Aus: junge
Welt Ausgabe vom
25.10.2014, Seite 3 / Schwerpunkt
Unfall oder Anschlag?
Die Press-TV-Journalistin Serena Shim recherchierte in
der Türkei über die IS-Miliz. Auf dem Heimweg von einer Reportage in der
Grenzstadt Suruc kollidierte ihr Wagen mit einem
schweren Fahrzeug.
Von Nick
Brauns, Suruc
Der Tod
einer Journalistin bei einem Autounfall in der Südosttürkei nahe der Grenze zu
Syrien wirft Fragen auf. Die 30jährige US-amerikanische Journalistin
libanesischer Herkunft Serena Shim berichtete für den staatlichen iranischen
Auslandsfernsehsender Press TV unter anderem aus dem Irak, dem Libanon,
der Ukraine und der Türkei. Sie hielt sich im türkisch-syrischen Grenzgebiet
auf, um über die Kämpfe zwischen der Miliz »Islamischer Staat« (IS) und
kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG um die Stadt Ain
Al-Arab (Kobani) im Norden
Syriens zu berichten. Auf der Rückfahrt von der Grenze zum Hotel stieß ihr
Wagen bei der Kreisstadt Suruc am vergangenen Sonntag
mit einem Betonfahrmischer zusammen. Die Journalistin wurde dabei getötet, ihre
Kamerafrau Judy Irish verletzt.
Schuld an
dem Unfall sei allein Irish als Fahrerin des Wagens
gewesen, heißt es im offiziellen Bericht, den die für ländliche Regionen
zuständige Militärpolizei Jandarma am Freitag
vorlegte. Irish sei zu schnell in eine Kurve gefahren
und in den Gegenverkehr geraten. Den Fahrer des Lastwagens, der vorübergehend
festgenommen und verhört worden war, treffe keine Mitverantwortung.
Als »äußerst
suspekt« hatte dagegen der Leiter der Nachrichtenabteilung von Press TV,
Hamid Reza Emadi, noch vor Bekanntgabe des Jandarma-Reports die Todesumstände der Journalistin
bezeichnet. »Es handelt sich möglicherweise um eine Folge ihrer kritischen
Enthüllungsreports über die wechselseitige Einflussnahme von türkischen und
saudischen Politikern auf syrische Flüchtlinge.« So
hatte Shim über die Unterstützung der Türkei für die dschihadistischen
Kämpfer recherchiert und berichtet, wie diese unter der Tarnung humanitärer
Hilfskonvoys wie der »World Food Organization« oder
auch türkischer NGOs die Grenze nach Syrien überquerten. Entsprechende
Beweisfotos lägen ihr vor, gab Shim an.
Ich mache
mir etwas Sorgen, was der Geheimdienst MIT gegen mich unternehmen könnte.
(Serena Shim am 17. Oktober in Press TV),
Zwei Tage
vor ihrem Tod hatte Shim in einer Liveschaltung gegenüber Press TV beklagt,
der türkische Geheimdienst MIT würde sie gegenüber Einheimischen als Spionin
diffamieren. »Ich mache mir etwas Sorgen, was der MIT gegen mich unternehmen
könnte«, erklärte Shim und äußerte die Befürchtung, verhaftet zu werden.
Derartige Befürchtungen sind in der Türkei, wo in den letzten Jahren Dutzende
Mitarbeiter regierungskritischer Medien unter Terrorismusvorwürfen festgenommen
wurden, nicht unberechtigt. Erst vor zwei Wochen hatte der türkische Präsident
Recep Tayyip Erdogan generell ausländische
Journalisten und Menschenrechtsaktivisten der Agententätigkeit bezichtigt. Drei
deutsche Fotojournalisten, die über Proteste gegen die IS-Unterstützung durch
die türkische Regierung berichteten, waren in Diyarbakir vorübergehend unter
Spionagevorwurf festgenommen worden. Vergangene Woche wurde zudem ein
langjähriger Mitarbeiter der kurdischsprachigen
Tageszeitung Azadiya Welat
in Adana beim Verteilen von Zeitungen von zwei Männern auf einem Motorrad
offenbar gezielt erschossen.
Der
Gouverneur der Provinz Sanliurfa, Izzetin
Kücük, wies die Anschuldigungen von Press TV, staatliche Kräfte könnten
in den Tod von Shim verwickelt sein, als »gänzlich haltlos« zurück. »Für einen
Anschlag können wir derzeit keine Beweise erbringen«, erklärte auch ein
Vorstandsmitglied der linken prokurdischen Partei der
Demokratischen Regionen (DBP) aus Sanliurfa gegenüber
junge Welt. Einen staatlichen Mord an der Journalistin hält der
Politiker aufgrund bisheriger Erfahrungen dennoch für denkbar. »Der türkische
Staat arbeitet in solchen Fällen sehr professionell.«
Shim wurde
am Mittwoch in Beirut beerdigt. Sie hinterlässt zwei Kinder.