Junge Welt 08.12.2012
/ Geschichte / Seite 15
Ohne Massenbeteiligung
Der vor 85 Jahren verlorene Aufstand in Kanton führte
schließlich zur »Mao-Strategie«
Von Nick
Brauns
Als »Pariser Kommune des Ostens«
ging ein dreitägiger kommunistischer Aufstand in der chinesischen Stadt Kanton
in die Annalen der Arbeiterbewegung ein. Sein Scheitern im Dezember 1927 sollte
sich auf lange Sicht als strategische Wendemarke der chinesischen Revolution
erweisen.
Auf Weisung der Kommunistischen Internationale waren die Mitglieder der
Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) 1923 in die
bürgerliche Nationalpartei Kuomintang (KMT) eingetreten. Nach Einschätzung der
Komintern-Führung war nicht an eine sozialistische Revolution im agrarisch
dominierten China zu denken. Daher sollten die Kommunisten unter Verzicht auf
Propagierung ihres sozialistischen Programms den Kampf um nationale Einheit und
vollständige Unabhängigkeit des unter Feudalherren und Warlords
aufgesplitterten und von imperialistischen Mächten ausgepreßten
Landes unterstützen. Vor dem Hintergrund der revolutionären Massenbewegung in
den Jahren 1925 bis 1927 gelang es der KPCh als
aktivste Kraft innerhalb der mit Komintern-Hilfe reorganisierten und
finanzierten KMT, die Zahl ihrer Mitglieder von 1000 auf 50000 zu
vervielfachen. In der von Militärs und Großgrundbesitzern dominierten
KMT-Führung wurde dies mit Sorge gesehen. Schließlich putschte der
Oberbefehlshaber der KMT-Armee, General Tschiang Kai-schek,
am 12. April 1927 in Shanghai gegen seine bisherigen Bündnispartner.
Gewerkschaften wurden zerschlagen und Tausende Kommunisten inhaftiert oder
massakriert.
Schlecht aufgestellt
Angeleitet von den Komintern-Instrukteuren Heinz Neumann und Besso Lominadse vollzog die KPCh unter ihrem neuen Parteiführer Chü
Chiu-pai nun eine schroffe Linkswendung. Sie erklärte
den Übergang von der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen Revolution.
Daher solle Kurs auf den bewaffneten Aufstand und die Bildung von Räten
genommen werden. Nach dem Scheitern des von Mao Tse-tung geleitete
Herbsternteaufstandes in Hunan und eines Aufstandes in
Nanchang im August sollte ein Aufstand in Kanton in
der Provinz Kwangtung zum Fanal einer landesweiten
Revolution werden. »Die Regierung von (KMT-Warlord) Tschang
Fat Kwei war verfault und
kraftlos, sie hatte bislang nicht das Vertrauen der Bourgeoisie gewonnen, sie
war bei den Arbeitern und Bauern verhaßt, während sie
sich nicht mehr länger auf ihre eigenen Streitkräfte verlassen konnte. Die
Bereitschaft der Arbeiter zum Kampf war nie größer, ihr Feind nie schwächer«,
hieß es in einer Analyse der Komintern.
Obwohl kommunistische Militärführer entschieden von einem Aufstand abrieten,
wurde der Aufstand auf den 13. Dezember terminiert. Da örtliche Behörden von
den Plänen erfuhren, schlugen die schlecht bewaffneten Arbeitermilizen der
Roten Garde unter Führung ihres bereits am nächsten Tage gefallenen Kommandeurs
Zhang Tailei bereits in der Nacht zum 11. Dezember
los. Das Überraschungsmoment gegenüber einer fünffachen feindlichen Übermacht
ausnutzend, übernahmen sie alle Polizeistationen der Stadt, stürmten die
Gefängnisse und bewaffneten die daraus befreiten Kommunisten und
Gewerkschafter. Auch ein unter kommunistischem Einfluß
stehendes Kadettenregiment schloß sich den
Aufständischen an, die mit städtischen Bussen und Straßenbahnen bis neun Uhr
morgens fast alle wichtigen Punkte der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht
hatten.
Am Morgen erfuhren die Kantoner, daß
ihre Stadt nun von einem »Kantoner Sowjet der
Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten« regiert wurde, der die Einführung
des Acht-Stunden-Arbeitstages, die Nationalisierung der Industrie und die
Verteilung des Landes unter armen Bauern und revolutionären Soldaten
dekretierte.
Doch der Kantoner Sowjet war – anders als die Räte in
der russischen Revolution 1917 – nicht aus Wahlen in den Betrieben hervorgegangen,
sondern auf einer geheimen Versammlung der Kommunisten vor Aufstandsbeginn
ernannt worden. »Die breitesten Massen haben sich am Aufstand nicht beteiligt«,
mußte ein Mitglied des Revolutionären Kriegsrates des
Sowjets eingestehen. Von den etwa 150000 Kantoner
Arbeitern, die in kommunistisch geführten Gewerkschaften organisiert waren,
hatten sich selbst nach optimistischen Schätzungen keine 10000 beteiligt. Dazu
kam das militärstrategische Versäumnis der Revolutionäre, rechtzeitig die
Uferpromenade zu besetzen. Von der Flußseite aus
erfolgte so der Gegenangriff der gegenüber den Kommunisten geeint agierenden
Truppen der zuvor in einem internen Machtkampf konkurrierenden KMT-Warlords Tschang Fat Kwei
und Li Tschi-sen. Rückendeckung erhielten die
konterrevolutionären Truppen von britischen, französischen, japanischen und
US-Kriegsschiffen, die ihre Geschütze auf die Stellungen der Roten Garde
gerichtet hatten, während japanische Marineinfanteristen auf der Uferpromenade
auf Arbeiter schossen.
Als das Scheitern des Aufstandes unvermeidbar war, setzten sich 2000
Revolutionäre am Nachmittag des 13. Dezember in die unter der Kontrolle von
Bauernguerillas stehenden ländlichen »Rätebezirke« Hai Fong
und Lu Fong ab. Unter den
in Kanton verbliebenen Kommunisten richteten die konterrevolutionären Truppen
ein Massaker an, dem mehr als 5000 Arbeiter zum Opfer fielen.
Kampf zweier Linien
Die Komintern feierte den Aufstand trotz Kritik an der ungenügenden
Vorbereitung als »glorreichste Tat des chinesischen Proletariats«. Dagegen
bezeichnete der frühere von Lenin hochgeschätzte Komintern-Experte für
koloniale Fragen Manabendra Nath
Roy den »Kantoner Aufstand als das tragischste
Ereignis in der ganzen Geschichte der chinesischen Revolution«. Roy nannte den
Aufstand »ein tollkühnes, schlecht überlegtes, dilettantisch vorbereitetes
Offensivunternehmen, ein wirkliches Abenteuer«. Der Aufstand »vollendete den
Niedergang der Arbeiterklasse und setzte sie in der Folgezeit ganz außer
Gefecht«, resümierte der 1929 aufgrund seiner Opposition zu Stalins Politik aus
der Internationale ausgeschlossene indischstämmige
Kommunist.
Die KPCh setzte 1929 ihre Offensivpolitik mit einer
Reihe von lokalen Bauernaufständen fort, die aufgrund fehlender
Massenunterstützung den Charakter isolierter Guerillabewegungen behielten.
Trotz der massiven Repression, der innerhalb von drei Jahren 25000 Kommunisten
zum Opfer fielen, wuchs die Partei weiter massiv an. Doch von 130000
Mitgliedern im Jahr 1930 stammten nur noch 5000 aus Industriegebieten, ihrer
sozialen Zusammensetzung nach war die KPCh eine
Bauernpartei mit Schwerpunkt auf den Dörfern geworden.
Die Bauern aber sahen in der Partei und der von ihr geführten Roten Armee in
erster Linie ein Werkzeug der ersehnten Landreform, während sie mit dem
Sozialismus wenig anfangen konnten. Als langfristige Folge ihrer Niederlage in
den Städten setzte sich so innerhalb der chinesischen Kommunisten in den 30er
Jahren im »Kampf zweier Linien« die nach dem späteren Parteiführer Mao Tse-tung
benannte »Mao-Strategie« des ländlichen Guerillakrieges gegenüber der
marxistisch-leninistischen Orientierung auf die Arbeiterklasse durch.
Quelle: Gewaltigstes Ereignis der chinesischen
Revolution
Die Arbeiter- und Bauernmassen waren
von der Partei nicht genügend zum Aufstand vorbereitet worden. Recht
schwerwiegend war der Umstand, daß man es unterlassen
hatte, einen gewählten Rat als Organ des Aufstandes zu schaffen. Ein
Generalstreik, der die Teilnahme breitester Arbeitermassen am Aufstand hätte
gewährleisten können, war ihm nicht vorausgegangen. Die Massen wurden durch den
Ausbruch des Aufstandes überrascht, er traf sie unvorbereitet. (…) Ebenso
verhängnisvoll wirkte sich der Umstand aus, daß
jegliche vorbereitende Arbeit in der feindlichen Armee unterblieben war. Hätte
die Propaganda der Kommunistischen Partei die Truppen des Gegners zermürbt, so
wäre es letzterem, trotz der Unterstützung der Imperialisten, wohl kaum
gelungen, die Kantoner Kommune niederzuwerfen. Auch
die von der Partei unter den Bauern durchgeführte Arbeit erwies sich als
unzulänglich. (…) Desweiteren ist zu sagen, daß die
Parteiorganisation selbst, wie auch der Kommunistische Jugendverband, nicht
hinreichend auf den Aufstand vorbereitet waren. Ein
Teil der Genossen erfuhr von ihm erst, als die Schüsse schon durch die Straßen
schallten. Und doch kann die Bedeutung der Kantoner
Kommune, trotz ihrer Niederlage, nicht hoch genug angeschlagen werden. Sie
stellt das gewaltigste Ereignis der gesamten Geschichte der chinesischen Revolution
dar. Der Kantoner Aufstand ist der Wendepunkt,
welcher der Arbeiterklasse und der Armbauernschaft Chinas den neuen Weg zur
Macht wies, zur einzigen Macht, die sie von den Gutsherren, der Bourgeoisie,
dem Imperialismus zu befreien vermag.
aus: Hwang Ping, Der Kantoner
Aufstand und seine Vorgeschichte, zitiert nach Manfred Hinz (Hg.), Räte-China, Frankfurt/Main 1973, S. 29f.