junge Welt 28.08.2007 / Schwerpunkt / Seite 3


Kopfgelderpressung

Wie Ankaras Armee im Ausland lebende Türken nötigt – und dabei von deutschen Behörden unterstützt wird

Von Nick Brauns und Gürsel Yildirim

»Her Türk Asker Dogar!« – »Jeder Türke wird als Soldat geboren!« Diese Parole lernen Kinder bereits in den Grundschulen. Die türkische Armee versteht sich als Hüterin der Werte des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk. Dafür hat sie mehrere Regierungen weggeputscht, gegen die kurdische Bevölkerung führt sie einen blutigen Krieg. Über den Nationalen Sicherheitsrat zieht die Armee weiterhin die Fäden im Staat. In der militarisierten türkischen Gesellschaft gilt die Armee als »Schule der Männlichkeit«, die weitverbreitete Überzeugung lautet: »Wer seinen Wehrdienst nicht hinter sich hat, ist kein richtiger Mann!«

In der Türkei herrscht für alle Männer ab dem 20. Lebensjahr Wehrdienstpflicht zwischen acht und 15 Monaten. Es gibt weder das Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch einen zivilen Ersatzdienst. Zuständig fühlt sich die Armee auch für im Ausland lebende und sogar dort geborene türkische Staatsbürger. Sie müssen bis zu ihrem 38.Geburtstag ihren »Militärdienst für das Mutterland« abgeleistet haben. Es sei denn, sie verfügen über genug Geld, um sich davon freizukaufen (Bedelli Askerlik). 5112,92 Euro beträgt das Kopfgeld, nach der Altersgrenze von 38 Jahren erhöht sich die Summe auf 7668 Euro. Wer älter als 40 ist, muß 10000 Euro hinlegen.

Freikauf möglich

Bereits im Osmanischen Reich gab es ab 1856 für nichtmuslimische Untertanen wie Griechen und Armenier die Möglichkeit zum Freikauf. Die hohe Wehrersatzgebühr von diesen häufig im Handel tätigen Bevölkerungsgruppen diente als wichtige Einnahmequelle für die Kassen des Staates. Heute gilt die Möglichkeit des Freikaufens vom Kriegsdienst für sogenannte Auslandstürken, da diese ansonsten wegen der Dauer des Militärdienstes ihren Aufenthaltsstatus oder ihre Arbeitsstelle gefährden würden. Die Armee versteht die Möglichkeit des Freikaufs als »Serviceangebot«, doch in Wirklichkeit handelt es sich um Erpressung zur Aufbesserung des Wehretats. Erpreßt werden nicht nur jene, die sich als »stolze Türken« begreifen, sondern auch Kurden, Armenier, Süryanis und andere aus Anatolien stammende Minderheiten sowie diejenigen, die nach dem Militärputsch 1980 aus politischen Gründen ins Ausland gingen. Diese ehemaligen Flüchtlinge ebenso wie Deutsch-Türken mit doppelter Staatsbürgerschaft können die Grenze der Türkei erst dann ohne drohende Zwangsrekrutierung passieren, wenn sie das Kopfgeld auf das Konto des türkischen Militärs überwiesen haben.

Zusätzlich zum Freikauf muß ein dreiwöchiger Militärdienst in der Brigadekommandantur für Soldatenausbildung in der südwestanatolischen Kleinstadt Burdur abgeleistet werden. Dieser symbolische Wehrdienst besteht vor allem aus ideologischer Beeinflussung. Die Schulungen haben Titel wie »Der Terror« – gemeint ist die kurdische PKK-Guerilla, »Türkisch-armenische Beziehungen« – also die Leugnung des türkischen Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges, oder »Geopolitische Lage der Türkei« – hier geht es um die angeblichen Pläne des Auslandes zur Aufspaltung der Republik. Außerdem werden ausgewählte Kursteilnehmer von einem Offizier über ihnen bekannte »feindliche« Personen und Organisationen im Ausland befragt.

Solange ein »Auslandstürke« einen türkischen Paß besitzt, gilt für ihn Militärdienstpflicht. Die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft wäre eine Möglichkeit, dem Militärdienst zu entkommen. Doch Voraussetzung dafür ist nach deutschem Recht die Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft. Ohne geleisteten Wehrdienst oder Freikauf läßt die Ankara aber niemanden gehen. »Hiermit bescheinigen wir, daß Herr N. N. gemäß Beschluß des türkischen Innenministeriums nicht aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen werden kann, da er wegen nicht geleistetem Militärdienst gesucht wird«, heißt es dann beim Generalkonsulat. Sollte ein solcher Fahnenflüchtiger dennoch türkischen Boden betreten, droht ihm Festnahme und anschließende Zwangsrekrutierung.

Pässe nicht verlängert

Besonders hart trifft es Auslandstürken über 38 Jahren. Sollten diese bis dahin ihren Wehrdienst nicht geleistet oder das Kopfgeld gezahlt haben, werden ihre Pässe konsularisch nicht verlängert. Erteilt die Einbürgerungsbehörde keinen deutschen Paß, fehlt ihnen »der edelste Teil eines Menschen«, wie es in Bert Brechts Flüchtlingsgesprächen heißt. Plötzlich stehen die Betroffenen ohne die an den Paß gekoppelte Aufenthaltsgenehmigung da. Sie müssen das Leben von Illegalen führen – mit allen sozialen und beruflichen Folgen. Schuld an dieser Notlage tragen auch die deutschen Behörden mit ihrem Beharren auf der Ausbürgerung vor Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft. Aber auch hier gilt wiederum: Wer über ausreichend Geld verfügt, wird trotzdem eingebürgert. Betroffen sind also all diejenigen, die weder das Geld für den Freikauf vom Kriegsdienst aufbringen konnten noch über ein ausreichendes Einkommen verfügen, um vom deutschen Staat als »Ausländer, die uns nutzen« (Günther Beckstein) anerkannt zu werden.

»Während die Zahl der Deserteure in die Tausende geht und Tausende von wehrpflichtigen Männern durch den Zwang zur Erfüllung der Wehrpflicht zum Töten gezwungen werden, schaffen Staat und Militär Privilegien für bestimmte Gruppen, nötigen diese Menschen, die Kosten der Gewalt und des Kriegswahns mitzutragen und sich mit dem Zwang der Wehrpflicht abzufinden«, beklagt der Verband Connection e.V., der Kriegsdienstverweigerer und Deserteure unterstützt.

Noch in den 80er und frühen 90er Jahren gab es Kampagnen von linken Migrantenorganisationen gegen den Kopfgeldzwang. Doch heute scheinen sich selbst diejenigen, die ansonsten das türkische Militär scharf kritisieren, mit dem »Bedelli Askerlik« abgefunden zu haben. Dabei wäre eine langfristige Kampagne der »Auslandstürken« gegen die Kopfgelderpressung ein längst notwendiger Schritt zur Emanzipation vom türkischen Militarismus.