Aus: Die Rote Hilfe 1/2021

Für die Einheit

In seinem Roman „Der Abgrund“ setzte Oskar Maria Graf der Roten Hilfe ein literarisches Denkmal

Von Nick Brauns

Der Zeitroman „Der Abgrund“ war das erste von Oskar Maria Graf nach seiner Flucht vor den Nazis im österreichischen und tschechischen Exil verfasste Buch. Es ist zugleich das am unmittelbarsten politische Werk des bayerischen Schriftstellers, der angesichts des Voranschreitens des Faschismus in Europa mit literarischen Mitteln zur antifaschistischen Einheitsfront der Arbeiterbewegung beitragen wollte. Während die legalitätsbesessene deutsche Sozialdemokratie kampflos vor den Nazis kapituliert hatte, wagten Teile der österreichischen Arbeiterklasse im Februar 1934 noch den Widerstand gegen die Errichtung der Diktatur des austrofaschistischen Dollfuß-Regimes. Graf schrieb seinen Roman in den vier Monaten nach dem Scheitern dieses bewaffneten Widerstands des sozialdemokratischen Schutzbundes. „An Hand eines kaum zu bewältigenden, oft sehr widersprechenden Tatsachenmaterials habe ich einen politischen Zeitroman zu gestalten versucht“, bemerkte Graf über sein Buch. „Die manchmal nur schwer verständlichen Motive und die taktischen Fehler in der Politik der deutschen Sozialdemokratie und der Kommunistischen Partei, die Ursachen, welche Hitler zur Macht brachten, und die ersten Probleme der Emigration – dies alles ist gewissermaßen die Basis, auf der ich die Handlung aufbaue.“ Im Mittelpunkt steht die Geschichte der süddeutschen sozialdemokratischen Familie Hochegger in der Zeit ab Mitte der 1920er Jahre bis 1934. Vater Hochegger ist ein tief in der Sozialdemokratie verwurzelter aber eigentlich unpolitischer Bürokrat, dem Ruhe und Ordnung über alles gehen. Einer seiner Söhne hat sich den Nazis angeschlossen. Der andere Sohn dagegen, der junge Arbeiter Joseph, erscheint als positive Identifikationsfigur, die von Graf mit autobiographischen Zügen ausgestattet wurde. Obwohl sich Joseph Hochegger organisatorisch nicht von der Sozialdemokratie trennen will, in die er praktisch hineingeboren wurde, erkennt er im rabiaten Antikommunismus der sozialdemokratischen Führung ein Grundübel, das das Zusammenkommen der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Parteigrenzen hinweg gegen den Faschismus als gemeinsamen Feind verhindert. Doch auch der mitunter dogmatisch erscheinenden Politik der Kommunistischen Partei steht der junge Hochegger trotz seiner Sympathien für die kämpferischen Genossinnen und Genossen skeptisch gegenüber. Joseph Hochegger engagiert sich schon in München bei der Roten Hilfe Deutschlands. Diese proletarische Hilfsorganisation für politische Gefangene und Verfolgte aus der Arbeiterbewegung war zwar in ihrer Führung kommunistisch dominiert, aber von ihrer Mitgliedschaft her überparteilich, wenn auch die Sozialdemokratie einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der Roten Hilfe erlassen hatte. Nach ihrer Flucht sind Joseph Hochegger und seine Frau Klara im illegalen Beratungsdienst der österreichischen Roten Hilfe in Wien tätig. Und nach den Wiener Februarkämpfen finden sie sich in deren Quartier wieder. „Klara las endlich im ‚Neuen Wiener Tageblatt‘ die Losung und fand das Versteck der ‚Roten Hilfe‘. Da waren fremde Genossen, die Tag und Nacht schufteten. Versprengte und Gefährdete wurden verborgen, mit falschen Papieren und Geld versehen und auf die Flucht gebracht“, heißt es über die Arbeit der Solidaritätsorganisation. Der Roman spiegelt Grafs eigene Erfahrung wieder. Denn auch der Schriftsteller hatte in München in den 1920er und frühen 30er Jahren die Rote Hilfe aktiv unterstützt. Er trat auf ihren Veranstaltungen auf und rezitierte dort aus seinen Texten. Er leitete ein Komitee für die Rettung der in den USA zum Tode verurteilten Anarchisten Sacco und Vanzetti. Und er erteilte – wenn auch er kein Jurist war – Rechtsberatung im Münchner Bezirksbüro der Roten Hilfe. Der Gefühlssozialist Graf hatte sich immer geweigert, einer der sozialistischen Parteien beizutreten, „da ich bei den Arbeitern stehen will und weder die von der SP, von den Gewerkschaften noch von der KP als Genossen verlieren will“. In der Mitarbeit in der Roten Hilfe sah der Tatmensch Graf die Möglichkeit, jenseits des Streits über Programme praktische Solidarität zu leisten und so an der Basis zur Einheitsfront beizutragen. Mit dem „Abgrund“ hat Graf nicht zuletzt der Roten Hilfe ein literarisches Denkmal gesetzt. Erstmals erschien „Der Abgrund“ 1936 in Moskau in einer Auflage von 3000 Exemplaren, eine Zweitauflage folgte 1982. Eine von Graf in den 1950er Jahre überarbeitete Zweitfassung, aus der er viele Passagen der Kritik an der Sozialdemokratie getilgt hatte, wurde nach seinem Tod erst 1976 unter dem Titel „Die gezählten Jahre“ veröffentlicht. In der edition monacensia des Allitera Verlages, in der bereits eine Reihe von Graf-Schriften erschienen ist, wurde jetzt „Der Abgrund“ 85 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wieder aufgelegt. Der Literaturwissenschaftler Ulrich Dittmann von der Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft hat ein kundiges Nachwort verfasst und Dokumente zur damaligen Rezeptionsgeschichte ergänzt.

v • Oskar Maria Graf: Der Abgrund, Allitera Verlag, München 2020, 425 Seiten, 28 Euro