sich der VI. Weltkongress mit der famosen dritten Periode abquälen.“

 

Als Schlussfolgerung der „dritten Periode“ ergab sich ein scharfer Linksschwenk der Kommunistischen Parteien. Verbalradikalismus ersetzte häufig ernsthafte Versuche, die Mehrheit der Werktätigen für den Kommunismus zu gewinnen. Dies zeigte sich insbesondere im Verhältnis zur Sozialdemokratie, die als Hauptstütze des Kapitalismus begriffen wurden. Eine Einheitsfrontpolitik mit den sozialdemokratischen Parteien und ihren Führern wurde ausgeschlossen. Während es Bucharin vermied, den einstmals von Sinowjew ins Spiel gebrachten Begriff des Sozialfaschismus aufzugreifen, behauptete Ernst Thälmann: „Die Entwicklung des Reformismus zum Sozialfaschismus ist eine Erscheinung, die man in verschiedenen Ländern an verschiedenen Beispielen illustrieren kann.“ Besonders gefährlich seien die linken Sozialdemokraten, da diese das Abwandern unzufriedener Sozialdemokraten zu den Kommunisten verhinderten. „Jedes Schwanken, jedes Zögern bei der Entlarvung der `linken´ Sozialdemokaten muss in unseren Reihen mit größter Schärfe bekämpft werden.“ Die Stoßrichtung des VI. Weltkongresses richtete sich gegen eine angebliche „rechte“ Gefahr in den kommunistischen Parteien als Hauptgefahr nach dem Ende der trotzkistischen Opposition. Mit dem Vorwurf, nicht entschieden genug gegen linke Sozialdemokaten zu kämpfen, sollte Stalin auch den Kampf gegen Bucharin und die „Rechten“ in der KPdSU eröffnen.

 

Der Kongress verabschiedete ein für alle Sektionen verbindliches Komintern-Programm, dass allerdings schon bald in Vergessenheit geriet. Der von Bucharin und Stalin unterzeichnete Entwurf wurde erst wenige Wochen vor dem Kongress vorgelegt, so dass eine gründliche Diskussion in den Parteien nicht stattgefunden hatte..

Insbesondere rief das Programm zum Kampf gegen die Kriegsgefahr auf: „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, Niederlage der `eigenen´ imperialistischen Regierung, Verteidigung der Sowjetunion und der Kolonien im Falle eines imperialistischen Krieges gegen sie, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln.“

 

Ungeachtet der gegenteiligen russischen Erfahrung von 1917 zwängten die vom Kongress beschlossenen Thesen „über die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und Halbkolonien“ den Verlauf der Revolution in künstlich von einander getrennte Etappen. Mit der Feststellung „in den revolutionären Bewegungen dieser Länder handelt es sich um die bürgerlich-demokratische Revolution, d.h. um die Etappe der Vorbereitung der Voraussetzungen für die proletarische Diktatur und die sozialistische Revolution“ wurden Kommunisten in Kolonialländern von einer sozialistischen Politik abgehalten und zur Unterordnung unter die nationale Bourgeoisie gezwungen.

 

Als deutsche Vertreter wurden neben Clara Zetkin Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck, Philipp Dengel, Hermann Remmele und Konrad Blenkle in das Exekutivkomitee gewählt. Kandidaten wurden Fritz Heckert, Ernst Schneller und Walter Ulbricht sowie mit Arthur Ewert ein führender Exponenten der von Thälmann bekämpften „Versöhnler“ der KPD.

 

Tatsächlich herrschte auf dem Kongress eine drückende Stimmung. „Die Tragödie bestehe darin“, beklagte der italienische Deligierte Ercoli (Togliatti) unter vier Augen, „dass es unmöglich ist, die Wahrheit über die wichtigsten, entscheidendsten laufenden Probleme auszusprechen. Wir können nicht reden. In dieser Atmosphäre hätte das Aussprechen der Wahrheit die Wirkung einer Bombenexplosion.“

 

Bucharin wagte ein einziges Mal eine – indirekte – Kritik an Stalin. In seinem Schlusswort zitierte er aus einem Brief Lenins: „Werdet Ihr alle nicht besonders gefügigen aber klugen Leute wegjagen, und Euch nur die gehorsamen Dummköpfe lassen, so werde Ihr die Partei bestimmt zugrunde richten.“ Es war Bucharins letzter Auftritt im Rahmen der Komintern.

 

Nick Brauns