Junge Welt 23.07.2014 / Ausland / Seite 7
Wenige
Wochen vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei hat die Polizei am gestrigen
Dienstag zu einem massiven Schlag gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung
innerhalb des Sicherheitsapparates des Landes ausgeholt. Bei Razzien in 22
Provinzen wurden mindestens 200 Wohnungen und Arbeitsplätze von Polizeibeamten
durchsucht, die der pantürkisch-islamischen Gemeinde des in den USA lebenden
Predigers Fethullah Gülen angehören sollen. Laut dem
Sender CNNTürk waren zuvor Haftbefehle gegen 134
Verdächtige ausgestellt worden, von denen mindestens 55 ausgeführt wurden.
Unter den mit hinter dem Rücken gefesselten Händen abgeführten Beamten befinden
sich zwei frühere Leiter der Istanbuler Anti-Terror-Abteilung und drei
ehemalige stellvertretende Polizeichefs. Die meisten der Festgenommenen hatten
führende Positionen während eines am 17. Dezember 2013 bekanntgewordenen
Korruptionsermittlungsverfahrens gegen hochrangige Politiker der
islamisch-konservativen Regierungspartei AKP einschließlich mehrerer Minister
innegehabt. In der Folge dieses von Ministerpräsident Recep Tayyip
Erdogan als »Justizputsch« bezeichneten Verfahrens hatte die Regierung rund
15000 Polizisten und andere Staatsangestellte versetzen oder von ihren Posten
ablösen lassen, denen vorgeworfen wurde, der Gülen-Bewegung nahezustehen.
Bereits am Montag hatte die Gülen-nahe Tageszeitung Zaman eine entsprechende
Polizeioperation für den folgenden Tag unter Berufung auf regierungsnahe
Journalisten angekündigt. Diese seien angewiesen worden, sich bereits in den
frühen Morgenstunden in Bereitschaft zu halten. Zudem hatte Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan am Sonntag gegenüber dem Sender
TGRT angekündigt, die Gülen-Bewegung in das zuletzt im Jahr 2010 aktualisierte
»Rote Buch« des Nationalen Sicherheitsrates über innere und äußere Bedrohungen
der Türkei aufzunehmen. »Eine Organisation, die unsere nationale Sicherheit
gefährdet, wird natürlich ihren Platz darin finden«, erklärte Erdogan und
bezeichnete den Kampf gegen den »Parallelstaat« als »Priorität des Staates«.
Nach der Regierungsübernahme der islamisch-konservativen AKP im Jahr 2002 war
es zum Bündnis mit Gülen-Bewegung gekommen, deren Anhänger bereits damals durch
jahrzehntelange Unterwanderung über Einfluß im
Polizei- und Justizapparat verfügten. Gemeinsam schalteten sie ihre
laizistischen Gegner in der Staats- und Militärbürokratie aus. Wichtigste
Methode waren auf gefälschten Beweisen beruhende Schauprozesse wegen der
angeblichen Bildung eines Ergenekon genannten Putschistennetzwerkes. Anschließend kam es jedoch zum
Zerwürfnis zwischen Erdogan und den Gülenisten.
Streitpunkte waren die Verteilung der Pfründe und Posten aber auch politische
Fragen wie der von der Gülen-Bewegung abgelehnte Friedensprozeß
mit der kurdischen PKK.
Vor wenigen Wochen enthüllte die liberale Tageszeitung Radikal eine »geheime«
Anweisung des Leiters der Abteilung für Terrorismusbekämpfung im Nationalen
Polizeipräsidium. 30 Provinzpolizeipräsidien wurden darin zu Ermittlungen gegen
die Gülen-Bewegung aufgefordert – einschließlich von Millionen Schülern und
Studenten, die in den vergangenen zehn Jahren deren Bildungseinrichtungen
besucht hatten. Überprüft werden sollte, ob die Gülen-Bewegung eine geheime
»bewaffnete Gruppe« habe und inwieweit Gülen-Anhänger in eine Reihe von Morden
an Christen in den Jahren 2006 und 2007 – darunter der armenische Journalist Hrant Dink, drei Missionare in Malatiya und der Priester Santoro in Trabzon – verwickelt
waren. So hatten Gülen-Anhänger in Polizei und Justiz die Ermittlung der
Hintermänner des Mordes an Dink verhindert, deren
Spuren bis in den Staatsapparat führten. Das behauptet jetzt auch die AKP-nahe
Tageszeitung Sabah. Mögliches Motiv für eine Tatverwicklung der Gülen-Bewegung
in solche Morde könnte die Fälschung von »Beweisen« für die Existenz von Ergenekon sein. In dem angeblichen Putschplan von Ergenekon wurde die Ermordung von Christen ausdrücklich
thematisiert.