Aus: junge Welt Ausgabe vom 04.08.2020, Seite 11 / Feuilleton

 

Der dichtende Agitator

Zwei neue Bücher beschäftigen sich mit dem anarchistischen Intellektuellen Gustav Landauer

 

Von Nick Brauns

 

Im Jahr des 150. Geburtstags von Gustav Landauer sind gleich zwei Neuveröffentlichungen über den wohl exponiertesten Vordenker des deutschsprachigen Anarchismus erschienen. Mit ihrem Buch »Gustav Landauer. Ein Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit« hat Rita Steininger die erste ausführliche Biographie mit Fokus auf den Lebenslauf Landauers, seine Familie und seinen Freundeskreis vorgelegt. Als Quelle dienen Steininger, die literarische Stadtführungen durch München auf den Spuren der Schwabinger Boheme anbietet, Brief- und Tagebucheditionen.

Während in Steiningers bebildertem Buch die theoretischen Überlegungen Landauers nur angerissen werden, bietet das von Sebastian Kunze, einem Mitarbeiter am Lehrstuhl für Judaistik der Universität Erfurt, in der Reihe »Jüdische Miniaturen« verfasste schmale Bändchen »Gustav Landauer. Zwischen Anarchismus und Tradition« eine kompakte Einführung in Landauers Denken. Beide Neuerscheinungen ergänzen sich, so dass jedem, der sich einen Überblick sowohl über Persönlichkeit als auch Werk Landauers verschaffen will, die Lektüre beider Bücher empfohlen sei.

Landauer wurde 1870 in Karlsruhe als Sohn einer die Religion nicht praktizierenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Aufgrund seiner Leidenschaft für Literatur entschied er sich zum Leidwesen des strengen Vaters gegen einen bürgerlichen Beruf und für ein Philosophiestudium. 1891 stieß Landauer, begeistert von August Bebels Buch »Die Frau und der Sozialismus«, zur Sozialdemokratie. Doch als die SPD sich im folgenden Jahr mit scharfen Worten von einem Aufstand arbeitsloser Bauarbeiter in Berlin distanzierte, wandte er sich den aus der Partei ausgeschlossenen linksradikalen »Jungen« zu.

Landauer, der sich nun als »Anarchosozialist« bezeichnete, wurde Herausgeber der immer wieder mit Strafverfahren überzogenen Zeitung Der Sozialist. Daneben war er, der »mangels sittlicher Befähigung« von der Universität ausgeschlossen worden war, als politischer Vortragsredner sowie als Literatur- und Theaterkritiker, Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer tätig. Er sei »weder ein Agitator noch ein Dichter«, sagte Landauer einmal über sich, »sondern eine Synthese von beiden«.

Weitere Lebensstationen sind der naturalistische Dichterkreis im Berliner Vorort Friedrichshagen und das Kommuneprojekt der »Neuen Gemeinschaft«, das sich allerdings als bloßer Eskapismus von Intellektuellen entpuppte. Dort bekehrte Landauer den 22jährigen gelernten Apotheker und angehenden Dichter Erich Mühsam zum Anarchismus. Zum vorübergehenden Streit mit dem frühen Queer-Aktivisten führten allerdings die homophoben Ansichten Landauers, der ausgerechnet in der Ehe zwischen Mann und Frau die Keimzelle einer auf freiwilligen Bünden beruhenden Gemeinschaft erblickte.

Mit dem Sozialistischen Bund gründete Landauer schließlich 1908 seine eigene Bewegung. Der Sozialismus beginnt für ihn beim Individuum. Erst wenn der einzelne zu der Überzeugung gelangt sei, dass eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig ist, lasse sich Revolution machen. Geradezu postmodern erscheint Landauers These, wonach Sprachkritik die Menschen in die Lage versetze, die Welt mit Hilfe einer sprachschöpfenden Mystik neu zu bauen. Beeinflusst vom Religionsphilosophen Martin Buber wandte sich Landauer seinen jüdischen Wurzeln zu. Es sei nicht die Aufgabe des jüdischen Volkes, einen eigenen Staat zu begründen, positionierte er sich dabei gegen den Zionismus. Vielmehr seien die Juden geradezu als Sozialisten prädestiniert, da sie mehrere nationale Zugehörigkeiten vereinigten.

»Die Konsequenz der Dichtung ist Revolution«, forderte der Kriegsgegner Landauer unter Berufung auf den von ihm als Revolutionär verehrten Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1918. Es war dann tatsächlich ein Schriftsteller, Kurt Eisner, unter dessen Führung im November 1918 in München revoltierende Arbeiter und Soldaten den Wittelsbacher König stürzten. Als Ministerpräsident des von ihm ausgerufenen Freistaates Bayern lud Eisner Landauer nach München ein, damit dieser »durch rednerische Betätigung an der Umbildung der Seelen« mitwirken könne. Den mehr an Kant als an Marx orientierten Linkssozialisten Eisner und den Anarchisten Landauer verband der idealistische Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen.

Die Ermordung Eisners durch einen völkischen Attentäter löste eine neue revolutionäre Welle in Bayern aus. Sie gipfelte am 7. April 1919, zu Landauers 49. Geburtstag, in der Aufrufung einer Räterepublik. Als »Volksbeauftragter für Volksaufklärung« in der kurzlebigen Räteregierung galt Landauers besonderer Eifer der Trennung von Staat und Kirche im streng katholischen Bayern. Auf seine Anweisung hin wurden die bürgerlichen Zeitungen, die wüste antisemitische Hetze gegen ihn und andere Exponenten der Revolution verbreiteten, unter Zensur gestellt. »Das Problem der Gewalt macht mir nicht viel zu schaffen; blutige gebrauche ich keine; und das andere ist Notwehr gegen Gewalt«, definierte der Pazifist Landauer sein Verhältnis zur Gewalt angesichts der Bedrohung durch die völkisch-antisemitischen Kräfte der Gegenrevolution neu. Bei Niederschlagung der Räterepublik durch die Freikorps wurde Landauer am 1. Mai 1919 im Haus der Witwe Eisners gefangengenommen und im Gefängnis Stadelheim ermordet. Der Haupttäter, der Gefreite Eugen Digele, wurde lediglich wegen Misshandlung und Hehlerei – er hatte Landauers Uhr geraubt – zu einer lachhaft geringen Strafe von fünf Wochen Haft verurteilt. Strafmildernd hatte das Gericht gewertet, dass der Freikorpsmann Landauer für den Urheber der Räterepublik und einen gewissenlosen Hetzer gehalten hatte.

Rita Steininger: Gustav Landauer. Ein Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit, Volk Verlag, München 2020, 208 Seiten, 18 Euro

Sebastian Kunze: Gustav ­Landauer. Zwischen ­Anarchismus und Tradition, Verlag Hentrich & ­Hentrich, Leipzig 2020, 74 Seiten, 8,90 Euro