Junge Welt 21.06.2003

Die Schlageter-Verwirrung  

Der Flirt der KPD mit dem Nationalbolschewismus im Ruhrkampf vor 80 Jahren  

 

Am 11. Januar 1923 hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt. Die französische Regierung berief sich auf Klauseln des Versailler Friedensvertrages, die für den Fall vorgesehen waren, daß Deutschland seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachkam. Die Reichsregierung unter dem Großunternehmer Wilhelm Cuno rief die Bevölkerung des Ruhrgebiets zum »passiven Widerstand« auf. »Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree!« antwortete das KPD-Zentralorgan Rote Fahne und französische Jungkommunisten warben mit Flugblättern für die Verbrüderung von französischen Soldaten und deutschen Arbeitern.

Der Wirtschaftsanalytiker der Kommunistischen Internationale Eugen Varga sah Deutschland auf den Rang einer »Industriekolonie« zurückversetzt. Und KPD-Cheftheoretiker August Thalheimer schrieb der deutschen Bourgeoisie gar eine nach außen hin revolutionäre Rolle »wider Willen« zu: »Der Krieg an der Ruhr, an dessen Spitze augenblicklich die Cuno, Stinnes & Co. stehen, also die deutsche Großbourgeoisie, ist von deutscher Seite und von außen gesehen widerspruchsvollen Charakters. Einerseits nationale Abwehr eines unterdrückten, entwaffneten, ausgebeuteten Volkes gegen den imperialistischen Unterdrücker und insofern objektiv revolutionär; andererseits und gleichzeitig der Kampf der die Abwehr gegenwärtig führenden Bourgeoisie um den Anteil an der Ausbeutung des deutschen Proletariats, der Kampf um die Quote, und insofern reaktionär.« Im Gegensatz zur KPD- Zentrale, an deren Spitze damals Heinrich Brandler stand, wiedersprach die »linke« Berliner Parteiopposition um Ruth Fischer dieser These entschieden. In Wirklichkeit ginge es dem Bürgertum nur »um die Wiederherstellung seiner imperialistischen Machtpositionen«. Die Idee, die Arbeiter müßten an der Ruhr die nicht entschieden genug kämpfende Bourgeoisie ablösen, sei »die schönste nationalbolschewistische Sumpfblüte«.

Nationalistische und faschistische Verbände wie die NSDAP wuchsen vor dem Hintergrund des Ruhrkampfes und der fortschreitenden Wirtschaftskrise rasant an. Einige von ihnen nahmen den bewaffneten Partisanenkampf gegen die Besatzungsmacht auf. Sie sprengten Brücken, Eisenbahnanlagen und Kanäle und erschossen französische Posten.

In Düsseldorf wurden sieben Mitglieder einer Freischärlergruppe wegen versuchter Sabotage vor ein französisches Kriegsgericht gestellt. Ihr Führer war der aus Baden stammende Albert Leo Schlageter, Kriegsfreiwilliger, Offizier und Freikorpskämpfer im Baltikum und Oberschlesien. Im Morgengrauen des 27. Mai richteten ihn französische Truppen in der Golzheimer Heide hin. Die Erschießung rief in allen Bevölkerungsschichten starke Erregung hervor. Tatsächlich war Schlageter nicht der idealistische Held, den nationalistische Kreise aus ihm gemacht hatten. Bei seiner Vernehmung gestand er auf die Frage nach seinen Motiven: »Was ich getan habe, habe ich getan, weil ich bei meinen Geschäften große Verluste hatte, einmal habe ich fünf Millionen verloren. Damals habe ich mir gesagt: Ach laß die Geschäfte und such dir etwas anderes.«

Die Reaktion der Kommunistischen Partei wurde nicht in Berlin formuliert. »Wir sind keine sentimentalen Romantiker, die an der Leiche die Feindschaft vergessen, und keine Diplomaten, die sagen: am Grabe Gutes reden oder schweigen. Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns, Soldaten der Revolution, männlich ehrlich gewürdigt zu werden.« Mit diesen Worten leitete Karl Radek als Deutschland-Verantwortlicher der Kommunistischen Internationale am 21. Juni 1923 auf dem 3. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) die sogenannte Schlageter-Politik der KPD ein. »Wenn die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn des Geschicks Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollen sie auf sein Denkmal schreiben: der Wanderer ins Nichts«, spielte Radek auf den Titel eines Freikorps-Romans von Friedrich Feska an. Die Völkischen hätten sich zu entscheiden: »Gegen das Ententekapital oder das russische Volk? Mit wem wollen sie sich verbinden? Mit den russischen Arbeitern und Bauern zur gemeinsamen Abschüttelung des Jochs des Ententekapitals oder mit dem Ententekapital zur Versklavung des deutschen und russischen Volkes?« Aufgabe der KPD sei es, nationalistischen Kräften des Kleinbürgertums zu zeigen, daß sie ins Lager der Arbeit, nicht des Kapitals, gehörten.

Die Veröffentlichung von Radeks Rede in der Roten Fahne stieß auf großes Interesse unter Ideologen der extremen Rechten. Der Nationalsozialist Graf von Reventlow beteiligte sich ebenso an der Debatte wie der Philosoph Moeller van den Bruck. Es erschien sogar eine gemeinsame Broschüre mit den Diskussionsbeiträgen der Kommunisten Radek und Paul Fröhlich und den genannten faschistischen Ideologen. Offenheit für Radeks Vorschläge bestand bei den Vertretern der extremen Rechten aber nur für die außenpolitische Komponente eines gemeinsamen deutsch-russischen Kampfes gegen das Versailler Diktat und die anglo-französische Entente. Innenpolitisch – in der sozialen Frage – waren die Völkischen zu keinen Zugeständnissen bereit.

Kommunistische Redner traten auf Versammlungen der Völkischen auf. Die Parteileitung der NSDAP sah sich genötigt, ihre Mitglieder vor nationalbolschewistischen Kontakten zu warnen. Die KPD-Zentrale wies die Parteimitglieder gar an, Reichswehroffizieren höflich zu begegnen und diese mit »Eure Exzellenz« anzureden. Spätestens hier zeigte sich, daß viele Kommunisten nicht bereit waren, den Schlageter-Kurs mitzutragen.

Immer gefährlichere Formen nahm die Schlageter-Politik an. Mancherorts wurden von der KPD Plakate geklebt, die neben dem Sowjetstern das Hakenkreuz zeigten. Und ZK-Mitglied Ruth Fischer – selber jüdischer Herkunft – erklärte vor faschistischen Studenten: »Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. ... Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner?«

Das Zentralkomitee der KPD hoffte, mit dem Schlageter-Kurs die deutsche Revolution voranzutreiben. Indem sich die KPD als nationale Kraft präsentierte, sollten Teile der faschistischen Bewegung für den Kommunismus gewonnen und die große Mehrheit des nationalistischen Kleinbürgertums und der Reichswehr zersetzt oder neutralisiert werden.

Der Architekt der Schlageter-Politik Karl Radek dagegen glaubte – wie seine Reden und Artikel zeigen – zu diesem Zeitpunkt nicht an eine baldige Revolution in Deutschland. Dem Geheimdiplomaten des Kreml schwebte vielmehr eine Weiterentwicklung des 1922 in Rapallo geschlossenen Bündnisses zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich zu einer Allianz gegen den anglo-französischen Imperialismus vor. Vor allem galt es, ein Einschwenken Deutschlands auf die Linie der Westmächte zu verhindern.

Die Schlageter-Linie, die vor allem Verwirrung in die Reihen der Kommunisten getragen hatte, starb ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Am 12. August 1923 stürzte die Cuno-Regierung über eine Massenstreikbewegung. Die nachfolgende große Koalition unter Reichskanzler Stresemann rief zur Beendigung des »passiven Widerstands« auf. Der Vorsitzende der Kommunistischen Internationale Grigori Sinowjew sah – unterstützt von Leo Trotzki – den Zeitpunkt für die deutsche Revolution gekommen. Da die Stresemannsche Verständigungspolitik mit den Westmächten das Projekt der deutsch-russischen Allianz gefährdete, lief jetzt auch Radek ins Lager der Revolutionsbefürworter über. Am grünen Tisch in Moskau begannen am 23. August 1923 die Planungen für den »deutschen Oktober«.

 

Nick Brauns