Mit dem Rücken zur Wand

Mit der Zwangsverwaltung von Dutzenden kurdischer Städte kehrt die offene türkische Kolonialherrschaft nach Kurdistan zurück
von Nick Brauns

Wer gehofft hat, der gescheiterte Putsch in der Türkei und die nachfolgenden Säuberungen des Staatsapparats von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen werde den wieder vom Krieg überzogenen Kurden im Südosten des Landes wenigstens eine Atempause ermöglichen, sieht sich getäuscht. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nutzt die ihm durch den Ausnahmezustand verliehenen Sondervollmachten bereits nach wenigen Wochen zu einem verschärften Vorgehen gegen die zivile Organisierung der Kurden.

So hat das Bildungsministerium im September, kurz vor Beginn des neuen Schuljahres, über 11000 Lehrer in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Landesteilen wegen angeblicher Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vom Dienst suspendiert. Dabei habe es sich mehrheitlich um ihre Mitglieder gehandelt, meldete die kämpferische linke Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen.

Der Hauptschlag der Regierung aber galt den von der linkskurdischen Demokratischen Partei der Regionen (DBP) regierten Kommunen. Gestützt auf ein Dekret des Staatspräsidenten ließ Innenminister Süleyman Soylu in der zweiten Septemberwoche in vorerst zwei Dutzend Städten und Gemeinden in den Provinzen Mardin, Van, Batman, Hakkari, Agri, Sanliurfa und Sirnak die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister absetzen. Die Stadtverwaltungen wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Betroffen sind die Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung. Hier war im Sommer des vergangenen Jahres in Reaktion auf den Abbruch der Friedensgespräche zwischen der Regierung und dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan eine auf basisdemokratischen Stadtteil- und Volksräten beruhende Selbstverwaltung ausgerufen worden. In den Augen der Regierung handelte es sich dabei um «Separatismus» und PKK-Unterstützung.

 

Massaker und Bevölkerungsaustausch

Begonnen wurde am 9.September mit dem Altstadtbezirk Sur der Metropole Diyarbakir sowie der nahegelegenen Kreisstadt Silvan, sie wurden den jeweiligen Bezirksgouverneuren treuhänderisch unterstellt. In Sur war die linke Demokratische Partei der Völker (HDP), deren stärkste Mitgliedsorganisation die ausschließlich kommunalpolitisch tätige DBP ist, bei der Parlamentswahl im Oktober letzten Jahres auf 81,6% und in Silvan auf 88,9% der Stimmen gekommen.

Hier wie in anderen, jetzt zwangsverwalteten Kommunen hatten Jugendliche zum Schutz der selbstverwalteten Stadtviertel vor Polizeiübergriffen im Herbst vorigen Jahres Barrikaden errichtet. Daraufhin waren über diese Stadtteile wochenlang Ausgangssperren verhängt worden, währendderer sie von Armee und Polizei mit Panzern und Artillerie regelrecht in Trümmer geschossen wurden. Vergeblich hatte die Handvoll erfahrener Guerillakämpfer, die zur Beratung der Jugendlichen in die Städte gekommen waren, auf einen Abbruch des aussichtslos erscheinenden Barrikadenkampfs gedrängt. So wurde ein Großteil der jugendlichen Avantgarde der kurdischen Bewegung von den aus Faschisten und Jihadisten rekrutierten Sonderpolizeieinheiten (PÖH) getötet. Viele der jungen Barrikadenkämpfer wurden etwa in der Stadt Cizre lebendig in Kellern verbrannt. Nach der Eroberung der aufständischen Städte hissten Polizeikommandos große türkische Fahnen inmitten der Ruinenlandschaften.

Die geflohenen Bewohner der zerstörten Stadtviertel, aber auch öffentliche Einrichtungen und sogar mehrere Kirchen wurden per Regierungsdekret enteignet. Die Viertel sollen von der staatlichen Baubehörde TOKI nach Gesichtspunkten der Aufstandsbekämpfung wieder aufgebaut werden. Hier sollen anstelle der vertriebenen kurdischen Bewohner syrische Flüchtlinge angesiedelt und eingebürgert werden, um die Demografie der Region nachhaltig zugunsten der Regierungspartei zu verändern.

 

Rückkehr zur Kolonialherrschaft

Nach der Absetzung der Bürgermeister, von denen sich viele bereits in Haft befanden,  stürmten Polizeisonderkommandos die Rathäuser. Die Stadtverwaltungen «werden nun unter der Verwaltung von Menschen stehen, die diese Fahne [der Türkei] mit dem Herzen aufgesogen haben», erklärte Innenminister Soylu. Als erste Amtshandlung ließen die eingesetzten Statthalter türkische Fahnen an den Rathäusern hissen und von den DBP-Stadtverwaltungen angebrachte, mehrsprachig beschriftete – neben türkisch auch kurdisch, arabisch und aramäisch – Hinweistafeln entfernen.

«Wir erkennen diese Treuhänder nicht an. Sie können den Willen des Volkes nicht vertreten», erklärte die Co-Vorsitzende der DBP, Sebahat Tuncel. «Dies ist ein Putsch. Und so wie unser Volk gegen den Putsch [vom 15.Juli] Widerstand geleistet hat, wird es auch gegen diesen Widerstand leisten.»

Tatsächlich erscheint die feindliche Übernahme der Kommunen als konsequenter Schlusspunkt einer Entwicklung, die als Rückkehr zur ungeschminkten türkischen Kolonialherrschaft über Kurdistan bewertet werden muss. In dieses Bild fügt sich der Ende August erfolgte Einmarsch der türkischen Armee und ihrer jihadistischen Söldnerverbände in den Norden Syriens, um dort die Etablierung eines «kurdischen Korridors» zu verhindern.

Auf den kurdischen Linksintellektuellen Dr.Sirvan (d.i. Sait Kirmizitoprak) und den türkischen Soziologen Ismail Besikci geht die These zurück, dass Kurdistan eine Kolonie der Türkei ist. Diese These griff Anfang der 70er Jahre in Ankara ein Zirkel kurdischer und türkischer Sozialisten um Abdullah Öcalan auf. Die Gruppe, aus der 1978 die PKK hervorging, begründete damit ihre organisatorische Trennung von der türkischen Linken. Denn die meisten der vom Kemalismus beeinflussten türkischen Linken argumentierten, die Türkei sei ein abhängiges halbkoloniales Land und könne von daher nicht selber Kolonialmacht sein.

 

Die kurdische Frage

Nach Öcalans Verschleppung im Jahr 1999 milderte die PKK ihre antikoloniale Rhetorik auf der Suche nach einer politischen Lösung im Rahmen der Staatsgrenzen der Türkei deutlich ab. Die kurdische Frage wurde nun als Folge der seit Gründung der Republik vorherrschenden Staatsräson von «einer Fahne, einer Nation, einem Staat» gesehen. Die daraus resultierende chauvinistische Mentalität könne durch die Einführung einer neuen egalitären Verfassung überwunden werden, lautete die Hoffnung.

Während die Demokratisierung der Türkei unter der AKP-Regierung nur schleppend verlief und dann ganz stockte, setzte die kurdische Bewegung auf den Aufbau rätedemokratischer Selbstverwaltungsstrukturen in den kurdischen Kommunen. Dieses von Öcalan als «demokratischer Konföderalismus» vorgelegte Konzept war von den Theorien des US-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin, aber auch von der Praxis der Zapatistas im mexikanischen Chiapas beeinflusst. Doch während die Zapatistas nach ihrem kurzen bewaffneten Aufstand Anfang der 90er Jahre ihr Modell selbstverwalteter Dörfer im lakandonischen Urwald weitgehend ungestört von der Staatsmacht etablieren konnten, sah sich die kurdische Bewegung von Anfang an scharfer Verfolgung durch den türkischen Staat ausgesetzt. So wurden nach dem ersten großen Kommunalwahlerfolg der bald danach verbotenen linkskurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft, DTP, im Jahr 2009 mehrere tausend Aktive der Rätebewegung, einschließlich Bürgermeistern und Stadträten, verhaftet.

Eine neue Chance zur Umsetzung der Selbstverwaltung bot sich ab 2013 während der Friedensphase vor dem Hintergrund der Gespräche zwischen Öcalan und Staatsvertretern. Doch die Hoffnung, «jenseits von Staat, Macht und Gewalt» (so der deutschsprachige Titel von Öcalans theoretischem Hauptwerk) bei Weiterbestehen eines feindlich eingestellten Staatsapparats eine selbstverwaltete freie Gesellschaft aufbauen zu können, erwies sich nach dem Abbruch der Friedensgespräche durch die Regierung als illusorisch. Gegen die massive Gewalt des Staates konnten die selbstverwalteten Kommunen nicht bestehen.

Auch das nach dem Wahlerfolg der HDP im Juni 2015 so hoffnungsvoll erscheinende Projekt einer gesamttürkischen linken Partei scheint vorerst gestoppt. Angesichts des Klimas von Chauvinismus und Angst, das die Regierung schürt, sind viele Unterstützer der HDP im liberalen und säkularen Milieu in der Westtürkei, die auf der Grundlage ihrer Gegnerschaft zu Erdogan gewonnen worden waren, weggebrochen. Heute ist die HDP wieder im wesentlichen auf die isolierte Existenz einer kurdischen Partei mit einigen linksradikalen Unterstützern zurückgeworfen.

 

Gespaltene Entwicklung

Während die kurdische Befreiungsbewegung derzeit politisch mit dem Rücken zur Wand steht, ist sie militärisch ungeschlagen. Zwar hat Erdogan die bislang größte Militäroffensive gegen die Guerilla ausgerufen. Doch die Armee stößt auf massiven Widerstand der im schwer zugänglichen Bergland verschanzten Kämpfer. Selbst ein führender General gab kürzlich zu, dass die Soldaten «einen Kampf auf Leben und Tod» führen. Mit Autobomben zerstörte die Guerilla in den letzten Monaten ein halbes Dutzend Polizeizentralen, Hunderte Angehörige der für Massaker an der Zivilbevölkerung berüchtigten Polizeisondereinheiten (PÖH) wurden dabei getötet. Doch politischer Druck entsteht dadurch bislang nicht. Denn die monopolisierten regierungsnahen Medien verschweigen das Ausmaß der Verluste. Zudem handelt es sich bei vielen Gefallenen um Söldner, deren Tod verheimlicht werden kann. Proteste von Angehörigen gegen die Kriegspolitik, wie im vergangenen Sommer bei Soldatenbegräbnissen, bleiben damit aus.

Der weiterhin große Teil der kurdischen Bevölkerung, der den Kampf der PKK unterstützt, ist durch die Angriffe des Staates und den opferreichen Krieg in den Städten und auch im nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava teils radikalisiert, teils aber auch desillusioniert. Es gibt eine große innerkurdische Solidarität, aber wenig Hoffnung auf eine Lösung. Hier droht eine gefährliche Entwicklung: Auf der einen Seite zeichnet sich eine weitere Radikalisierung von Teilen der Bewegung, insbesondere der Jugend, ab. Auf der anderen Seite wachsen Kriegsmüdigkeit und Passivität in größeren Teilen der kurdischen Bevölkerung, vor allem der neuen Mittelschichten.

Die Ausschaltung ziviler politischer Akteure und Einflussmöglichkeiten auf kurdischer Seite durch staatliche Repression befördert die weitere Militarisierung des Konflikts einschließlich sogenannter terroristischer Kampfformen. Schließlich wird auf diese Weise ein bislang nur von einer Minderheit unter den Kurden in der Türkei verfolgter, nationalistisch-separatistischer Diskurs neue Nahrung erhalten.

 

SoZ – Sozialistische Zeitung 10/2016