Newrozfeuer gegen US-Krieg

 

»Newrozfeuer gegen Dehaq« lautete die Schlagzeile der von Handverkäufern in den Straßen von Diyarbakir verteilten kurdische Tageszeitung Özgür Gündem. Dehaq ist der Name  des Tyrannen aus der Newrozlegende, den der Schmied Kawa erschlug, bevor er mit einem Feuer in den Bergen das Volk zum Aufstand rief. Wer der moderne Dehaq ist, daran lässt Özgür Gündem keinen Zweifel. Der Schriftzug trägt die Farben des US-Sternenbanners. Tatsächlich waren die diesjährigen Newrozfeiern in der Türkei/Nordkurdistan am Tag nach den ersten Bombardierungen des Irak eindrucksvolle Antikriegsmanifestationen. So standen diese Newrozfeiern unter dem Motto: „Gegen Krieg! Gegen die Isolationshaft von Abdullah Öcalan! Gegen die Unterdrückung der Kurden!“

 

Newrozkomitees, die sich aus der Demokratischen Volkspartei DEHAP, Gewerkschaften, dem Menschenrechtsverein IHD, Frauenvereinigungen, Demokratieplattformen und zum Teil auch sozialistischen Gruppierungen zusammensetzten, hatten in allen größeren kurdischen Städten, aber auch in Istanbul und anderen westtürkischen Städten Newrozfeste vorbereitet. Erst am Nachmittag des 20.März ging in den Parteibüros der DEHAP die erlösende Meldung ein, dass ein Teil der Feste genehmigt worden war. Keine Genehmigung gab es vor allen für Städte in der Nähe zur irakischen und iranischen Grenze. In Cizre, Sirnak, Silopi, Hakkari, Bitlis, Siirt, Bingöl und Erzincan wurde Newroz verboten. Ausländische Beobachterdelegationen, die nach Silopi oder Hakkari wollten, wurden von der Polizei an der Weiterfahrt gehindert. Allein in Bingöl wurden über 100 Menschen festgenommen, die trotz Verbots feierten. In Siirt und anderen Städten gingen zahlreiche Menschen illegal auf die Straße, um Newroz zu feiern.

 

Auch dort, wo keine Verbote bestanden, waren Militär und Polizei massiv aufmarschiert. Schützenpanzer und Mannschaftstransporter säumten den Weg von Diyarbakir zum 10 Kilometer entfernten Festplatz auf dem Messegelände. Auch die vielen Tausend Menschen, die von Mardin zum Fest nach Kiziltepe fuhren, mussten mehrere Kontrollpunkte von Armee und Polizei passieren. Dort pressten Polizisten den Dolmusfahrern in Raubrittermanier hohe Geldstrafen ab, nur weil diese in ihren Kleinbussen Festgäste transportierten. Martialische Sondereinheiten der Polizei mit umgegürteten Patronengurten, Scharfschützen und Kameraleute waren auf den Dächern rund um das Festgelände auf einem städtischen Busbahnhof stationiert.

 

Allein in Mardin-Kiziltepe wurden mehrere Tausende Menschen von der Polizei am Betreten des Festplatzes gehindert, oft weil sie keine Ausweise dabei hatten. Auch Journalisten mit Kameras ließ die Polizei nicht passieren. Mehrere Menschen wurden ohne Angabe von Gründen festgenommen. Vor allem Frauen mussten sich von den Sicherheitskräften an den Eingängen zum Festplatz äußerst ruppig behandeln lassen. Vielen von ihnen wurden Tücher in den traditionellen kurdischen Farben rot-gelb-grün abgenommen. Provokativ setzten sich Polizistinnen zur Mittagspause auf den großen Haufen beschlagnahmter Tücher, die sie auf dem staubigen Boden ausgebreitet haben. Eine Reihe Frauen war nicht bereit, diese entwürdigende Prozedur mitzumachen. Demonstrativ blieben sie vor dem Eingang stehen und schwenkten die bunten Tücher wie Fahnen im Wind. Trotz aller Schikanen kam in Diyarbakir eine halbe Million Menschen – die Hälfte der Einwohnerschaft – zum Fest. In Kiziltepe feierten 60.000 Menschen auf dem Festplatz und Tausende davor. Auch in Batman, Nusaybin und anderen Städten waren Hunderttausende auf dem Platz.

 

In Kiziltepe hatten Frauen und Mädchen in bunten Folklorekleidern einen Halbkreis um die Bühne gebildet. Zehntausende Menschen hoben ihre Hände zum Siegeszeichen, als den im Kampf um Freiheit und Demokratie gefallenen Märtyrern mit einer Schweigeminute gedacht wurde. Anschließend entzündete die Frau eines von der Konterguerilla ermordeten kurdischen Politikers die Newrozflamme.

Anfangs war die Stimmung etwas gedrückt. Wer die ausgelassenen Feiern in den letzten zwei Jahren erlebt hat, merkte den Menschen ihre Sorgen an. »Wir haben Angst, dass der Krieg nach vier Jahren Frieden wieder nach Kurdistan zurückkommt«, meinte ein Mitglied der Lehrergewerkschaft Egitim Sen. »Mit der verschärften Isolation von Abdullah Öcalan und dem Irak-Krieg soll die Friedensphase beendet werden, und demokratische Reformen, die zumeist nur auf dem Papier stattgefunden haben, werden zurückgenommen.«

Doch spätestens nachdem der Sänger Ferhat Tunc, der nach einem Beitrag im kurdischen Fernsehsender Medya TV lange Zeit nicht in der Türkei auftreten durfte, sein erstes Lied anstimmte, waren die Menschen nicht mehr zu bremsen. Jubel brandete auf. Tausende tanzten, bunte Tücher und die gelben Fahnen der DEHAP wurden geschwenkt. Immer wieder ertönte es Tausendfach: „Biji Serok Apo! – Es lebe unser Führer Apo!“. Kurzfristig war eine kurdische Fahne zu sehen. Ehe es die Polizei realisierte, war der Fahnenträger schon wieder in der Menge verschwunden.

 

Seit dem frühen Vormittag versammelten sich in Istanbul Tausende Menschen auf dem Gelände der Newrozfeier im Stadtteil Zeytinburnu. Zahlreiche Fahnen des KADEK, der PJK und der Kurdischen Volksverteidigungskräfte waren trotz dreier Kontrollpunkt auf das Gelände gelangt und wurden von vermummten Jugendlichen geschwenkt.

 

Im Mittelpunkt der Kundgebungsreden stand auf allen Newrozfeiern der Krieg gegen Irak und die Isolationshaft Abdullah Öcalans. Die mit einem Jahr Berufsverbot belegte Rechtsanwältin Eren Keskin richtete in ihrer Rede in Istanbul Grüsse nach Imrali und an die Inhaftierten in allen anderen Gefängnissen. Der DEHAP-Vorsitzende Abbasoglu forderte in seiner Rede den Abzug der türkischen Truppen aus Südkurdistan und den Abzug der amerikanischen Truppen aus der gesamten Region. H. Ceylani, Vorstandsmitglied der wenige Tage vor Newroz verbotenen HADEP, erklärte in Batman, Grund für den Angriff auf den Irak sei die Absicht Amerikas, sich die Ölquellen zu sichern und den Mittleren Osten unter seine Herrschaft zu bringen. Er forderte eine Verbesserung der Haftbedingungen Abdullah Öcalans und nannte die Isolationshaft eine Rechtsverletzung. Der Generalsekretär der SHP F. Baglar erklärte ebenfalls in Batmann, alle in der Türkei bestehenden Kulturen und Sprachen müssten frei sein. Die Türkei dürfe das Sterben der Menschen im Irak nicht zulassen. Die Isolation verwandle das Gebiet erneut in ein Kriegsgebiet. “Wir wollen keine Rückkehr zu den alten Verhältnissen oder erneute Morde wie an Vedat Aydin oder Mehmet Sincar”.

 

Gespannte Ruhe herrscht nach den Newrozfesten. Inoffiziell ist der gerade erst aufgehobene Ausnahmezustand in den kurdischen Gebieten wieder eingeführt worden. Proteste gegen den Krieg oder den drohenden Einmarsch der türkischen Armee in Südkurdistan sind nicht möglich. Alle Armeekontrollposten auf den Straßen von Diyarbakir in Richtung syrischer und irakischer Grenze sind wieder besetzt. Alle paar Kilometer stehen Panzerwagen am Straßenrand.

Rund 4500 US-Soldaten mit Hunderten von LKWs, Jeeps und Panzerwagen sind auf ehemaligen Fabrikgeländen in Kiziltepe stationiert. „Ich zahlte jedem 12.000 Dollar, der einen amerikanischen Soldaten tötet“, rief ein Mann im Dolmus und erntet den Applaus der Mitfahrer. Auch Teilnehmer europäischer Newroz-Delegationen wurden immer wieder beschimpft, weil sie von der Bevölkerung für Amerikaner gehalten werden. »Savasa hayir« – »Nein zum Krieg«, dieses Zauberwort öffnet einem Ausländer dagegen jede Tür. Die Ablehnung des Krieges hat nichts mit Sympathien für Saddam Hussein zu tun. So erinnern in den Partei- und Gewerkschaftsbüros Bilder an den Giftgasangriff auf Halabja vor 15 Jahren.

 

Nachdem bereits die dritte fehlgeleitete Tomahawk-Rakete auf einem Feld in der Nähe der Stadt Sanliurfa einschlug, kam es in der Woche nach Newroz zu heftigen Protesten. Ein US-Inspektorenteam, das die Trümmer der nicht explodierten Rakete sichten wollte, wurde mit Eiern und Steinen angegriffen. Erst bei Eintreffen der türkischen Armee konnten die wütenden Dorfbewohner vertrieben werden. Einen Tag später flogen Steine gegen einen Convoy von rund 40 US-Militärlastwagen der die Stadt Sanliurfa passierte. Mehrere LKWs wurden bei dem Überfall beschädigt. Als die türkische Armee eintraf, waren die Angreifer bereits verschwunden. »Es ist gegen jede Erfahrung, dass die Amerikaner freiwillig wieder gehen, wenn sie einmal in einem Land stationiert sind«, äußerte ein Funktionär der Demokratischen Volkspartei DEHAP in Mardin seine Befürchtungen. »Wir wollen hier keine neuen Besatzungstruppen.«

 

Nick Brauns, März/April 2003