Bauernopfer der Weltpolitik

Neue Literatur zu Kurdistan

 

Die anglo-amerikanische Besetzung des Irak hat das Schicksal der Kurden erneut in den Blickpunkt der Weltpolitik gerückt. Mit über 30 Millionen Menschen sind die Kurden nach Arabern, Türken und Persern das viertgrößte Volk im Nahen Osten. Seit der kolonialen Aufteilung seiner Siedlungsgebiete auf die Türkei, den Iran, Irak und Syrien nach dem Ersten Weltkrieg wird ihm das nationale Selbstbestimmungsrecht verweigert.

 

Eine weitgehende Autonomie Südkurdistans in einem föderativen Irak gilt heute als sicher, eine Unabhängigkeit ist nicht ausgeschlossen. Ein solches kurdisches Piemont wäre – umgeben von den feindlich gesinnten Staaten Türkei, Iran und Syrien – auf Gedeih und Verderben von der Schutzmacht USA abhängig. „Wir sind bereit, das zu tun, was mit der amerikanischen Politik in dieser Region übereinstimmt, wenn Amerika uns vor den Wölfen schützt. Wenn die Unterstützung stark genug wäre, könnten wir die Ölfelder von Kirkuk kontrollieren und sie einer amerikanischen Ölgesellschaft zur Ausbeutung übertragen.“ So versprach es bereits 1973 der legendäre kurdische Freiheitskämpfer Mullah Mustafa Barzani.

Zweimal schon schien im letzten Jahrhundert der kurdische Traum eines eigenen Staates greifbar nahe zu sein. Unter sowjetischen Schutz wurde 1946 im persischen Teil Kurdistans die Republik Mahabad unter Präsident Ghasi Muhammad ausgerufen. Doch die Sowjetdiplomaten spielten ein doppeltes Spiel. Während sie die Kurden zur Unabhängigkeit ermutigten, verhandelten sie dem Schah von Persien über Ölkonzessionen. Als im November 1946 die Sowjetarmee abzog, bedeutete dies den Todesstoß für die kurdische Republik.

1974 hat sich der Schwerpunkt des kurdischen Freiheitskampfes in den Irak verlagert. Schutzmacht der Guerillaarmee des Mullah Mustafa Barzani sind nun die USA, die über ihren engsten Verbündeten Persien den Peschmerga Waffen und logistische Hilfe zukommen lassen. Doch die USA ließen ihre Schützlinge auf dem Höhepunkt der Kämpfe fallen, Persien schloss ein Abkommen mit dem Irak und die Peschmerga erlitten ihre bisher größte Niederlage gegen die irakische Armee. „Der größte Fehler meines Lebens war es, den USA zu vertrauen“, diktierte der geschlagene Mullah Mustafa Barzani auf seiner Flucht dem Journalisten Deschner. An diese Erkenntnis sollte heute erinnert, werden, wenn der heutige Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans Massud Barzani und dessen Mit- und Gegenspieler Jalal Talabani von der Patriotischen Union Kurdistans das Schicksal des kurdischen Volkes erneut in die Hände der USA legen. Noch ist es offen, ob die Kurden wieder zum Bauernopfer der internationalen Politik werden.

Der Publizist und Filmemacher Günther Deschner war mehrfach in Kurdistan. Mit Mullah Mustafa Barzani verband ihn eine Freundschaft, mit Massud Barzani, Jalal Talabani und dem Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans Abdullah Öcalan hatte er eine Reihe von Gespräche. In seinem nach dem Sturz Saddam Husseins erschienenen Buch  „Die Kurden – Volk ohne Staat“ lässt Deschner die Geschichte der Kurden Revue passieren. Den Schwerpunkt des Buches bildet das Schicksal der irakischen Kurden und ihres Nationalhelden Mullah Mustafa Barzani. Aber auch das Schicksal der türkischen und iranischen Kurden – insbesondere zur Zeit der kurzlebigen Republik von Mahabad - wird ausführlich behandelt.  Ein kurzes Kapitel zeigt, dass auch Kurden in Syrien bis heute nationaler Unterdrückung und Verleugnung ausgesetzt sind.

Störend wirkt die vom Autor versuchten Gleichsetzung von Ereignissen der deutschen Geschichte mit dem Schicksal der Kurden. So fühlt sich Deschner, der dem revanchistischen Verein für das Deutschtum im Ausland und der Redaktion der französischen rechtsintellektuellen Zeitung Nouvelle École angehört, angesichts jugendlicher Peschmergas an die Studenten von Langemark im Ersten Weltkrieg erinnert und die ethnischen Säuberungen in Kurdistan vergleicht er mit der Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten. Aufgrund seiner auf den Volksbegriff zentrierten Denkweise ignoriert Deschner die inneren Widersprüche der kurdischen Gesellschaft. Gerade das Fortbestehen feudaler Stammesstrukturen bildet ein wesentliches Hemmnis für die nationale Einigung. Sie begünstigen Zwietracht, Verrat und Kollaboration mit den Unterdrückern. Doch in der beispielsweise von der PKK bewusst betriebenen Zersetzung dieser Feudalstrukturen, der Bekämpfung der Großgrundbesitzer und der Gründung von Frauenorganisationen liegt zugleich ein wesentliches Element der revolutionären Dynamik. So war der primäre Grund für viele junge Frauen, sich der PKK-Guerilla anzuschließen, weniger ihr Patriotismus als der Wunsch, häuslicher Unterdrückung oder einer drohenden Zwangsehe zu entkommen.

 

Die inneren Widersprüche der kurdischen Gesellschaft behandelt der niederländische Ethnologe Martin van Bruinessen in seinem fast 700 Seiten dicken Standartwerk „Agha, Scheich und Staat – Politik und Gesellschaft Kurdistans“. In Zusammenarbeit mit dem Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung wurde von der Edition Parabolis jetzt eine vollständig neu übersetzte und überarbeitete Fassung dieses lange vergriffenen Klassikers veröffentlicht. Angesichts des jüngsten Bündnisses der irakisch-kurdischen Parteien mit den USA erscheint Bruinessens Fragestellung aktuell: Während andere Befreiungsbewegungen „progressiv waren – die Bauernschaft wurde zumindest teilweise auf der Basis ihrer Klasseninteressen gegen ihre Ausbeuter mobilisiert; die Bewegungen waren antiimperialistisch und zielten auf die Abschaffung sozialer Ungerechtigkeit ab -, zeigte die kurdische Bewegung, vor allem seit 1966, ihren gerechten Forderungen zum Trotz ein konservatives, ja sogar reaktionäres Auftreten. Der kurdischen Führung schien eher an einer verstärkten imperialistischen Einmischung in der Region gelegen zu sein.“

Detailliert untersucht Bruinessen die Stammesstrukturen der Kurden, geht auf die Rolle der Aghas – feudaler Großgrundbesitzer – ebenso ein, wie auf die einflussreichen religiösen Führer. Deren Rolle wird am Beispiel des Aufstandes von Scheich Said im Jahr 1925 in Türkisch-Kurdistan deutlich. Während dieser ersten großen kurdischen Revolte nach Gründung der kemalistischen Türkei spielten Stammesloyalitäten, das soziale Netzwerk des religiösen Naqshbandi-Ordens, die Führungsrolle einzelner Scheichs sowie der kurdische Nationalismus gleichermaßen eine Rolle. In den 25 Jahren, die seit dem erstmaligen Erscheinen dieses Buches vergangen sind, hat die kurdische Gesellschaft radikale Wandlungen erfahren. Das Vordringen des Kapitalismus hat in der kurdischen Gesellschaft ebensolche Veränderungen bewirkt, wie die Kriege und Bürgerkriege und die ethnischen Säuberungen von Millionen Kurden aus ihren angestammten Siedlungsgebieten durch die Türkische Armee und die irakischen Baathisten. Als Bruinessen 1978 seine Doktorarbeit veröffentlichte, wurde die Kurdische Arbeiterpartei von Abdullah Öcalan gerade gegründet. Im Unterschied zu bisherigen kurdischen Aufstandsbewegungen richtete sich der Kampf der PKK von Anfang an nicht nur gegen die Kolonialmacht, sondern auch gegen die rückständigen Feudalstrukturen. Erstmals gelang es, Mitglieder verfeindeter Clans sowie aller in Kurdistan vorherrschenden Religionen  - Sunniten, Aleviten und Yezidi – gemeinsam zu organisieren. Traditionelle Geschlechterrollen wurden durch die Frauenbewegung erschüttert. Frauen wie die zu einer langen Haftstrafe verurteilte Abgeordnete Leyla Zana stehen heute in der vordersten Reihe der Demokratiebewegung. Diese Ereignisse der vergangenen Dekaden haben Bruinessens Buch nicht obsolet gemacht, sondern seine Bedeutung für das Verständnis der auch heute noch wirkenden sozialen und politischen Triebkräfte der kurdischen Gesellschaft deutlich gemacht.

 

Kurdistan bildet seit Jahrtausenden einen Schmelztiegel unterschiedlichster kultureller und religiöser Strömungen. In ihrer langen Geschichte verinnerlichte die kurdische Mythologie diese Einflüsse und bildete etwas Eigenes heraus. Seit Generationen mündlich überlieferten Mythen und Legenden liegen im „Ungeschriebenen Buch der Kurden“ erstmals in schriftlicher Form vor. Der Autor Hilmi Abbas wurde 1922 als Nachfahre des Fürstengeschlechts der Abbasiden in Berlin als Sohn eines Kurden und einer Österreicherin geboren und wuchs in Kurdistan auf. Traditionsgemäß lernte er als Kind die Mythen auswendig. Innerhalb der kurdischen Mythologie lassen sich zahlreiche Parallelen zu anderen Mythen der Welt ausmachen. Wie in vielen anderen Menschheitserzählungen steht am Anfang die Schöpfung, der paradiesische Urzustand des Menschen wird hervorgehoben und auch das Kapitel der Sintflut findet hier seinen Platz.

 

Die Überlieferung dieser uralten Mythen waren immer bedroht. Die islamische Eroberung Kurdistans verdrängte die älteren Schöpfungsmythen und die brutale Unterdrückungs- und Assimilierungspolitik der jeweiligen Kolonialmächte in den letzten Jahrzehnten führte vielerorts zu Abreißen des kulturellen Erinnerungsstranges. Schließlich haben auch die Globalisierung und der westliche Kulturimperialismus vor Kurdistan nicht halt gemacht. Um so wichtiger ist es, dass Abbas die Legenden seines Volkes aufgezeichnet hat.

 

Nikolaus Brauns

 

Günther Deschner: Die Kurden. Volk ohne Staat. Geschichte und Hoffnung. Herbig Verlag München 2003, Geb. 350 S., ISBN: 3-7766-2358-6. 24,90 €

 

Martin van Bruinessen: Agha, Scheich und Staat. Politik und Gesellschaft Kurdistans. Edition Parabolis, Berlin 2003, Brosch. 684 S., ISBN: 3-88402-259-8. 38.- €

 

Hilmi Abbas: Das ungeschriebene Buch der Kurden. Mythen und Legenden. Diederichs, München 2003, Geb. 296 S., ISBN: 3-7205-2387-X. 22.- €