Neue Heimat für Rote Kämpfer
Mythos der Militanz: Jürgen Enkemanns opulente
Geschichte des Berliner Bezirks Kreuzberg
Von Nick Brauns
Refugium unangepasster (Lebens-)Künstler und militanter Hausbesetzer, neue
Heimat anatolischer Arbeitsmigranten und bis zum Mauerfall Sehnsuchtsort
schwäbischer Totalverweigerer, heute heimgesucht von Immobilienspekulaten
und Hipstertouristen – doch immer noch widerständig.
Das ist Berlin-Kreuzberg.
Jürgen Enkemann, Jahrgang 1938 und seit fast
sechs Jahrzehnten Kreuzberger, hat pünktlich zum 100jährigen Bestehen des
Bezirks ein Buch über »Kreuzberg. Das andere Berlin« veröffentlicht. Der im VBB
(Verlag für Berlin-Brandenburg) erschienene, mit teils farbigen
zeitgenössischen wie aktuellen Fotografien, Flugblättern und Plakaten reich
bebilderte Band konnte in dieser opulenten Ausführung erscheinen, weil durch
ein Crowdfundingprojekt Gelder gesammelt wurden. Der
habilitierte Anglist Enkemann arbeitet zwar streng
wissenschaftlich. Doch als langjähriger Stadtteilaktivist und Redakteur
beziehungsweise Herausgeber von Kiezmagazinen wie dem Kreuzberger
Stachel und Kreuzberger Horn ist er auch
teilnehmender Beobachter und Zeitzeuge.
Enkemanns Anliegen ist es, den Ursprüngen und
Kontinuitätslinien eines von ihm bis heute als prägend wahrgenommenen
»kreuzbergspezifischen Widerstandsgeistes« nachzuspüren. Fündig wird der Autor
dabei bereits in der Weimarer Republik beim linkssozialistischen und später von
den Nazis vertriebenen Bezirksbürgermeister Carl Herz. Als Vorläufer der ab den
80er Jahren in Kreuzberg aktiven Autonomen erscheint die bis Mitte der 30er
Jahre aktive kommunistische Widerstandsgruppe Rote Kämpfer, deren Mitglieder
den Arbeiterparteien misstrauten und auf direkte Aktionen von unten setzten.
Ein Roter Kämpfer, Erwin Beck, sollte als sozialdemokratischer Jugendstadtrat
1971 angesichts der drohenden Räumung durch die Polizei Verhandlungen mit den
jugendlichen Aktivisten bei der Besetzung des Bethanien-Komplexes
führen. Während die APO ihre Zentren um die Universitäten im Westen von Berlin
hatte, rückte der im Schatten der Mauer gelegene südliche Bezirk Kreuzberg in
den 70er Jahren in den Blick der radikalen Linken. »Wir suchten uns Kreuzberg
als Basisgebiet. Die soziologische Struktur hatte sich da inzwischen so
verändert, dass fast nur noch Türken da waren, Lumpenproletariat und ein paar
wirklich arme Arbeiterfamilien«, erklärte der Militante Bommi
Baumann von der Bewegung 2. Juni. Von den Hausbesetzungen der 70er Jahre spannt
Enkemann den Bogen bis zu heutigen Initiativen gegen
Verdrängung und Zwangsräumung wie Kotti & Co und Bizim Kiez. Ausführlich geht das Buch auf die Kreuzberger
Künstler- und Bohemeszene ein, als deren
Geburtsstunde die Eröffnung der Galerie Zinke in der Oranienstraße
im Jahr 1959 gilt. Auch der dazugehörige Soundtrack – die Hausbesetzerhymnen
von Ton Steine Scherben und der nervige Ohrwurm »Kreuzberger Nächte« der
Gebrüder Blattschuss – findet Erwähnung.
Schwächen hat das Buch, wenn es um die Migration
aus der Türkei geht, die ja neben dem Alternativmilieu prägend für den Bezirk
ist. Hier scheint Enkemann auf dem Stand der 60er
Jahre stehengeblieben zu sein, als alle Einwanderer aus Anatolien pauschal als
»Türken« galten. Dass sich darunter viele Kurden befinden, dass es neben
Muslimen auch zahlreiche Aleviten gibt, die mit dem
Cem-Haus und der Dersim-Gemeinde gleich zwei Zentren
in Kreuzberg haben, findet so keine Erwähnung. Peinlich erscheint es, wenn
ausgerechnet Riza Baran, der frühere Grünen-Fraktionsvorsteher in der
Bezirksverordnetenversammlung, als Beispiel für »Zugewanderte mit türkischem
Hintergrund« in der Kreuzberger Kommunalpolitik herhalten muss. Schließlich war
der im Mai dieses Jahres verstorbene Baran Gründer der Kurdischen Gemeinde.
Politische Differenzierungen unter den Migranten nimmt Enkemann
durchaus zur Kenntnis, er schreibt etwa über die Ermordung des kommunistischen
Gewerkschafters Celalettin Kesim im Januar 1980 durch
Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe am Kottbusser
Tor. Was Enkemann wohl nicht weiß: Die Zentrale der
Grauen Wölfe befindet sich bis heute im Herzen Kreuzbergs direkt neben dem
linksorientierten Veranstaltungszentrum SO36. Der Mythos Kreuzberg ist eben
nicht widerspruchsfrei.
Mit seinem detailreichen Buch trägt Enkemann dazu
bei, heutigen Aktivisten ebenso wie alteingesessenen Bewohnern und Touristen
Geschichtsbewusstsein über diesen rebellischen Bezirk zu vermitteln. Er
schließt mit dem »trotzig-optimistischen Ausblick« auf ein Plakat mit der
Aufschrift »Wir holen uns den Kiez zurück«.
Aus: junge Welt 2.10.2020