Sabine Hering und Kurt Schilde, Hrsg. Die Rote Hilfe: Die Geschichte der internationalen kommunistischen "Wohlfahrtsorganisation" und ihrer sozialen Aktivitäten in Deutschland (1921-1941). Opladen: Leske + Budrich Verlag, 2003. 328 S. Bibliographische Angaben und Index. EUR 24.90 (broschiert), ISBN 3-8100-3634-X.

Reviewed by Dagmar Schulte, Werknetz--Privatinstitut für Didaktik, Organisation und Entwicklung.
Published by H-Soz-u-Kult (June, 2004)


Warum ein Buch über die Rote Hilfe?, fragt Rudolph Bauer im Vorwort, worauf die HerausgeberInnen Hering/Schilde mehrere Antworten haben: um die Verknüpfung von Sozialarbeit und Politik zu zeigen, deren Auswirkungen auf die Praxis und last not least die internationalen Verbindungen, vor allem auf dauerhafte und intensive Austauschbeziehungen mit Osteuropa, was angesichts der europäischen Osterweiterung und der Aufgabe, die Sozialsysteme gemeinschaftlich zu entwickeln, nicht nur von historischem Interesse ist.

Das Buch umfasst Beiträge zum organisatorischen Aufbau der Roten Hilfe, zu ihrer Praxis sowie Portraits wichtiger ProtagonistInnen, ergänzt durch "ausgewählte Dokumente", welche lebendige und anschauliche Hintergrunddetails liefern. In "Die Organisation" wird die Entstehung der Roten Hilfe in Deutschland ausführlich beschrieben, vor allem auch ihre widersprüchliche Stellung als Solidaritätsorgan der kommunistischen Bewegung einerseits und dem "überparteilichen" Anspruch der Offenheit gegenüber allen Arbeitern andererseits. Kurt Schilde arbeitet in "Schafft Rote Hilfe!" klar heraus, in welchem Dilemma die Rote Hilfe steckte, da die Kommunistische Partei Sozialarbeit als die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse erhaltend und stützend ansah und die angestrebte gerechte gesellschaftliche Umverteilung der Gesellschaft geradezu verhinderte--eine Diskussion, die die gesamte Sozialarbeit immer und immer wieder beschäftigt und beschäftigte. Nikolaus Brauns Analyse zur Stellung der Roten Hilfe innerhalb der Arbeiterbewegung macht darüber hinaus deutlich, dass das Verhältnis zwischen kommunistischer "Wohlfahrt" und der übrigen Linken gebrochen und voller Spannungen war.

Der nächste Abschnitt zur sozialen und pädagogischen Praxis umfasst leider nur drei Beiträge, hier bleibt eine breitere Fächerung des Angebots zu wünschen. Hochinteressant sind sowohl der Beitrag von Carola Tischler zur Rechtsberatung und -hilfe sowie der Artikel von Sabine Hering zur Kinderheimpädagogik. Enttäuschend hingegen ist der Beitrag "Das proletarische Kind" zu Ansätzen einer kommunistischen pädagogischen Theoriebildung. Tischler beschreibt deutlich die finanzielle, personelle und organisatorische Verflechtung der Roten Hilfe mit der KPD, wobei letztere oft die entscheidende Instanz war. Die Rechtshilfepraxis war ein umfangreiches Tätigkeitsfeld, welches mit einer vergleichsweise sehr dünnen Personaldecke unter extremen persönlichen Einsatz abgedeckt wurde. (vgl. dazu die Biographie von Halle).

Intern wurden Mitglieder und Funktionäre von KPD, Roter Hilfe und nahe stehenden Organisationen beraten und geschult, um als Multiplikatoren Rat und Auskunft geben zu können. Extern bearbeitete die Rote Hilfe Rechtshilfeanträge angeklagter bzw. inhaftierter Arbeiter, welche sie ggf. vor Gericht vertrat und in allen Rechtsangelegenheiten direkt betreute. Neben dieser Rechtshilfe in politischen Prozessen war die Rote Hilfe noch im Arbeitsrecht, Familienrecht, Mietrecht, Rentenrecht und Asylrecht aktiv. Die Wirkungskraft der Rechtshilfe der RHD sowohl nach ihren tatsächlichen Leistungen und Erfolgen als auch in ihrer öffentlichen Ausstrahlung genauer zu erforschen, dürfte ein interessantes Stück deutscher Rechtsgeschichte erhellen. Der zweite Beitrag in diesem Abschnitt beschreibt und analysiert die Kinderheime der Roten Hilfe. Sabine Hering kontrastiert deren pädagogische Praxis mit der in den konfessionellen Kinderheimen, ein durchaus interessantes, aber nicht unumstrittenes Vorgehen bezüglich der ideologischen Durchdringung von Pädagogik.

Die erschütternden Lebensverhältnisse von Arbeiterkindern in der Weimarer Republik--zumal von traumatisierten Kindern politisch Verfolgter waren Anlass für die Einrichtung der Heime der Rote Hilfe. Deren Alltag, vor allem die Grenzen solcher Kurzzeitpädagogik, ist anschaulich und nachvollziehbar geschildert. Um sie kam es innerhalb von Roter Hilfe und KPD immer wieder zu Konflikten. Ein Konfliktbeispiel wird im Text wiedergegeben, allerdings ist das Material unvollständig, so dass eine ausgewogene Darstellung und Beurteilung nicht erfolgen kann.

Die weltanschaulich gefärbte Pädagogik wird aus Richtlinien sowie Erinnerungen ehemaliger "Gäste" und MitarbeiterInnen rekonstruiert und mit den Grundsätzen konfessioneller Heime kontrastiert. Die quasireligiöse "Heilserwartung" der Kinder an die KPD wirft allerdings die Frage auf, ob sie auf die Bemühungen der Heime zurückzuführen ist oder schlicht auf der Erfahrung der Kinder beruht, dass Hilfe für sie eben tatsächlich von dort kam.

Der Beitrag über Hoernles Schrift zur Erziehung des proletarischen Kindes ist faszinierend und unbefriedigend zugleich: Zwar versucht Hoernle eine Pädagogik jenseits aller bekannten Erziehungspraktiken zu formulieren, doch bleibt sein Konzept der "Selbsterziehung" theoretisch und in sich widersprüchlich: Familie und Schule werden rigoros abgelehnt, allein der Kampf in der proletarischen Kinder- und Jugendgruppe gilt als geeignete Erziehungsinstanz. Leider wird weder der Stellenwert Hoernles als pädagogischer Theoretiker deutlich, noch seine Kritik an den kommunistischen Kinderheimen hinreichend gewürdigt. Die Abstimmung und Zusammenschau aller Beiträge zur Pädagogik der Roten Hilfe wäre wünschenswert gewesen.

Faszinierend und bewegend zugleich sind die Biographien wichtiger Akteurinnen und Akteure der RHD, die nicht nur die Bandbreite der diesen "Wohlfahrtsverband" prägenden Persönlichkeiten und den großen Einfluss von Frauen belegen, sondern auch deren oft tragische Verflechtung mit einer immer inhumaneren Partei, die einigen von ihnen sogar das Leben kostete. Das Spektrum umfasst bei den Frauen Jelena Stassowa, die die Rote Hilfe in Deutschland mit unbeirrbarem Pflichtbewusstsein aufbaute, die "echte Arbeiterin" Rosa Aschenbrenner, die zeit ihres Lebens trotz tragischer Rückschläge politisch aktiv blieb, Ella Ehlers, die soziale Verantwortung unter wechselnden politischen Umständen trug und die kompromisslose "Überläuferin" Milena Moser, die sich so engagierte, dass sie selbst unterstützungs- und pflegebedürftig wurde.

Die drei porträtierten Männer sind womöglich noch vielfältigere Charaktere: Eugen Schönhaar als Organisator und "Mann im Hintergrund" ist zweifellos eine fesselnde Gestalt, deren Vielseitigkeit, Energie und Tatkraft in dem kurzen chronologischen Bericht hervorstechen. Ohne ihn, so scheint es, wäre die Rote Hilfe nie so schnell so erfolgreich gewesen. Der Anwalt Felix Halle und sein widersprüchliches und unauflösliches Verhältnis zur Roten Hilfe und zur Kommunistischen Partei schwanken zwischen Tragik und Groteske, bis er durch eben diese Partei ein gewaltsames Ende fand. Helmut Schinkel, der Pädagoge und Liedermacher, dessen kurzes Leben geradezu missionarisch anmutet, wird nur fragmentarisch "beleuchtet".

Der anschließende Dokumententeil erlaubt anschaulich und sehr vielfältig einen "inneren" Blick auf die Arbeit der Roten Hilfe. Der programmatische Einstieg mit dem Aufsatz von Meta Kraus-Fessel erschließt das Selbstverständnis dieser Organisation. Einen "Blick durchs Schlüsselloch" auf das alltägliche Leben in den Kinderheimen der Roten Hilfe und auf die Querelen der kommunistischen Aktiven der 20er- und 30er-Jahre gewähren die Briefe von Anni Colditz über die Kinderheimarbeit sowie über die pädagogischen Konflikte zwischen den Heimen. Die genannten Querelen führten auch zum offenen Brief "Wie liebt der linientreue Kommunist?". Wenngleich er das interne Konfliktpotential der Roten Hilfe sowie das Spannungsverhältnis zur übermächtigen KPD verdeutlicht, sind verschiedene Andeutungen und persönliche Anspielungen wohl nur für ExpertInnen verständlich. Hier fehlt leider Hintergrundmaterial.

Die umfangreiche Bibliographie belegt die gründliche Recherche der Beteiligten und bietet genügend Ansätze zum Weiterlesen und Weiterforschen. Das Buch stellt einen interessanten und facettenreichen Aufriss dar, ausgehend von der Institutionsgeschichte über die Tätigkeitsfelder bis hin zu biographischen Skizzen und Dokumenten. Es zielt auf ein breites Publikum, doch werden genaue Kenntnisse der Arbeiterbewegung und der Weimarer Republik vorausgesetzt, auch Vertrautheit mit KPD-internen Differenzen wie z.B. dem Konflikt um Brandler/Thalheimer. Für Nicht-Spezialisten wären Hintergrundinformationen notwendig, ähnlich wie bei den von Tischler referierten Prozessen. Abschließend bleibt dem Problem--über die Schließung der Forschungslücken und der Auslotung der "Ost-Verbindungen" hinaus--eine breite Rezeption zu wünschen, die neben HistorikerInnen und PolitologInnen auch PädagogInnen, SozialarbeiterInnen sowie politisch und sozial Interessierte einschließen sollte.

 

Citation: Dagmar Schulte. "Review of Sabine Hering und Kurt Schilde, Hrsg., Die Rote Hilfe: Die Geschichte der internationalen kommunistischen "Wohlfahrtsorganisation" und ihrer sozialen Aktivitäten in Deutschland (1921-1941)," H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews, June, 2004. URL: http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=266891088192851.

 

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