„Neun gerettet – rettet die Neuntausend!“

von Nick Brauns

 

Das Jahr 1932 stand im Zeichen des Bürgerkriegs. Mit drakonischen Strafverschärfungen und rasantem Demokratieabbau versuchte die Reichsregierung im Sommer 1932 der politischen Gewalt im Lande Herr zu werden und den anwachsenden, von der KPD geführten Widerstand gegen die Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung einzudämmen. Mit einer von Reichspräsident Hindenburg am 9. August erlassenen „Notverordnung gegen politischen Terror“ wurden Sondergerichte in den durch politische Gewalt besonders betroffene Gebieten eingeführt. Die Anklageschrift musste nun keine wesentlichen Ermittlungsergebnisse mehr enthalten, so dass der Angeklagte mitunter nicht einmal wusste, für welches Vergehen er vor Gericht stand. Das Gericht bestimmte aus freiem Ermessen den Umfang der Beweisaufnahme, die Ladungsfrist wurde auf 24 Stunden herabgesetzt. Die Ergebnisse der Vernehmungen im Hauptverfahren mussten nicht protokolliert werden. Rechtsmittel wie Berufung oder Revision konnten gegen die Urteile der Sondergerichte nicht eingelegt werden.

Bei „Totschlag aus politischen Motiven“ wurde die Todesstrafe als obligatorisch eingeführt und die bisherige Zuchthausmindeststrafe von einem Jahr zehn Jahre erhöht. Bis Jahresende wurden rund 50.000 Menschen von den Sondergerichten angeklagt. Zwischen dem 17.August, an dem die Sondergerichte ihre Tätigkeit aufnahmen, und dem 1.Dezember zählte der Reichstagsabgeordnete Willi Koska 2853 Personen, die in 803 Sondergerichtsverfahren verurteilt wurden. Unter den Verurteilten befanden bis zum 24. Oktober nach einer Statistik der Roten Hilfe 1059 Antifaschisten, darunter 33 Frauen. Neben Kommunisten waren auch 203 SPD- oder Reichsbannermitglieder betroffen. Die Antifaschisten wurden zu insgesamt 295 Jahren und sieben Monaten Zuchthaus sowie 458 Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Ende 1932 befanden sich rund 9000 proletarische politische Gefangene in den Gefängnissen der Weimarer Republik. Auch eine Anzahl von NSDAP-und SA-Mitglieder wurde jetzt zu hohen Haftstrafen verurteilt.  So betraf der heute bekannteste nach der Augustnotverordnung abgeurteilte Fall die faschistischen Mörder eines polnischen Arbeiters in Potempa.

 

Schüsse in der Röntgenstrasse

 

Einer der spektakulärsten Fälle von Sonderjustiz in der Endphase der Weimarer Republik war der sogenannte „Röntgenstrassenprozess“. Neun Jungkommunisten drohte nach einer Auseinandersetzung mit der SA die Todesstrafe.

 

Am Abend des 29.August 1932 begleiteten die Mitglieder einer Häuserschutzstaffel in Berlin-Charlottenburg den Referenten einer kommunistischen Versammlung zu seinem Schutz vor den Übergriffen der SA nach Hause. Als die Kommunisten das Sturmlokal des berüchtigten SA-Sturms 33 in der Röntgenstrasse auf der anderen Straßenseite passierten, wurden sie von herumlungernden SA-Leuten angegriffen. Dabei fielen mehreren Schüsse aus dem Lokal. Der SA-Mann Gatschke wurde tödlich getroffen, zwei weitere Faschisten verletzt.

 

Nicht die Mitglieder des „Mordsturms 33“, sondern neun zumeist jungendliche Kommunisten saßen am 20.September auf der Anklagebank der ersten Strafkammer des Berliner Sondergerichts. Staatsanwaltschaftsrat Wagner beschuldigte die Männer, nach einem vorgefassten Plan die SA-Taverne überfallen zu haben. Auf „Totschlag aus politischen Motiven“ lautete die Anklage von. Darauf stand nach der Augustnotverordnung die Todesstrafe.

 

Die Rote Hilfe Deutschlands hatte die fortschreitende Justizwillkür unter dem Präsidialregimes energisch bekämpft. Der Röntgenstrassenprozess bot die Chance, die laufende Kampagne gegen die Sondergerichte zu intensivieren. Über eine Million Einzel- und Kollektivmitglieder gehörten 1932 der Roten Hilfe Deutschlands als Solidaritätsorganisation für die Opfer der Klassenjustiz und des weißen Terrors an. Obwohl die Rote Hilfe eindeutig kommunistisch geführt wurde – ihr Vorsitzender war Wilhelm Pieck – waren über die Hälfte der Mitglieder parteilos.

 

Hans Litten

 

Die Rote Hilfe stellte den angeklagten Kommunisten Hans Litten als Verteidiger zur Verfügung. Dieser junge Anwalt war zu Beginn der 30er Jahre durch seine engagierte Prozessführung gegen Angehörige der SA-Stürme zu einem der bekanntesten Juristen der Roten Hilfe geworden. Litten kam aus gutbürgerlichem Elternhaus, sein Vater, ein aus Karrieregründen zum Christentum übergetretener Jude, war Ordinarius für römisches und bürgerliches Recht. Hans Litten bezeichnete sich zuweilen als „revolutionärer Marxist“, der „weit links von der Kommunistischen Partei“ stehe. Dabei schwankte er zwischen anarchistischen Ideen und einem an der Bergpredigt orientierten Christentum. Ab 1928 arbeitete er als Rechtsanwalt in Berlin. Als „Mann, der Hitler in die Enge trieb“ erlangte Litten die Bewunderung der demokratischen Öffentlichkeit und den Hass der Nationalsozialisten. Beim Prozess um den Überfall eines SA-Rollkommandos auf den Berliner Tanzpalast Eden gelang es Litten im Frühjahr 1931, Adolf Hitler persönlich als Zeugen vorzuladen. Durch dessen Vernehmung wies Litten nach, dass die Gewaltakte der SA einer planmäßigen Taktik ihres Führers entsprangen und die Legalitätsschwüre Hitlers lediglich Täuschmanöver waren. Dies sollte ihm der Nazi-Führer niemals verzeihen. „Legt dem Anarchisten endlich das unsaubere Handwerk“ forderte das SA-Blatt Der Angriff.  Immer wieder griff die SA Veranstaltungen der Roten Hilfe, auf denen Hans Litten sprach, an. Auch Mitglieder des Reichsbanner und der SAJ beteiligten sich nun am Schutz von Roten-Hilfe-Kundgebungen. Zu seinem persönlichen Schutz stellte die Rote Hilfe Litten einige Arbeiter als Bodyguards zur Verfügung.

 

Massenverteidigung

 

Die Rote Hilfe hatte erkannt, dass durch den rasanten Abbau demokratischer Rechte und rechtsstaatlicher Institutionen die Anwälte immer einflussloser wurden. Unter der Losung der Massenverteidigung ging die Rote Hilfe ab 1929 dazu über, Angeklagte durch außergerichtliche Aktivitäten zu unterstützen. „Der Rechtsanwalt muss auf das Gebiet der juristischen Verteidigung und Beratung gewiesen werden. Die politische Führung der Prozesse muss durch uns angegeben werden. Das Wichtigste ist die Massenmobilisierung auf der breitesten Basis.“ Mit Prozesszeitungen, die in Betrieben verteilt wurden, informierte die Rote Hilfe über laufende Verfahren und mobilisierte zu den Gerichtsterminen. Demonstrationen innerhalb und außerhalb des Gerichtsgebäudes sollten die Richter unter den Druck der Straße setzen und den Angeklagten moralisch den Rücken stärken. Durch das lebendige Wechselspiel zwischen der politischen Verteidigungsrede eines Angeklagten und den  Aktionen seiner Genossen innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals sollte gezeigt werden, dass die Angeklagten ihren Kampf vor Gericht stellvertretend für ihre Klasse führten.

 

Zum Auftakt der Röntgenstraßenkampagne nahmen drei Tage vor Eröffnung der Hauptverhandlung 1500 Zuhörer an einer „Kampfkonferenz gegen die faschistischen Sondergerichte“ teil. Aus 60 von 400 eingeladenen Berliner Betrieben waren Vertreter gekommen. Neben Rechtsanwalt Litten sprachen unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses im Preußischen Landtag Erich Steinfurth, das Vorstandsmitglied der Roten Hilfe Sepp Miller, der Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei Kurt Rosenfeld, der KPD-Justitiar Felix Halle sowie die Schriftsteller Ludwig Renn und Johannes R. Becher.

Insgesamt fanden anlässlich des Röntgenstraßenprozesses 22 große öffentliche Kundgebungen und 15 Versammlungen der Roten Hilfe in Berlin sowie 15 Kundgebungen in Brandenburg statt, darunter auch zwei Jugendkundgebungen. Aus Angst vor Unruhen verbot die Polizei eine Reihe von Versammlungen. So konnte eine für den Tag der voraussichtlichen Urteilsverkündung geplante Massenkundgebung im Berliner Sportpalast, auf der auch Wilhelm Pieck sprechen sollte, nicht stattfinden.

In einem Bericht der Berliner Politischen Polizeidirektion IA heißt es: „In fast allen Versammlungen traten kommunistische Rechtsanwälte als Redner auf, insbesondere der durch den Prozess Röntgenstrasse in letzter Zeit viel genannte Rechtsanwalt Dr. Litten. Während die übrigen Rechtsanwälte in ihren Ausführungen sehr vorsichtig waren, streiften die Reden Littens sowie der weiteren Referenten oft die Grenzen des Zulässigen. Es wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Sondergerichte nur ein Mittel zur Unterdrückung der Arbeiterklasse und nur gegen die Kommunisten eingerichtet worden seien. Den Gerichten wurde Parteilichkeit zugunsten der NSDAP vorgeworfen.“ Zum Abschluss der Versammlungen wurde Delegationen gewählt, die dem Justizminister eine Protesterklärung überbringen sollten. Diese Delegationen häuften sich derart, dass der Justizminister erklärte, sie nicht mehr mündlich abzufertigen, sondern nur noch schriftliche Resolutionen entgegenzunehmen. Mehrere Betriebsversammlungen beschlossen einen Proteststreik im Falle der Verhängung von Todesurteilen.

Zu Prozessbeginn forderten über 1000 Menschen vor dem Moabiter Gerichtsgefängnis lautstark die Freilassung der Angeklagten. Allein an diesem Tag verteilten Rote Helfer 150.000 Flugblätter. In den folgenden Wochen informierten eine in 18.000 Exemplaren gedruckte Prozesszeitung sowie ein Extra-Pressedienst über den Verlauf des Verfahrens. Massenhaft gingen Protestschreiben aus Betrieben und Stempelstellen aus ganz Deutschland und dem Ausland beim Gericht ein. In Berlin und Umgebung wurden Unterschriften für die Freilassung der Angeklagten gesammelt. Ganze Häuserblocks schrieben sich in die Listen ein.

 

Erfolg der Roten Hilfe

 

Für die Dauer des Prozesses waren lediglich zwei Tage angesetzt, doch die Rote Hilfe hatte über ihre Rechtsschutzkommissionen so viele Zeugen, darunter Passanten und Bewohner der umliegenden Häuser der Röntgenstrasse - ausfindig gemacht, dass der Prozess auf 12 Tage ausgedehnt werden musste. Mit Hilfe dieser Zeugen und dem Gutachten eines Ballistikers wies Litten nach, dass die Kommunisten von den SA-Männern überfallen worden und die tödlichen Schüsse aus der Waffe eines Nationalsozialisten abgegeben worden waren. Unter dem Eindruck der Zeugen zog der Staatsanwalt die Anklage wegen Todschlags zurück und beantragt nur noch Haftstrafen bis zu zehn Jahren wegen Landfriedensbruchs für fünf der Angeklagten. Der Richter erklärte dagegen am 6.Oktober, da eine Notwehrsituation nicht auszuschließen sei, falle auch der Vorwurf des Landfriedensbruchs weg und sprach alle neun Angeklagten frei.

 

Welchen Einfluss das Engagement der Roten Hilfe auf den Verlauf des Prozesses hatte, belegt das Schlussplädoyer von Staatsanwalt Wagner, der beklagte, „dass eine gewisse Organisation vorhanden sei, die überall Mitgliederbesprechungen und öffentliche Versammlungen durchführt, um Entlastungszeugen herbeizuschaffen. Es seien Körbe von Resolutionen eingegangen. Wenn jetzt die Vorgänge in der Röntgenstraße nur noch in einem sehr unklaren Lichte erscheinen, so liegt dies daran, dass bereits breite Kreise durch die Organisation zu Gunsten der Angeklagten beeinflusst seien.“

 

Die Freisprüche im Röntgenstraßenprozess wenige Wochen vor der nationalsozialistischen Machtübernahme stellten den spektakulärsten Erfolg der Massenverteidigung dar. Unter der Losung „Neun gerettet - rettet die 9000“ rief die Rote Hilfe zur Intensivierung der Kampagne gegen die Sondergerichte auf.

 

Littens Martyrium

 

Hans Litten lehnte nach dem 30.Januar 1933 die Flucht aus Deutschland ab: „Die Millionen Arbeiter können nicht heraus, also muss ich auch hier bleiben.“ Er wurde noch in der Nacht des Reichstagsbrandes in „Schutzhaft“ genommen. Im KZ-Sonnenburg, wohin auch die Literaten Erich Mühsam und Carl von Ossietzky verschleppt wurden, erwarteten ihn Angehörige des SA-Sturms 33. Nun allerdings trugen die Totschläger Polizeiuniformen.

Hans Littens Mutter Irmgard berichtete, dass selbst ein nationalsozialistischer Minister bei Hitler eine Milderung der Haftbedingungen für den bekannten Anwalt einfordern wollte. „Hitler lief blaurot an im Gesicht, als er den Namen hörte.“ Niemals würde der Diktator den Mann vergessen, der ihn einst vor Gericht bloßstellte. Am 5. Februar 1938 erhält Littens Mutter die Nachricht, dass Hans Litten im KZ Dachau von den Nationalsozialisten in den Selbstmord getrieben worden war. Über das fünfjährige Martyrium ihres Sohnes verfasste Irmgard Litten 1940 das beeindruckende und im Ausland vielbeachtete Buch „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“, dass erst jüngst in einer Neuauflage im Pahl-Rugenstein-Verlag erschien.