"Volldampf vorwärts nach Euphrat und Tigris"

Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. vor 100 Jahren

 

Wenn heute trotz vorübergehender Spannungen von der traditionellen deutsch-türkischen Freundschaft die Rede ist, blicken die Politiker beider Länder auf eine über 100jährige enge Zusammenarbeit zurück. Ein symbolträchtiger  Höhepunkt war die Orientreise Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1898.

Ende des 19.Jahrhunderts war das Deutsche Reich in sein imperialistisches Stadium eingetreten. Wichtiges Ziel der deutschen "Weltpolitik" war das Osmanische Reich, das von Mazedonien bis ins heutige Libyen reichte. Die europäischen Großmächte und Rußland gierten danach, sich Teile des "kranken Mannes am Bosporus" einzuverleiben. Die Dardanellen und der Suezkanal, der Landweg nach Indien, die Rohstoffe Mesopotamiens, Persiens und des Kaukasus gaben dem Reich eine enorme geostrategische Bedeutung. Ersten Einfluß hatte Deutschland gewonnen, als ab 1882 eine deutsche Militärmission die marode türkische Armee reorganisierte. 1889 gründete die Deutsche Bank die Anatolische Eisenbahngesellschaft, die später für den Bau der Bagdadbahn zuständig war. Nicht die militärische Besatzung des osmanischen Reiches war die deutsche imperialistische Strategie, sondern die sogenannte friedliche Durchdringung des Orients mit deutscher Wirtschaft, Politik und Kultur. Vor diesem Hintergrund muß die Orientreise des deutschen Kaisers gesehen werden.

Am 12. Oktober stach die Armada des Kaisers unter Führung der 4000-Tonnen Yacht "Hohenzollern" in See. Begleitet wurde Wilhelm II. unter anderem von seiner Frau Auguste Viktoria, Staatssekretär Bülow und den Chefs des Marine,- Militär- und Zivilkabinetts. Zudem begleitete den Kaiser eine Vielzahl protestantischer und katholischer Würdenträger.

Erste Station war die osmanische Hauptstadt Konstantinopel. Dort traf Wilhelm II. den osmanischen Herrscher Sultan Abdul Hamid. Demonstrativ versicherte er ihm seine Freundschaft.  Nach Massakern an den Armeniern wurde der extrem paranoide und grausame "rote Sultan" von anderen europäischen Politikern weitgehend gemieden. Nur der deutsche Kaiser hielt ihm die Treue. Über Haifa ging die Reise weiter nach Jerusalem, wo am 28.Oktober ein großes Zeltlager aufgeschlagen wurde. In dieser für Christen, Moslems und Juden heiligen Stadt ist die Verbindung zwischen Religion und Politik offensichtlich. Dessen war sich der Kaiser völlig bewußt, als er in den folgenden Tagen mit Vertretern aller Religionsgruppen zusammentraf. So weihte er am 31.Oktober die von deutschen Protestanten erbaute Erlöserkirche ein und versicherte sich der Treue der protestantischen Siedler im Orient. Den württembergischen Templern, einer protestantischen Sekte, die in Palästina sieben Kolonien unterhielt und politisch dem Alldeutschen Verband nahestand, sicherte der Kaiser weiterhin Schutz und Hilfe zu.

Mit der Schenkung des angeblichen Wohnhauses Marias, der Dormitio Sanctae Marie, an den deutschen Katholischen Palästinaverein verfolgte der Kaiser außen- wie innenpolitische Ziele. Im deutschen Reichstag war die Regierung für ihr Flottenrüstungsprogramm auf die Stimmen der katholischen Zentrumspartei angewiesen. Katholische Zeitungen hatten den Kaiser für seine übermäßige Freundschaft mit dem Armeniermörder Abdul Hamid scharf kritisiert. Die deutschen Katholiken sollten durch die Schenkung der Dormitio fester an den protestantischen Kaiser gebunden werden. Hinter dieser Geste steckte allerdings auch eine antifranzösische Intention. Traditionell hielt Frankreich die Schutzherrschaft über alle im Osmanischen Reich lebenden Katholiken ungeachtet ihrer Nationalität. Staatssekretär von Bülow forderte, "alles zu unterstützen, was einerseits dem französischen Prestige in der Levante Abbruch tun und andererseits dem neuerdings mehr hervortretenden  Antagonismus der deutschen gegen die französischen Katholiken in Orientangelegenheiten wachhalten kann". Die Einweihung der Dormition unter Beteiligung kaiserlicher Marinesoldaten und imperialer Symbolik geriet zur antifranzösischen Machtdemonstration. Freiherr Marschall von Bieberstein, der deutsche Botschafter in Konstantinopel rühmte, durch den Besuch des Kaisers habe das französische Kirchenprotektorat "ein erhebliches Loch bekommen". Tatsächlich wurden die deutschen Katholiken im Osmanischen Reich eine wachsende Bastion des deutschen Nationalismus. Mit ihren Schulen und Missionsstationen trugen sie ganz im Sinne der Strategie einer "friedlichen Durchdringung" zur stetigen Verbreitung des "Deutschtums" bei. Dennoch bekräftigte der Vatikan am 8.Oktober 1898 nochmals das französische Katholikenprotektorat.

Auch mit dem Führer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, traf sich der Kaiser. Herzls Idee war die eines autonomen Judenstaates im Osmanischen Reich unter deutschem Protektorat. "Eine chartered Company - unter deutschem Schutz", charakterisierte der Zionist seinen Plan. Schon aus innenpolitischen Motiven zeigte Wilhelm II Interesse an dieser Idee. 1897 hatte er in offen antisemitischer Weise erklärt: "Ich bin sehr dafür, daß die Mauschels nach Palästina gehen; je eher sie dorthin abrücken, desto besser." Dort wiederum erhoffte sich der Kaiser durch die deutschstämmigen jüdischen Siedlern eine Erweiterung des deutschen Einflusses. Da Wilhelm II. die Furcht Sultan Abdul Hamids vor fremden Kolonien auf osmanischen Territorium kannte, blieb er Herzl gegenüber unverbindlich. Er bemühte sich zweimal, den Sultan vom Plan des Zionistenführers zu überzeugen, scheiterte aber jedesmal am berechtigten Mißtrauen Abdul Hamids. Von da an stellte sich Wilhelm II. gegen den Plan eines deutschen Judenprotektorates. Insgesamt war die zionistische Bewegung zu schwach, um ein ernsthafter Verbündeter Deutschlands zu sein. Die guten Beziehungen zum Sultan waren für die deutsche Politik wichtiger.

Entsetzt durch die Zersplitterung und Schwäche der christlichen Kirchen und Sekten im Heiligen Land schrieb Wilhelm II. nach seinem Jerusalembesuch an den russischen Zaren Nikolaus II.: "Meine persönliche Empfindung beim Verlassen der Heiligen Stadt war, daß ich mich tief beschämt den Moslems gegenüber fühlte, und daß ich, wenn ich ohne Religion dorthin gekommen wäre, sicherlich Mohammedaner geworden wäre." Über Beirut war der Kaiser nach Damaskus gelangt. Diese Stadt mit ihren Basaren und Moscheen, mit den jubelnden Arabern, die den deutschen Gast überschwenglich empfingen, beeindruckte Wilhelm II. schwer. "Dies war das schönste, was wir noch erlebt haben", rief der Monarch aus. Überschwenglich war auch seine Dankesrede auf einem Empfang in der Stadthalle von Damaskus. "Möge seine Majestät der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, welche auf der Erde zerstreut lebend in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird", lautete der Trinkspruch Wilhelms II.  Die viel zu hoch gegriffene Zahl von 300 Millionen Moslems hatte der Kaiser bei einer zuvor von einem arabischen Scheich gehaltenen Rede aufgeschnappt. Aus Angst vor dem Unverständnis der deutschen Christen wollte Fürst Bülow anfangs die Veröffentlichung des Trinkspruches verhindern. Immer wieder versuchen Historiker, die Bedeutung dieser Rede zu vertuschen. Sie sei lediglich eine spontane noble Geste gewesen. Doch bei genauerem Hinsehen erscheint die Rede durchaus mit der deutschen Politik vereinbar. Der deutsche Archäologe Max Freiherr von Oppenheim hatte als Attaché beim deutschen Generalkonsulat in Ägypten bereits am 5.Juli 1898 eine Denkschrift über den Nutzen des Panislamismus für die deutsche Orientpolitik geschrieben. Die Idee des Panislamismus vereinige 260 Millionen Mohammedaner über alle nationalen Grenzen hinaus, von denen ein Großteil im türkischen Sultan ihren religiösen Führer sahen. Ein möglicher Djihad (Heilige Krieg) gegen die britischen, russischen und französischen Imperialisten, von denen die Mehrzahl der Moslems beherrscht wurde, machte die islamischen Völker in Oppenheims Augen zu natürlichen Verbündeten des Deutschen Reiches. Es gilt als wahrscheinlich, daß Kaiser Wilhelms II. Damaskusrede von den Gedanken Oppenheims beeinflußt war. Mit einem praktischen Symbol besiegelte Deutschland das Bündnis mit dem Islam im Jahre 1908. Deutsche Techniker bauten die Hedschas Bahn, die es den islamischen Pilgern ermöglichte, die Heiligtümer von Mekka und Medina bequemer zu erreichen. Der Kaiser blieb bis zuletzt der Idee eines von Deutschland unterstützten Heiligen Krieges gegen die imperialistischen Konkurrenten treu. Kurz nach den Schüssen von Sarajewo befahl Wilhelm II.: "Unsere Konsuln in Türkei, Indien, Agenten usw. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen." Eine Nachrichtenstelle Orient unter Leitung Oppenheims koordinierte weitgehend erfolglos die Versuche deutscher Agenten während des Weltkrieges, islamische Führer zum Heiligen Krieg zu bewegen. Es kamen sogar Flugblätter in Umlauf, die das Gerücht verbreiteten, der Kaiser sei zum Islam übergetreten.

Die Orientreise des deutschen Kaisers endete am 1.Dezember 1898 in Berlin. Wie ein siegreicher Feldherr kehrte der Monarch von seinem Kreuzzug zurück. Die nationalistische Presse jubelte. "Also Volldampf vorwärts nach dem Euphrat und Tigris und nach dem Persischen Meer und damit der Landweg nach Indien wieder in die Hände, in die er allein gehört, in die kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände", tönten die chauvinistischen Alldeutschen Blätter. Und der gekrönte Pilgerfahrer konnte tatsächlich Erfolge vorweisen. Der deutsche Einfluß im Osmanischen Reich vermehrte sich indirekt. In der Symbolik des Kaiserbesuchs auf den Spuren Barbarossas, der Einweihung der Erlöserkirche am Jahrestag des Anschlags von Luthers Thesen, dem Zeigen kaiserlicher Symbole bei der Übergabe der Dormitio lag der Machtausbau. Nicht mit Flottenstützpunkten im Heiligen Land, wie das Ausland anfangs mutmaßte, sondern durch den Besitz heiliger und religiöser Stätten stritt das Deutsche Reich um Einfluß und führte einen Kulturkampf gegen die französische Dominanz. Deutschlands Einfluß war nach dem Kaiserbesuch im Orient nicht nur gefestigt, sondern noch ausgeweitet worden.

Die unter religiösen Vorzeichen geführte Reise hatte, auch wenn dies nach offiziellen Verlautbarungen nie ihre Zweck war, zu konkreten wirtschaftlichen Ergebnissen geführt. Die demonstrative Freundschaft zum türkischen Sultan und das Versprechen des Kaisers, jederzeit deutsche Bürger und Einrichtungen zu schützen, hatte deutsche Firmen und Banken zu verstärkten Kapitalinvestitionen im Osmanischen Reich ermutigt. Die politische Autorität Sultan Abdul Hamids war durch den Besuch seines kaiserlichen Freundes soweit gegenüber der jungtürkischen Opposition und seine nichttürkischen Untertanen gestärkt worden, daß sowohl potentielle Investoren, als auch die anderen Großmächte begriffen, Deutschland würde den Herrscher auch in Zukunft stützen. Neben allgemeiner Intensivierung der schon bestehenden Wirtschaftsbeziehungen erlangten deutsche Investoren durch die Kaiserreise die Konzession für den Hafenbau von Haidar Pascha und für die Verlegung eines deutschen Nachrichtenkabels von Konstanza in Rumänien nach Konstantinopel.

Wichtigstes Ergebnis der Reisediplomatie war die Zusage auf eine baldige Konzessionsvergabe für den Bau der Bagdadbahn. Mit dieser Bahnlinie von Berlin und Wien über Konstantinopel bis nach Bagdad sollten die asiatischen Märkte für die deutsche Wirtschaft auf dem Landweg erreichbar sein. Gleichzeitig sollten im Sinne der friedlichen Durchdringung deutsches Kapital und deutsche Siedler entlang des Schienenstranges ins Osmanische Reich eindringen. Auch für den Sultan hatte die Bahn militärstrategische Bedeutung. Mit ihr konnten auf dem Truppen zur Aufstandsbekämpfung quer durch die Türkei transportiert und der Zusammenhalt des maroden Reiches gefestigt werden. Neben der Flottenrüstung wurde die Bagdadbahn zum wichtigsten Projekt der deutschen Weltpolitik. "Die Rückwirkung der Kaiserreise wird sich hoffentlich bis zu den Ufern des Euphrat geltend machen", hatte Staatssekretär Bülow noch während der Reise geäußert. Der Orientreferent des Auswärtigen Amtes Friedrich Rosen charakterisierte die Bagdadbahnkonzession für die Deutsche Bank treffend als Gastgeschenk des Sultans und der Kaiser sprach fortan nur noch von "meiner Bahn". Baubegin war 1903. Das letzte Teilstück wurde erst 1940 vollendet.

Jenseits aller zur Schau gestellten Frömmigkeit erklärte der Kaiser nach seiner Rückkehr den wirklichen Hintergrund seiner Reise: "Ich hoffe, daß meine Reise dazu beigetragen hat, der deutschen Energie und der deutschen Thatkraft neue Absatzgebiete zu eröffnen, und daß es mir gelungen ist, mitzuwirken, die Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern, dem türkischen und dem deutschen, zu befestigen."

Welcher Art diese Beziehungen tatsächlich waren, brachte die "Welt am Montag" am 21.November 1898 auf den Punkt: "Nur die Türkei kann das Indien Deutschlands werden. [...] Der Sultan muß unser Freund bleiben, natürlich mit dem Hintergedanken, daß wir ihn zum Fressen gern haben. Zunächst freilich kann unsere Freundschaft völlig selbstlos sein. Wir helfen den Türken, Eisenbahnen bauen und Höfen anlegen. [...] Der kranke Mann wird gesund gemacht, so gründlich kuriert, daß er, wenn er aus dem Genesungsschlaf aufwacht, nicht mehr zum Wiedererkenne ist. Man möchte meinen, er sehe ordentlich blond, blauäugig germanisch aus. Durch unsere liebende Umarmung haben wir ihm soviel deutsche Säfte einfiltriert, daß er kaum noch von einem Deutschen zu unterscheiden ist. So können und wollen wir die Erben der Türkei werden, von ihr selbst dazu eingesetzt. Wir pflegen den Erblasser getreulichst bis zu seinem Tode. [...] Diesem Zukunftsgedanken hat die Kaiserreise kräftig vorbereitet."

 

Dr. Nikolaus Brauns

(Artikel aus der Tageszeitung junge Welt)