Kornilow vor Petrograd  

Trotzki: »Legt das Gewehr auf Kerenskis Schulter und schießt auf Kornilow.«  

 

Der Oberbefehlshaber der russischen Armee General L. G. Kornilow befahl am 9. September 1917 seinen Truppen den Marsch auf Petrograd mit den Worten: »Ich beschuldige verschiedene Mitglieder der Regierung mit direktem Verrat am Vaterlande, wofür ich Beweise habe. ... Die Stunde ist gekommen. ... Ich füge mich der Provisorischen Regierung nicht mehr und kämpfe gegen sie.«

Eine Militärdiktatur sollte die nach der Februarrevolution gebildete Provisorische Regierung aus Menschewiki, Sozialrevolutionären und bürgerlichen Kadetten unter dem Sozialdemokraten Kerenski ersetzen, die Arbeiter- und Soldatenräte zerschlagen und die Partei der Bolschewiki vernichten. Ein allgemeiner Anstieg der Werte an der Börse signalisierte die Sympathie des Kapitals für den gegenrevolutionären Putsch. Die englische Regierung stellte Kornilow Panzerfahrzeuge nebst Fahrern zur Verfügung und selbst im deutschen Kaiserreich begrüßte die imperialistische Presse das scheinbar nahe Ende der russischen Revolution. In Petrograd wurde eine großangelegte monarchistische Verschwörerorganisation mit dem Namen »Das heilige Rußland« aufgedeckt, deren Arme bis Moskau, Kiew, Odessa und selbst Sibirien reichten. Vertreter der Kadettenpartei äußerten ihre offene Sympathie für Kornilows Diktaturpläne.

Scharf ging Lenin in einem Brief aus dem finnischen Exil mit denjenigen Bolschewiki ins Gericht, die in der Stunde der Gefahr bereit waren, ein Kampfbündnis mit der Kerenski-Regierung zu schließen. »Auch jetzt dürfen wir die Kerenski-Regierung nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. ... Gegen Kornilow werden wir kämpfen, wir kämpfen gegen ihn, aber wir unterstützen nicht Kerenski, sondern entlarven seine Schwäche. ... Wir verzichten nicht auf die Aufgabe, Kerenski zu stürzen; aber wir sagen: Man muß den Moment richtig wählen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, sondern wir führen den Kampf gegen ihn anders, indem wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) aufklären über die Schwäche und Schwankung Kerenskis. ... Und agitieren müssen wir sofort nicht so sehr direkt gegen Kerenski als mittelbar gegen ihn, mittelbar, indem wir aktiven und aktivsten Kampf gegen Kornilow fordern.« Und Leo Trotzki, der seit den Juli-Demonstrationen im Gefängnis saß, riet einer Gruppe von Kronstädter Matrosen, die ihn besuchten: »Legt das Gewehr auf Kerenskis Schulter und schießt auf Kornilow.«

Die Bolschewiki stellten einen Forderungskatalog vor, dessen Kernpunkte die sofortige Entfernung der konterrevolutionären Generale aus der Truppe und ihre Ersetzung durch gewählte Führer, die Abschaffung der Todesstrafe, die Übergabe des Großgrundbesitzes an die Bauernkomitees, die gesetzliche Sicherung des Achtstundentages und demokratische Kontrolle der Fabriken durch die Arbeiterschaft, das Selbstbestimmungsrecht der nationalen Minderheiten Rußlands, die Einberufung der Konstituierenden Versammlung sowie ein allgemeiner demokratischer Frieden waren. Nur der vollständige Bruch der Revolution mit dem Bürgertum und die Übernahme der Macht durch die revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten könne diese Forderungen durchsetzen und die Konterrevolution zurückschlagen.

Während die Kerenski-Regierung noch auf Kompromisse mit den Putschisten hoffte, übernahm die Petrograder Arbeiterschaft die Verteidigung der Revolution. Lange Schlangen bildeten sich an den Rekrutierungsstellen der neugeschaffenen Roten Garde. Fabrikarbeiter erhöhten die Produktivität, um Maschinengewehre, Kanonen und Munition für die Roten Garden zu fertigen. Der Verband der Eisenbahnarbeiter demontierte Schienen, um den Bahnweg nach Petrograd für die Truppen der Gegenrevolution zu sperren. Angestellte der Telegrafenämter leiteten Befehle aus Kornilows Hauptquartier direkt an das Militärische Revolutionskomitee weiter, in dem die Bolschewiki über eine Mehrheit verfügten. Der Chauffeurverband stellte Fahrzeuge zum Transport der Rotgardisten zur Verfügung. Im Kampf gegen die Konterrevolution lebten die eingeschlafenen Arbeiter- und Soldatenräte im Hinterland und an der Front wieder auf und vielerorts bildeten sich neue »Komitees zur Verteidigung der Revolution«. »Der rebellische General hatte mit dem Fuß gestampft – und aus der Erde waren Legionen aufgetaucht: Doch es waren Legionen des Feindes«, resümierte Trotzki.

Die schärfste Waffe gegen die Konterrevolution aber war die Verbrüderung. Der kaukasischen »Wilden Division« wurde eine moslemische Delegation entgegengeschickt, der auch der Enkel des berühmten tschetschenischen Freiheitskämpfers Chamil angehörte. Schnell war eine gemeinsame Sprache gefunden und eine rote Fahne mit der Aufschrift »Land und Freiheit« wurde über dem Zug der Bergtruppen gehißt. Die Truppe, die eben noch »ihrem obersten Helden« Kornilow versichert hatte, »ihren letzten Tropfen Blut« für die Heimat zu vergießen, unterwarf sich Stunden später der Provisorischen Regierung. Auf der ganzen Front um Petrograd verbrüderten sich die von den Putschgenerälen getäuschten Truppen mit revolutionären Arbeitern und Soldaten oder zogen sich freiwillig zurück.

Der Putschversuch General Kornilows scheiterte, ohne daß ein einziger Schuß abgegeben wurde. Es fehlte den Putschisten schlicht an der Unterstützung der Bevölkerung. Die Bauern wußten, daß ein Sieg Kornilows das Ende ihrer Träume vom eigenen Land bedeutete und die einfachen Soldaten waren voller Haß gegenüber Offizieren, die sie mit der Reitpeitsche gedemütigt und die Todesstrafe eingeführt hatten.

Erst die Abwehr der Militärdiktatur bewog Kerenski am 14. September, die Republik auszurufen. Kornilow und weitere Putschoffiziere wurden von der Provisorischen Regierung verhaftet, aber niemals verurteilt. Und am 17. September war die Regierung gezwungen, Trotzki gegen eine Kaution von 3000 Rubeln aus dem Gefängnis zu entlassen.

Lenins Taktik, die Kompromißparteien der Provisorischen Regierung zu entlarven, ging auf. Die Bolschewiki, die sich in den Augen des Volkes als die tatkräftigsten Verteidiger der Revolution gezeigt hatten, konnten vielerorts einen Zustrom neuer Mitglieder vermelden, während die sozialdemokratischen Menschewiki rapide an Unterstützung in der Arbeiterschaft verloren und sich von den bäuerlichen Sozialrevolutionären ein linker Flügel abspaltete, der mit den Bolschewiki sympathisierte. Im Petrograder und Moskauer Sowjet erlangten die Bolschewiki am 14. September mit ihrer Forderung nach der Übernahme der gesamten Staatsmacht durch die Räte die Mehrheit.

»Der Kornilowsche Putsch spielte eine direkt entgegengesetzte Rolle zu der, die die bürgerliche Verschwörerbande angestrebt hatte: Er öffnete nicht nur den zurückgebliebenen Arbeitern die Augen, sondern auch den Bauern, nicht nur in der Heimat, sondern auch an der Front; er rief die größte Umgruppierung der Kräfte hervor und verstärkte die Position der Partei des revolutionären Proletariats gewaltig«, faßte Nikolai Bucharin die Folgen des gegenrevolutionären Abenteuers zusammen.

 

Nick Brauns

 

Junge Welt 07.09.2002