Junge Welt 06.03.2004
Rätebewegung zerschlagen
Die Märzmassaker 1919 in Berlin: »Wochenlang spülte die Spree die Leichen ans Ufer.«
Im Februar 1919 rollte eine Streikwelle durch Deutschland.
Über das Ruhrgebiet und die oberschlesischen Kohlebezirke griff die Bewegung
nach Mitteldeutschland über. Die Arbeiter kämpften für eine Verbesserung ihrer
Lebenslage, die sich kaum von der in den letzten Kriegsmonaten unterschied. Die
Streiks waren auch eine Reaktion auf die Ermordung von Karl Liebknecht, Rosa
Luxemburg und Kurt Eisner sowie einer Vielzahl von Arbeitern durch
konterrevolutionäre Kräfte.
Am 4. März 1919 beschloß die Vollversammlung der Berliner Arbeiterräte den
Generalstreik. Ihre Forderungen lauteten: Anerkennung der Arbeiter- und
Soldatenräte, Freilassung aller politischen Gefangenen, Verhaftung der Mörder
von Liebknecht und Luxemburg, Auflösung der Freikorpsverbände, Aufstellung
einer Arbeiterwehr sowie die Aufnahme politischer und wirtschaftlicher
Beziehungen zu Sowjetrußland. Nach den Arbeitern der Großindustrie traten auch
die Angestellten der Strom-, Gas- und Wasserwerke in den Ausstand. Bis zum
Abbruch des Streiks am 8. März wurden die Hauptstadt nahezu völlig lahmgelegt.
Das Preußische Staatsministerium verhängte den Belagerungszustand. Die
vollziehende Gewalt ging an den sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav
Noske über. Dieser ließ am 4. März die Hauptstadt von rund 30 000
Freikorpssöldnern besetzen. Erstes Ziel der unter dem Kommando des späteren
Kapp-Putschisten General Walter Freiherr von Lüttwitz stehenden Söldner war die
Auflösung der Republikanischen Soldatenwehren (RSW). Die KPD hatte die Lehren
aus der blutigen Niederlage während der Berliner Januarkämpfe gezogen und
warnte vor Provokationen durch Freikorps und Lockspitzel: »Laßt Euch nicht in
unnütze Schießereien ein, auf die der Noske nur lauert.«
Ausgelöst wurden die Märzkämpfe durch ein vom Truppenkommando Lüttwitz
inszeniertes »Mißverständnis«. Nachdem es zu Plünderungen durch Lockspitzel am
Alexanderplatz kam, wurde die Volksmarinedivision als Teil der RSW am 5. März
dorthin beordert. Als die Matrosen begannen, gegen das Gesindel vorzugehen,
wurden sie aus dem Polizeipräsidium von Freikorpsmännern unter Beschuß
genommen. Die Matrosen holten Verstärkung und beschossen nun ihrerseits das
Polizeipräsidium. »Die Kommandantur hatte die RSW zur Säuberung des
Alexanderplatzes befohlen, ohne ihr vereinbarungsgemäß mitzuteilen, daß sie in
der vergangenen Nacht eine Lüttwitz-Formation, und zwar das Freikorps Lützow,
in das Polizeipräsidium gelegt hatte. Zugleich mit obigem Befehl an die RSW war
der gleiche Befehl an das Korps Lützow ergangen. Die Mannschaft des Korps
Lützow war wiederum von Hauptmann Marcks nur einseitig informiert, was zur
Folge hatte, daß eine Formation in der anderen ihren Gegner sah, der mit den
Plünderern gemeinsame Sache mache«, schrieb Anton Fischer 1921 in seinem Buch
»Die Revolutionskommandantur in Berlin«. Von den Freikorps wurden »alle Mittel
der Feldschlacht angewandt«, wie das Berliner Tageblatt meldete. »Leichte und
schwere Artillerie, Minen und schließlich Fliegeraufklärung und Fliegerbomben.«
Nach dem Alexanderplatz wurde das Marinehaus als Hauptquartier der
Volksmarinedivision sturmreif geschossen. Auch in Neukölln kam es zu Gefechten.
Nach der gewaltsamen Auflösung der republikanischen Wehren waren die
Arbeiterviertel im Berliner Nordosten das Ziel der Noske-Söldner. Dort hatten
Arbeiter begonnen, konterrevolutionäre Kräfte zu vertreiben. Am 5. März wurde
das Lichtenberger Polizeipräsidium, aus dem zuvor auf Demonstranten geschossen
worden war, von Arbeitern besetzt. Dabei hatte es auf beiden Seiten insgesamt
zehn Tote gegeben. Barrikaden wurden am Strausberger Platz, in der Warschauer
und Andreasstraße sowie um die Weberwiese errichtet.
Als es den rechten Führern der SPD und der USPD am 8. März gelang, den Abbruch
des Generalstreiks durchzusetzen, veröffentlichte am Sonntag, den 9. März, die
BZ am Mittag die von der Garde-Kavallerie-Schützen-Division in Umlauf gebrachte
Lüge: »Furchtbarer Massenmord durch Spartakisten in der Warschauer Straße.
Sechzig Kriminalbeamte und viele andere Gefangene erschossen.« Nach der
Erstürmung des Lichtenberger Polizeipräsidiums hätten Spartakisten Meuchelmord
an 60 Polizisten begangen. Am Montag kolportierte auch der sozialdemokratische
Vorwärts das Greuelmärchen. Die Presse von KPD und USPD war verboten, so daß
keine Möglichkeit bestand, die Wahrheit über die Lichtenberger Vorgänge zu
berichten. Zusätzlich hatten Noske-Söldner die Druckerei der Roten Fahne mit
Handgrananten zerstört. Noske verhängte das Standrecht: »Jede Person, die mit
den Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist
sofort zu erschießen.« Die Garde-Kavallerie-Schützen-Division verschärfte den
Erlaß, so daß schon der Besitz einer Waffe ausreichte, um erschossen zu werden.
»Und nun begannen die Schlächter ihr Werk«, heißt es in der 1929 vom
Internationalen Arbeiterverlag herausgegebenen »Illustrierten Geschichte der
deutschen Revolution«. »Während unter dem Feuer der Geschütze und Minenwerfer
Häuserfronten einstürzten und ganze Familien unter ihren Trümmern begruben,
brachen an Hausmauern, auf Schulhöfen, in Pferdeställen unter Schüssen,
Kolbenhieben und Bajonettstichen die irgendwie aufgegriffenen Proletarier,
vielfach Opfer unbekannter Denunzianten, zusammen. Allein, zu zweien, zu
dreien, in Gruppen: an die Wand und erschossen. Nachts an die Spree, den
Revolver an den Kopf und erschossen. Wochenlang spülte die Spree die Leichen
ans Ufer.«
Eine leere Handgranate als Briefbeschwerer, ein Seitengewehr als
Kriegsandenken, ein Bild von Liebknecht oder eine Mitgliedskarte der KPD, ja
schon leiser Protest gegen die Soldateska reichten, um an die Wand gestellt zu
werden. Prominentestes Opfer war der Organisator des Spartakusbundes Leo
Jogiches. Der Freund Rosa Luxemburgs und Mitbegründer der KPD wurde am 10. März
in seiner Neuköllner Wohnung verhaftet und am gleichen Tag im Moabiter
Gerichtsgefängnis vom Kriminalbeamten Tamschick durch einen Schuß in den Hinterkopf
»auf der Flucht« ermordet. »Nun ist er, der den Schergen des russischen
Zarismus lebend entgangen ist, den Schergen einer ›sozialistischen‹ Regierung
zum Opfer gefallen«, hieß es im Nachruf der KPD auf Jogiches. Sein Mörder
machte später in der SS Karriere.
Am 11. März nahmen die Freikorps blutige Rache an der aufgelösten
Volksmarinedivision. Rund 200 ehemalige Matrosen hatten sich aufgrund einer
Vorladung in der Französischen Straße eingefunden, um ihre »Entlassungspapiere
und restliche Löhnung« abzuholen. Oberleutnant Marloh ließ 30 Matrosen in den
Innenhof des Gebäudes kommen und dort von einem Maschinengewehr niedermetzeln.
Nur der Matrose Hugo Levin konnte entkommen, weil er sich tot stellte. Unter
Hitler wurde Marloh Direktor eines Zuchthauses. Bis zum 12. April dauerten die
Kämpfe in Lichtenberg an. Mit den Worten »entweder bedingungslose Übergabe oder
nichts« hatte Noske die Vermittlungsversuche des konservativen Lichtenberger
Bürgermeisters zurückgewiesen. Am 16. März wurde das Standrecht aufgehoben.
Bei den Märzkämpfen seien rund 1200 »Spartakisten« getötet worden, erklärte die
Regierung später. In Wirklichkeit waren es mehr, aber viele Familien meldeten
ihre Gefallenen aus Angst vor Repressalien als »Unfalltote«. Die meisten von
ihnen waren zudem keine »Spartakisten«, da die KPD damals in Großberlin
insgesamt nur einige hundert Mitglieder hatte. Rund 1 600 Arbeiter waren in
Gefangenschaft geraten. »Natürlich hat es in Berlin im Januar und März Späne
gegeben«, rechtfertigte Noske auf dem Weimarer SPD-Parteitag im Juni 1919 die
von ihm zu verantwortenden Massaker.
Nick Brauns