Junge Welt 23.04.2011
/ Geschichte / Seite 15
Ein Schritt vorwärts
Auf dem Weg zur Dritten Internationale: Zu Ostern 1916
trafen sich sozialistische Kriegsgegner im Schweizer Bergdorf Kiental
Von Nick
Brauns
In der
neutralen Schweiz hatten sich mitten im Weltkrieg im September 1915 Vertreter
von Oppositionsströmungen des internationalen Sozialismus getroffen. Diese
Kriegsgegner reichten von den mehrheitlich vertretenen Zentristen, die nur in
Worten gegen den Krieg protestierten und auf eine Versöhnung mit der
kriegsunterstützenden Mehrheit ihrer Parteien hofften, bis zu den Anhängern
eines »revolutionären Defätismus« um Lenins Bolschewiki. Diese plädierten für
eine Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg zum Sturz der eigenen
imperialistischen Regierung. Um Lenin bildete sich die Zimmerwalder Linke, der
allerdings weder die anwesenden Vertreter der deutschen Gruppe »Internationale«
noch Leo Trotzki angehörten. Dennoch unterstützte auch die Zimmerwalder Linke
ein von Trotzki verfaßtes Manifest, das den Weltkrieg
als imperialistischen Krieg charakterisierte und die Zustimmung von
sozialistischen Abgeordneten zu Kriegskrediten verurteilte. Die europäischen
Arbeiter wurden dazu aufgerufen, für einen Frieden ohne Annexionen und
Kontributionen zu kämpfen. Eine »Internationale Sozialistische Kommission«
(ISK) wurde als »ständiges Verbindungs- und Informationszentrum« der
kriegsgegnerischen sozialistischen Strömungen gebildet.
Zur Vorbereitung einer Folgekonferenz verfaßte Lenin
im Winter 1915/16 mehrere Artikel, die zum Teil über die Presse der ISK den
oppositionellen Sozialdemokraten in Westeuropa bekannt wurden. In Ȇber das
Friedensprogramm« und »Die sozialistische Revolution und das
Selbstbestimmungsrecht der Nationen« machte er deutlich, daß
der Kampf gegen den Krieg nicht in Worten, sondern durch Taten geführt werden
müsse. Bei Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems würde der Krieg nur
mit einem imperialistischen Frieden enden können. Es sei daher unmöglich, einen
demokratischen Frieden ohne Revolution zu erkämpfen. »Es genügt nicht, wenn ein
Sozialist, ganz gleich welcher Nation, in Worten die Gleichberechtigung der
Nationen anerkennt, wenn er schwört und hoch und heilig versichert, gegen
Annexionen zu sein«, heißt es in den »Vorschlägen des Zentralkomitees der SDAPR
an die Zweite Sozialistische Konferenz« zur Konkretisierung des Zimmerwalder
Manifestes, »Jeder Sozialist ist vielmehr verpflichtet, sofort und unbedingt
die Freiheit der Lostrennung der Kolonien und Nationen zu fordern, die von
seinem eigenen ›Vaterland‹ unterdrückt werden.«
Für Ostern 1916 hatte die ISK die zweite Konferenz der Zimmerwalder Bewegung im
kleinen Schweizer Bergort Kiental
einberufen, die vom 24. bis zum 30. April im Hotel »Bären« tagte. Von den 43
Delegierten aus Rußland, Deutschland, Italien, Polen
Frankreich, Serbien, Österreich, Portugal und England gehörten zwölf der
Zimmerwalder Linken an. Von den sieben anwesenden Deutschen unterstützte nur
Paul Frölich von den außerhalb der SPD stehenden
Bremer Linksradikalen konsequent den Standpunkt der Bolschewiki, während die
beiden Vertreter der Gruppe »Internationale« noch schwankten. Die vier weiteren
deutschen Delegierten unter Leitung von Adolph Hoffman bezeichneten sich als
»Opposition innerhalb der Partei« und machten damit deutlich, daß sie einen Bruch mit der sozialchauvinistischen
SPD-Führung weiterhin ablehnten. Weitere Delegierte aus England, Österreich,
Rumänien, Bulgarien, Schweden und Norwegen hatten keine Visa für die Schweiz
erhalten.
Die zentrale Streitfrage in Kiental betraf das
Verhältnis zur bei Kriegsbeginn auseinandergeflogenen Zweiten Internationale
und deren »wegen des Krieges« geschlossenen Führungsgremiums, des
Internationalen Sozialistischen Büros (ISB). Dessen permanenter Sekretär
Camille Huysmanns im neutralen Holland hoffte auf
eine gegenseitige »Amnestierung« nach dem Krieg. Wenn sich die sozialistischen
Parteien wieder auf den alten Weg begäben, würde sich die Zimmerwalder
Organisation auflösen, lautete seine von den zentristischen
Vertretern in Kiental geteilte Überzeugung. Man dürfe
die alten Parteiinstanzen nicht spalten, sondern müsse sie zurückerobern,
erklärte der russische Menschewist Pawel Axelrod. »Wir müssen mit ihnen so
umgehen wie ein erfahrener und aufmerksamer Arzt mit einem lieben Patienten
(…). Es geht hier nicht um irgendeinen Verrat. Ebenso, wie beim einzelnen
Individuum ungefähr mit 18 Jahren der Stimmbruch eintritt, erging es auch der
II. Internationale. Man muß die Einberufung des ISB
fordern.« Gemeinsam mit Vertretern aus den
sozialistischen Parteien Afrikas, Indiens und Japans könnten die Kriegsgegner
eine Mehrheit auf einer ISB-Sitzung bekommen, warb der Italiener G. E.
Modigliani mit einem Taschenspielertrick für eine Einberufung des ISB. Dagegen
propagierte die Zimmerwalder Linke den offenen, auch organisatorischen Bruch
mit den kriegstreiberischen Sozialchauvinisten. »Die
Leute, mit denen ihr die Internationale wiederherstellen wollt, sind tot, sie
existieren nicht buchstäblich, sondern politisch nicht mehr«, warf Lenin den
Zentristen vor und plädierte angesichts einer von ihm bereits wahrgenommenen
Gärung der kriegsmüden Volksmassen für den Aufbau einer neuen Dritten
Internationale. »Lenin spricht ins Leere! Wo sind denn seine
Arbeiterbataillone? Nirgends!« konterte der Führer der
Menschewiki Julius Martow.
Die schließlich mit großer Stimmenmehrheit angenommene Schlußresolution
war ein Kompromiß. Ihre Einleitung entsprach einer
regelrechten Kriegserklärung an das ISB. Sollte es tatsächlich zur Einberufung
des ISB kommen, würde die Zimmerwalder Bewegung dort »die tatsächlichen
Absichten des nationalen Sozialismus, der die Arbeiterklasse von ihren Zielen
ablenken wollte«, entschleiern und diesem »Täuschungsversuch« die Prinzipien
der internationalistischen Opposition entgegensetzen. Die Konferenz zeigte sich
überzeugt, »daß die Internationale nur in dem Maße
als die wirkliche politische Macht aus dem Zusammenbruch neu erstehen wird, als
das Proletariat sich von den imperialistischen und chauvinistischen Einflüssen
freimachen und den Weg des Klassenkampfes und der Aktionen der Massen wieder
betreten wird«.
Eine weitere Resolution zeigte den seit der ersten Konferenz deutlich
gewachsenen Einfluß der Zimmerwalder Linken. Darin
wurden nun pazifistische Illusionen abgelehnt und anerkannt, daß »der Kampf für den dauerhaften Frieden daher nur im
Kampf für die Verwirklichung des Sozialismus bestehen« kann. In einer
Sympathiebekundung sprachen die Delegierten allen Vorkämpfern ihre Solidarität
aus, »die inmitten der blutigen Weltkatastrophe die Fahne des Sozialismus
hochhalten und trotz des Burgfriedens und der Versöhnungstheorien im Kampf
gegen den Kapitalismus keinen Waffenstillstand anerkennen«.
Die Konferenzen von Zimmerwald und Kiental halfen
Lenin und den Bolschewiki, innerhalb der europäischen sozialistischen Bewegung
einen Kern konsequenter Internationalisten herauszukristallisieren. Doch den
entscheidenden Anstoß für die Gründung der Dritten kommunistischen
Internationale gab erst die sozialistische Oktoberrevolution 1917 in Rußland.
Grigori Sinowjew: »Keine Einheit zwischen Sozialisten
und Dienern der Bourgeoisie«
Die zweite
Zimmerwalder Konferenz stellt unzweifelhaft einen Schritt vorwärts dar. Der Einfluß der Linken erwies sich als viel stärker als in
Zimmerwald. Die Vorurteile gegen die Linke sind geringer geworden. Aber kann
man denn sagen, daß die Würfel geworfen, daß die Zimmerwalder endgültig den Weg des Bruches mit den
offiziellen ›Sozialisten‹ beschritten haben, daß
Zimmerwald zum Keim der III. Internationale geworden ist? Nein, mit gutem
Gewissen kann man dies noch nicht sagen. Alles, was man sagen kann, ist, daß die Chancen für eine solche, für die revolutionären
Sozialisten günstige Wendung jetzt größer sind, als sie nach Zimmerwald waren.
Doch neue Schwankungen, neue Zugeständnisse den Sozialchauvinisten,
insbesondere nach dem Kriege, wenn ihre Herren (die Bourgeoisie) ihnen erlauben
werden, in Worten noch ›linkser‹ zu werden – sind
sehr wohl möglich. (…) Es kann keine Einheit geben zwischen Sozialisten und
Dienern der Bourgeoisie. Muranow und Petrowski in Rußland, Liebknecht
in Deutschland, Höglund und Heden in Schweden, Mac
Lean in England – alle diese unsere Genossen, die von den Regierungen ihrer
›Vaterländer‹ in Gefängnissen gehalten werden, sind die wahren Träger der Idee
der neuen Arbeiterinternationale. Für die Dritte Internationale!«
* Aus: N.
Lenin/G. Sinowjew: Gegen den Strom, Aufsätze aus den
Jahren 1914–1916, Hamburg 1921, S. 354 f.