Der Kampf
der Tabakarbeiter in der Türkei
von Nick
Brauns
Seit Monaten
kämpfen die Beschäftigten des staatlichen Tabak- und Alkoholmonopols Tekel gegen ihre privatisierungsbedingte Entlassung.
«Keiner oder alle. Alles oder nichts. Einer kann sich da nicht retten. Keiner
oder alle. Alles oder nichts.» Diese Zeilen eines Brecht-Gedichts ertönten auf
Türkisch in den letzten Wochen immer wieder lautstark in der Innenstadt von
Ankara. Mitten in der Fußgängerzone des Geschäftsviertels Kizilay
entstand rund um die Zentrale des Gewerkschaftsbundes Türk-Is eine Zeltstadt.
Mit Sitz- und Hungerstreiks protestieren hier seit Monaten tausende
Arbeiterinnen und Arbeiter des staatlichen türkischen Tabak- und
Alkoholmonopols Tekel gegen ihre Entlassung.
12.000 der
Beschäftigten haben ihre Jobs verloren, weil die islamisch-konservative
AKP-Regierung nach dem Verkauf der Produktionsstätten an den Lucky-Strike-Produzenten
BAT nun die landesweiten Lager geschlossen hat. Anstatt neuer Arbeitsplätze in
anderen Staatsbetrieben bietet die Regierung den Betroffenen lediglich den sog.
4C-Status an. Bei drastischen Lohneinbußen bis zu 40% dürften 4C-Beschäftigte
nur 11 Monate im Jahr Zeit- oder Leiharbeit arbeiten. Während ihre
Tagesarbeitszeit von den Unternehmern willkürlich verlängert und die freien
Sonntage gestrichen werden können, haben die nach 4C-Beschäftigten kein Recht
mehr auf Gewerkschaftsmitgliedschaft und verlieren auch ihren Kündigungsschutz.
Die großen Gewerkschaftsdachverbände Türk-Is, DISK, Kamu-Sen
und KESK haben 4C in einer gemeinsamen Erklärung als ein Versklavungsgesetz
bezeichnet.
Nach der
überraschenden Ankündigung der Betriebsschließung kamen Mitte Dezember Tausende
Tekel-Beschäftigte aus dem ganzen Land nach Ankara,
um vor der Zentrale der Regierungspartei für ihre Jobs zu protestieren. Die
Arbeiter, von denen viele bei der letzten Parlamentswahl noch AKP gewählt
hatten, wurden von der Polizei mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern
empfangen. Es gab viele Verletzte, doch aus Ankara vertreiben ließen sich die Tekel-Beschäftigten nicht. Zuerst campierten sie trotz
winterlicher Temperaturen in einem Stadtpark, dann wurden sie von Gewerkschaften
und Privatleuten aufgenommen. Arbeiterinnen waren mit ihren Babys gekommen,
Hausfrauen begleiteten ihre Männer. Frauen, die bislang gewohnt waren, in der
Küche zu stehen, schrieben jetzt Geschichte.
Der
beharrliche Tekel-Widerstand wurde türkeiweit zum
Fokus für alle unter der neoliberalen Politik leidenden Bevölkerungskreise und
die Gegner der islamisch-konservativen Regierung. Am 17.Februar marschierten
rund 100.000 Gewerkschafter, Mitglieder sozialistischer Gruppierungen, der kemalistischen Oppositionspartei CHP sowie
zivilgesellschaftlicher Vereinigungen durch Ankara. Es ertönte der Ruf nach
einem Generalstreik. Als jedoch der Vorsitzende des größten Gewerkschaftsbundes
Türk-Is, Mustafa Kumlu, diesen ablehnte, besetzten
wütende Arbeiter die Türk-Is-Zentrale.
Türk-Is ist traditionell staatsnah und durfte selbst unter der
Militärdiktatur weiterbestehen. Kumlu, ein
Mitbegründer der AKP und enger Vertrauter des Staatspräsidenten, zog es vor, im
Vieraugengespräch mit dem Ministerpräsidenten zu beraten. Doch nachdem dieser
ihn mit einer nur leicht nachgebesserten Version von 4C brüskierte, konnte sich
Kumlu dem Angebot der linken
Gewerkschaftsdachverbände DISK und KESK zum gemeinsamen Solidaritätsstreik
nicht mehr entziehen. Nach nur zweitätiger Vorbereitung legten am 4.Februar
nach einem Aufruf von fünf Gewerkschaftsföderationen Hunderttausende Menschen
im ganzen Land die Arbeit nieder.
Zu Beginn
ihrer Proteste skandierten viele Tekel-Arbeiter noch
die nationalistische Parole «Unser Kampf für Brot - unsere Liebe
Türkei». Inzwischen sind solche Slogans weitgehend der Losung «Für die
Brüderlichkeit der Völker» gewichen. Gemeint sind die Völker der Türkei. Die
Hälfte der Tekel-Belegschaft stammt aus den
kurdischen Landesteilen. Auf einem Transparent am Gewerkschaftshaus stehen die
Namen dortiger Betriebsstandorte wie Diyarbakir und Mus neben westtürkischen
wie Izmir und Istanbul. Viele der Arbeiter tragen selbstbewusst ihre Pusus - traditionelle schwarz-weiß gemusterte
kurdische Tücher.
In der
Westtürkei war es in der letzten Zeit mehrfach zu Lynchversuchen an Arbeitern
gekommen, die sich so demonstrativ zu ihrer kurdischen Herkunft bekannt hatten.
Der in einer türkische Armeejacke gekleidete Erste Vorsitzende der Gewerkschaft
TekGida-Is, Mustafa Türkel,
gehörte früher einer türkisch-nationalistisch orientierten Bewegung an, sein
Stellvertreter stammt aus Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, und
spricht mit deutlichem kurdischem Akzent.
Hatten die Tekel-Arbeiter sich zu Beginn des Streiks noch hilfesuchend
an die nationalistischen Oppositionsparteien CHP und MHP gewandt, so besuchten
sie später auch den Parteitag der linken prokurdischen Partei für Frieden und
Demokratie BDP, der Nachfolgerin der kürzlich verbotenen kurdischen DTP. «Unser
gemeinsamer türkisch-kurdischer Kampf überwindet den Chauvinismus», sagt ein
für die Arbeit in den kurdischen Landesteilen zuständiger
Gewerkschaftssekretär. Und ein Arbeiter vom Schwarzen Meer, der der Minderheit
der Lasen angehört, erklärt: «Unser gemeinsamer Kampf ist die wahre
demokratische Öffnung der Türkei». Damit spielt er auf die von der Regierung im
vergangenen Jahr vollmundig versprochene «demokratische Öffnung» an, auf die
bislang keine Taten folgten.
Die
Solidarität unter der Bevölkerung ist groß. Hausfrauen bringen frisches Börek, eine Familie schlachtete sogar ein Lamm. Mitglieder
der TKP, der Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP) und der sozialistischen
Volkshäuser organisieren Lebensmittel für die Streikenden. Kommunisten gingen
von Haus zu Haus, um Decken für die Streikenden zu sammeln. Für viele bislang
vom antikommunistischen Klima in der Türkei geprägte Arbeiter ist das eine
völlig neue Erfahrung. «Ich bin ein gläubiger Mann und habe die Kommunisten als
Gottlose immer gehasst», berichtet ein Tekel-Arbeiter
und ehemaliger AKP-Funktionär. «Doch dann habe ich gesehen, wie diese Studenten
Geld für unser Essen spendeten, während der Ministerpräsident einer islamischen
Partei uns als Kriminelle beschimpft.» Ein anderer Arbeiter, der bislang den
faschistischen Grauen Wölfen angehörte, erklärte: «Ich breche hier mit 22
Jahren meines politischen Lebens. Nennt mich nie wieder einen Nationalisten.
Ich bin von jetzt an Kommunist.»
Ausländische
Solidaritätsdelegationen etwa von der Gewerkschaft NGG, den in mehreren
deutschen Städten von Gewerkschaftern, Migrantenvereinen
und sozialistischen Gruppen gebildeten Solidaritätskomitees oder Politikern wie
dem Europaabgeordneten der Linken Jürgen Klute wurden
jedesmal mit großem Jubel im Streikcamp empfangen.
Am 20.Februar
zogen noch einmal 25.000 Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem ganzen Land durch
Ankara um einen Tag mit den Tekel-Beschäftigten im
Streikcamp zu verbringen. Noch ist nicht absehbar, ob der Tekel-Widerstand
über den Februar hinaus weitergeht. Abgeordnete der Regierung versuchen, die Tekel-Beschäftigten mit Versprechungen und Drohungen zur
Annahme von 4C zu bewegen, der Druck ist groß. Wer bis Ende Februar nicht
zusagt, steht ohne jeden Unterhalt auf der Straße.
Für
Monatsende hat Regierungschef Erdogan zudem die polizeiliche Räumung des
Protestcamps angekündigt. Gleichzeitig weigert sich die Türk-Is-Führung, über
symbolische Initiativen wie dem landesweiten Tragen von Solidaritätsbuttons
hinaus Maßnahmen zur Ausdehnung des Kampfes zu treffen. Ein neuer landesweiter
und branchenübergreifender Streik ist im Mai geplant - für die Tekel-Beschäftigten viel zu spät.
Auch wenn
der Tekel-Widerstand womöglich ohne einen Sieg
abgebrochen werden muss, ist er der sichtbarste Ausdruck des Wiedererwachens
einer bis heute an den Folgen ihrer blutigen Zerschlagung unter der
Militärdiktatur der 80er Jahre leidenden Arbeiterbewegung. Obwohl die Türkei
von der weltweiten Wirtschaftskrise mit Produktionsrückgängen in Branchen wie
der Textilindustrie, dem Schiffs- und Autobau von 20 bis 50% und einem Anstieg
der offiziellen Arbeitslosenrate auf rund 15% besonders hart getroffen wurde,
setzt die AKP-Regierung unbeirrt auf eine Fortsetzung des von der EU
geforderten neoliberalen Kurses - notfalls auch mit Knüppeln und
Tränengas.
«2010 wird
ein historisches Jahr für Privatisierungen», hatte Ahmet Aksu, Vizechef der
türkischen Privatisierungsagentur ÖIB im Januar angekündigt. Zum Verkauf stehen
u.a. Kraftwerke, Zuckerfabriken und die Telekommunikation. Der Tekel-Kampf hat gezeigt, dass die Regierung von nun an mit
Widerstand rechnen muss.
Erschien in Soz –
sozialistische Zeitung 3/2010