Geiseln des Staates
Massenprozess gegen kurdische Politiker in
der Türkei
von Nick
Brauns
In
Diyarbakir, der kurdischen Metropole im Südosten der Türkei, läuft seit Mitte
Oktober vor dem 6. Strafgerichts ein Massenprozess
gegen 151 kurdische Politiker, Rechtsanwälte, Journalisten, Gewerkschafter,
Frauen- und Menschenrechtsaktivisten. Ihnen drohen Haftstrafen zwischen 15 Jahre
und lebenslänglich wegen Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer
terroristischen Organisation. Gemeint ist damit die »Gemeinschaft der
Gesellschaften Kurdistans« (KCK), ein auf Initiative des inhaftierten PKK-Chefs
Abdullah Öcalan gebildeter Dachverband, den die Staatsanwaltschaft als
städtischen Arm der Arbeiterpartei Kurdistans bezeichnet.
Die 7578
Seiten starke Anklageschrift beruht auf einer zweijährigen Telefonüberwachung
sowie geheimen Mitschnitten von Sitzungen der Kommunalverwaltungen in den
kurdischen Gebieten der Türkei. Dazu kommen Aussagen »vertraulicher Zeugen«,
deren Identität die Staatsanwaltschaft geheim hält. Keinem der als Rädelsführer
Angeklagten wird ein Anschlag oder auch nur Waffenbesitz zur Last gelegt. In
der Anklageschrift heißt es vielmehr, die PKK strebe in der Türkei eine
»demokratische Republik« mit »freien Kommunen« an. Wer dieses Ziel teilt, gilt
damit bereits als PKK-Unterstützer. Aufgezählt werden legale Aktivitäten wie
die Teilnahme an Demonstrationen, Pressekonferenzen und Versammlungen. »Diese
Anklage bringt eine ganze Gesellschaft auf die Anklagebank«, kommentiert
deshalb die Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Die KCK selbst hat jede
Verbindung mit den inhaftierten kurdischen Politikern zurückgewiesen. »Wir sind
die KCK, und wir sind hier«, sagte der Exekutivratsvorsitzende der KCK, Murat Karayilan, kurz vor Prozessbeginn in einer
Rundfunkansprache aus einem Guerillacamp im nordirakischen Kandil-Gebirge.
Karayilan und der seit fast 12 Jahren auf der
Gefängnisinsel Imrali gefangene Abdullah Öcalan
nannten mehrfach die Freilassung der als „Geiseln“ des türkischen Staates
bezeichneten zivilen Gefangenen als Bedingung für einen dauerhaften
Waffenstillstand der Guerilla.
Während die
türkische Regierung erstmals öffentlich eine Lösung der kurdischen Frage
angekündigt hatte, setzten gleichzeitig kurz nach dem Wahlerfolg der Partei für
eine Demokratische Gesellschaft (DTP) bei den Kommunalwahlen im März 2009, bei
denen sie 99 Bürgermeisterämter in den kurdischen Landesteilen der Türkei
eroberte, Massenverhaftungen gegen Funktionäre und Mitglieder der linken
prokurdischen Partei ein. Seit dem 14. April 2009 wurden weit über 4000
Mitglieder der DTP und ihrer Nachfolgerin BDP bei landesweiten Razzien oder im
Zusammenhang mit Demonstrationen vorübergehend festgenommen, bis zu 2000 von
ihnen befinden sich zur Zeit in Untersuchungshaft. Betroffen sind auch
zahlreiche Minderjährige, die nach Steinwürfen auf Polizeipanzer zu
langjährigen Haftstrafen als „Terroristen“ verurteilt wurden. Bei einer
Polizeiaktion am 24. Dezember 2009 wurden in den Großstädten Siirt, Batman und Cizre sowie
anderen Orten zehn Bürgermeister festgenommen. Auch die damals in
entwürdigender Weise in Handschellen abgeführten Politiker befinden sich
seitdem in Haft. Prominentester Angeklagter im so genannten KCK-Prozess ist der
mit 66 Prozent der Stimmen wiedergewählte Oberbürgermeister der Millionenstadt
Diyarbakir, Osman Baydemir. Der Politiker befindet
sich zwar in Freiheit, doch gegen ihn wurde ein Ausreiseverbot verhängt.
Weitere bekannte Angeklagte sind der ehemalige Parlamentsabgeordnete Hatip Dicle und der Vorsitzende
des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir, Muharrem Erbey.
Vertreten
werden die 151Angeklagten, von denen sich 2/3 in Untersuchungshaft befinden,
von rund 300 Rechtsanwälten. Im Gericht selber können die täglich in vergitterten
Wagen antransportierten Angeklagten keinen Kontakt zu ihren Verteidigern
aufnehmen. Dutzende im Gerichtssaal aufmarschierte bewaffnete Militärpolizisten
haben einen Kordon zwischen den Angeklagten, ihren Verteidigern und den
Prozessbeobachtern gebildet. Schon dieser martialische Auftritt weckt
Erinnerungen an die Massenprozesse gegen kurdische und türkische Sozialisten
und Gewerkschafter nach dem Militärputsch von 1980, als sich in diesem Gebäude
noch das Militärgericht befand.
Vor dem
Gerichtsgebäude versammelten sich jeden Prozesstag zum Teil Tausende Menschen.
Trotz eines Großaufgebots der mit Wasserwerfern und Räumpanzern aufgefahrenen
Polizei wurden Straßenschilder mit PKK-Symbolen überklebt, Jugendliche sangen
Guerillalieder. »Wenn die Europäer nicht hier wären, würde die Polizei
schießen«, meinte ein Sesamkringel-Verkäufer. Über 100 Parlamentarier und
Menschenrechtsaktivisten aus dem Ausland, unter anderem von der deutschen
Linkspartei, waren als Beobachter zum Prozessauftakt Mitte Oktober angereist.
Dazu kamen Gewerkschaftsvorstände, Schriftsteller und Intellektuelle aus der
Westtürkei, die ebenfalls ihre Solidarität mit den inhaftierten Politikern
zeigten. Nur ein kleiner Teil von ihnen durfte in den Gerichtssaal, der trotz
der hohen Zahl von Angeklagten nur 80 Besucherplätze fasste.
»Die
Angeklagten repräsentieren das Volk«, erklärte der angeklagte ehemalige
Parlamentsabgeordnete Hatip Dicle
in einer kurzen Erklärung zu Prozessbeginn. Im Mittelpunkt dieses Verfahrens
stehe die kurdische Frage: »Zu einem Zeitpunkt, an dem über eine Niederlegung
der Waffen [der PKK] diskutiert und intensiv nach einer demokratischen Lösung
dieses Problems gesucht wird, dürfte ein solcher Prozess nie stattfinden.«
Eine
zentrale Forderung der Angeklagten und ihrer Anwälte ist es, sich in ihrer
kurdischen Muttersprache zu verteidigen. Dieses Ansinnen wies die Kammer jedoch
zurück. »Der soziale und Bildungsstand der Angeklagten zeigt, daß sie Türkisch beherrschen«, begründete das Gericht diese
Entscheidung, die später von einem übergeordneten Gericht bestätigt wurde. Bei
der Personalienfeststellung gaben die Angeklagten
ihre Daten dennoch in kurdischer Sprache an. Dabei wurden sie bereits nach den
ersten zwei Worten »name min« – »ich heiße« –
unterbrochen, und der Richter verlass die Daten anschließend in türkischer
Sprache. Wenn Angeklagte gegen falsche Daten auf kurdische protestierten, wurde
dies vom Gericht kurzerhand ignoriert. Zu einem Eklat kam es Anfang November,
als der ehemalige Vorsitzende der verbotenen Partei für eine Demokratische
Gesellschaft DTP, Bayram Altun, seine Verteidigungsrede in kurdischer Sprache
halten wollte. Das Gericht ließ sein Mikrophon ausschalten und erklärte, Altun
habe in einer »unbekannten
Sprache«
gesprochen. Als sein Verteidiger Ramazan Morkoc dies
als eine Beleidigung des kurdischen Volkes bezeichnete, wurde der Anwalt vom
Vorsitzenden Richter des Saales verwiesen und von Militärpolizisten
rausgeschmissen. Alle weiteren Anwälte solidarisierten sich mit ihrem Kollegen
und verließen daraufhin ebenfalls den Raum. Tausende Menschen demonstrierten
daraufhin in Diyarbakir und anderen kurdischen Städten für ihr Recht auf die
kurdische Muttersprache.
Während Übersetzer
in den Augen des Gerichts die Verhandlungsdauer unnötig verlängern würden,
wurde während des ersten Prozessmonats eine 900 Seitige Kurzfassung der 7578
Seiten umfassenden Anklageschrift verlesen. Schließlich wurde am 12. November
dann der Prozessfortgang um zwei Monate auf den 13. Januar 2011 vertagt.
Freigelassen wurde niemand der zum Teil seit Frühjahr 2009 Inhaftierten.
Auf
Initiative von Abdullah Öcalan hat die PKK-Guerilla
ihren seit Mitte August mehrfach verlängerten Waffenstillstand bis zu den
türkischen Parlamentswahlen in Juni 2011 ausgeweitet. Öcalan hatte zuvor
erklärt, Staatsvertreter seien in einen Dialog mit ihm getreten. Angesichts der
fortgesetzten Verhaftungen ziviler Politiker und der andauernden auch
grenzüberschreitenden Militäroperationen gegen mutmaßliche Guerillastellungen
erscheint es allerdings zweifelhaft, dass der Staat und die
islamisch-konservative AKP-Regierung tatsächlich eine demokratische Lösung der
kurdischen Frage anstreben. Die angedachte „Lösung“ der AKP zielt vielmehr darauf,
im Namen des Islam den konservativeren Teil der kurdischen Bevölkerung mit dem
türkischen Staat auszusöhnen, während gleichzeitig die fortschrittliche
kurdische Selbstorganisation, die BDP, die Frauenbewegung und die
Rätestrukturen in den Kommunen zerschlagen werden sollen. In dieses Bild passt,
dass als nahezu einziges konkretes Ergebnis der im Frühjahr 2009 verkündeten
„kurdischen Öffnung“ der Regierung der Koran mittlerweile vom staatlichen
Religionsamt auf kurdisch übersetzt wurde und als zentraler Punkt der
Wirtschaftsförderung der seit Gründung der Republik unterentwickelt gehaltenen
östlichen, kurdischen Landesteile der Bau Hunderter neuer Moscheen geplant ist.
Bei den Gesprächen mit Abdullah Öcalan scheint es der Regierung also vor allem darum
zu gehen, mit vagen Versprechungen über mögliche Verfassungsänderungen nach der
Wahl die kurdische Bewegung, die ihre Stärke zuletzt beim massiv befolgten
Boykott eines Verfassungsreferendums der Regierung im September und einem
anschließenden Schulstreik für muttersprachlichen Unterricht unter Beweis
stellte, in eine passive Abwartehaltung zu drängen.
Vor einer
solchen Kalkulation der Regierung warnt die KCK-Führung ausdrücklich in einer Erklärung
zum 32. Jahrestag der Gründung der PKK Ende November: „Wenn bis März keine
konkreten Schritte unternommen werden, kann niemand, keine Kraft, das
Aufflammen eines revolutionären Widerstandes verhindern.“ Gleichzeitig
appellierte die KCK an die türkische und kurdische Bevölkerung sich aktiv für
den Friedensprozess zu engagieren. Gefragt ist jetzt
insbesondere die Linke und die Gewerkschaftsbewegung in der Westtürkei, das
Bündnis mit der kurdischen Demokratiebewegung auszubauen, um für eine wirkliche
Demokratisierung der Türkei jenseits von kemalistischer
Militärdiktatur oder neoosmanischem AKP-Polizeistaat zu kämpfen.
Der Autor
gehörte im Oktober einer Beobachterdelegation zum KCK-Prozess in Diyarbakir an
Erschien in
Münchner Türkei Report Dezember 2010 (DIE LINKE. im Stadtrat München)