|
Sabine Hering und Kurt
Schilde, Hrsg. Die Rote Hilfe:
Die Geschichte der internationalen kommunistischen
"Wohlfahrtsorganisation" und ihrer sozialen Aktivitäten in
Deutschland (1921-1941). Opladen:
Leske + Budrich Verlag, 2003. 328 S. Bibliographische Angaben und Index. EUR
24.90 (broschiert), ISBN 3-8100-3634-X. Reviewed by Dagmar Schulte,
Werknetz--Privatinstitut für Didaktik, Organisation und Entwicklung.
Das Buch umfasst Beiträge zum
organisatorischen Aufbau der Roten Hilfe, zu ihrer Praxis sowie Portraits
wichtiger ProtagonistInnen, ergänzt durch "ausgewählte Dokumente",
welche lebendige und anschauliche Hintergrunddetails liefern. In "Die
Organisation" wird die Entstehung der Roten Hilfe in Deutschland
ausführlich beschrieben, vor allem auch ihre widersprüchliche Stellung als
Solidaritätsorgan der kommunistischen Bewegung einerseits und dem
"überparteilichen" Anspruch der Offenheit gegenüber allen Arbeitern
andererseits. Kurt Schilde arbeitet in "Schafft Rote Hilfe!" klar
heraus, in welchem Dilemma die Rote Hilfe steckte, da die Kommunistische
Partei Sozialarbeit als die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse
erhaltend und stützend ansah und die angestrebte gerechte gesellschaftliche
Umverteilung der Gesellschaft geradezu verhinderte--eine Diskussion, die die
gesamte Sozialarbeit immer und immer wieder beschäftigt und beschäftigte.
Nikolaus Brauns Analyse zur Stellung der Roten Hilfe innerhalb der
Arbeiterbewegung macht darüber hinaus deutlich, dass das Verhältnis zwischen
kommunistischer "Wohlfahrt" und der übrigen Linken gebrochen und
voller Spannungen war. Der nächste Abschnitt zur sozialen und
pädagogischen Praxis umfasst leider nur drei Beiträge, hier bleibt eine
breitere Fächerung des Angebots zu wünschen. Hochinteressant sind sowohl der
Beitrag von Carola Tischler zur Rechtsberatung und -hilfe sowie der Artikel
von Sabine Hering zur Kinderheimpädagogik. Enttäuschend hingegen ist der
Beitrag "Das proletarische Kind" zu Ansätzen einer kommunistischen
pädagogischen Theoriebildung. Tischler beschreibt deutlich die finanzielle,
personelle und organisatorische Verflechtung der Roten Hilfe mit der KPD,
wobei letztere oft die entscheidende Instanz war. Die Rechtshilfepraxis war
ein umfangreiches Tätigkeitsfeld, welches mit einer vergleichsweise sehr
dünnen Personaldecke unter extremen persönlichen Einsatz abgedeckt wurde.
(vgl. dazu die Biographie von Halle). Intern wurden Mitglieder und Funktionäre
von KPD, Roter Hilfe und nahe stehenden Organisationen beraten und geschult,
um als Multiplikatoren Rat und Auskunft geben zu können. Extern bearbeitete
die Rote Hilfe Rechtshilfeanträge angeklagter bzw. inhaftierter Arbeiter,
welche sie ggf. vor Gericht vertrat und in allen Rechtsangelegenheiten direkt
betreute. Neben dieser Rechtshilfe in politischen Prozessen war die Rote
Hilfe noch im Arbeitsrecht, Familienrecht, Mietrecht, Rentenrecht und
Asylrecht aktiv. Die Wirkungskraft der Rechtshilfe der RHD sowohl nach ihren tatsächlichen
Leistungen und Erfolgen als auch in ihrer öffentlichen Ausstrahlung genauer
zu erforschen, dürfte ein interessantes Stück deutscher Rechtsgeschichte
erhellen. Der zweite Beitrag in diesem Abschnitt beschreibt und analysiert
die Kinderheime der Roten Hilfe. Sabine Hering kontrastiert deren
pädagogische Praxis mit der in den konfessionellen Kinderheimen, ein durchaus
interessantes, aber nicht unumstrittenes Vorgehen bezüglich der ideologischen
Durchdringung von Pädagogik. Die erschütternden Lebensverhältnisse von
Arbeiterkindern in der Weimarer Republik--zumal von traumatisierten Kindern
politisch Verfolgter waren Anlass für die Einrichtung der Heime der Rote
Hilfe. Deren Alltag, vor allem die Grenzen solcher Kurzzeitpädagogik, ist
anschaulich und nachvollziehbar geschildert. Um sie kam es innerhalb von
Roter Hilfe und KPD immer wieder zu Konflikten. Ein Konfliktbeispiel wird im
Text wiedergegeben, allerdings ist das Material unvollständig, so dass eine
ausgewogene Darstellung und Beurteilung nicht erfolgen kann. Die weltanschaulich gefärbte Pädagogik wird
aus Richtlinien sowie Erinnerungen ehemaliger "Gäste" und
MitarbeiterInnen rekonstruiert und mit den Grundsätzen konfessioneller Heime
kontrastiert. Die quasireligiöse "Heilserwartung" der Kinder an die
KPD wirft allerdings die Frage auf, ob sie auf die Bemühungen der Heime
zurückzuführen ist oder schlicht auf der Erfahrung der Kinder beruht, dass
Hilfe für sie eben tatsächlich von dort kam. Der Beitrag über Hoernles Schrift zur
Erziehung des proletarischen Kindes ist faszinierend und unbefriedigend
zugleich: Zwar versucht Hoernle eine Pädagogik jenseits aller bekannten
Erziehungspraktiken zu formulieren, doch bleibt sein Konzept der
"Selbsterziehung" theoretisch und in sich widersprüchlich: Familie
und Schule werden rigoros abgelehnt, allein der Kampf in der proletarischen
Kinder- und Jugendgruppe gilt als geeignete Erziehungsinstanz. Leider wird
weder der Stellenwert Hoernles als pädagogischer Theoretiker deutlich, noch
seine Kritik an den kommunistischen Kinderheimen hinreichend gewürdigt. Die
Abstimmung und Zusammenschau aller Beiträge zur Pädagogik der Roten Hilfe
wäre wünschenswert gewesen. Faszinierend und bewegend zugleich sind die
Biographien wichtiger Akteurinnen und Akteure der RHD, die nicht nur die
Bandbreite der diesen "Wohlfahrtsverband" prägenden
Persönlichkeiten und den großen Einfluss von Frauen belegen, sondern auch
deren oft tragische Verflechtung mit einer immer inhumaneren Partei, die
einigen von ihnen sogar das Leben kostete. Das Spektrum umfasst bei den
Frauen Jelena Stassowa, die die Rote Hilfe in Deutschland mit unbeirrbarem
Pflichtbewusstsein aufbaute, die "echte Arbeiterin" Rosa
Aschenbrenner, die zeit ihres Lebens trotz tragischer Rückschläge politisch
aktiv blieb, Ella Ehlers, die soziale Verantwortung unter wechselnden
politischen Umständen trug und die kompromisslose "Überläuferin"
Milena Moser, die sich so engagierte, dass sie selbst unterstützungs- und
pflegebedürftig wurde. Die drei porträtierten Männer sind womöglich
noch vielfältigere Charaktere: Eugen Schönhaar als Organisator und "Mann
im Hintergrund" ist zweifellos eine fesselnde Gestalt, deren
Vielseitigkeit, Energie und Tatkraft in dem kurzen chronologischen Bericht
hervorstechen. Ohne ihn, so scheint es, wäre die Rote Hilfe nie so schnell so
erfolgreich gewesen. Der Anwalt Felix Halle und sein widersprüchliches und
unauflösliches Verhältnis zur Roten Hilfe und zur Kommunistischen Partei
schwanken zwischen Tragik und Groteske, bis er durch eben diese Partei ein
gewaltsames Ende fand. Helmut Schinkel, der Pädagoge und Liedermacher, dessen
kurzes Leben geradezu missionarisch anmutet, wird nur fragmentarisch
"beleuchtet". Der anschließende Dokumententeil erlaubt
anschaulich und sehr vielfältig einen "inneren" Blick auf die
Arbeit der Roten Hilfe. Der programmatische Einstieg mit dem Aufsatz von Meta
Kraus-Fessel erschließt das Selbstverständnis dieser Organisation. Einen
"Blick durchs Schlüsselloch" auf das alltägliche Leben in den
Kinderheimen der Roten Hilfe und auf die Querelen der kommunistischen Aktiven
der 20er- und 30er-Jahre gewähren die Briefe von Anni Colditz über die
Kinderheimarbeit sowie über die pädagogischen Konflikte zwischen den Heimen.
Die genannten Querelen führten auch zum offenen Brief "Wie liebt der
linientreue Kommunist?". Wenngleich er das interne Konfliktpotential der
Roten Hilfe sowie das Spannungsverhältnis zur übermächtigen KPD verdeutlicht,
sind verschiedene Andeutungen und persönliche Anspielungen wohl nur für
ExpertInnen verständlich. Hier fehlt leider Hintergrundmaterial. Die umfangreiche Bibliographie belegt die
gründliche Recherche der Beteiligten und bietet genügend Ansätze zum
Weiterlesen und Weiterforschen. Das Buch stellt einen interessanten und
facettenreichen Aufriss dar, ausgehend von der Institutionsgeschichte über
die Tätigkeitsfelder bis hin zu biographischen Skizzen und Dokumenten. Es
zielt auf ein breites Publikum, doch werden genaue Kenntnisse der
Arbeiterbewegung und der Weimarer Republik vorausgesetzt, auch Vertrautheit
mit KPD-internen Differenzen wie z.B. dem Konflikt um Brandler/Thalheimer.
Für Nicht-Spezialisten wären Hintergrundinformationen notwendig, ähnlich wie
bei den von Tischler referierten Prozessen. Abschließend bleibt dem
Problem--über die Schließung der Forschungslücken und der Auslotung der
"Ost-Verbindungen" hinaus--eine breite Rezeption zu wünschen, die
neben HistorikerInnen und PolitologInnen auch PädagogInnen,
SozialarbeiterInnen sowie politisch und sozial Interessierte einschließen
sollte. |
Citation: Dagmar Schulte. "Review of Sabine Hering und Kurt
Schilde, Hrsg., Die Rote Hilfe: Die Geschichte der internationalen
kommunistischen "Wohlfahrtsorganisation" und ihrer sozialen
Aktivitäten in Deutschland (1921-1941)," H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews,
June, 2004. URL:
http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=266891088192851.
Copyright
© 2004 by H-Net, all rights reserved. H-Net permits the redistribution and
reprinting of this work for nonprofit, educational purposes, with full and
accurate attribution to the author, web location, date of publication,
originating list, and H-Net: Humanities & Social Sciences Online. For any
other proposed use, contact the Reviews editorial staff at hbooks@mail.h-net.msu.edu. |