Junge Welt 25.09.2004 Wochenendbeilage
Anstelle der Sekten
Vor 140 Jahren wurde die Internationale
Arbeiterassoziation gegründet
»In Erwägung, daß
die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert
werden muß« und »weder eine lokale, noch eine nationale, sondern eine soziale
Aufgabe ist, welche alle Länder umfaßt, in denen die moderne Gesellschaft
besteht, und deren Lösung vom praktischen und theoretischen Zusammenwirken der
fortgeschrittensten Länder abhängt«, wurde am 28. September 1864 in London eine
Internationale Arbeiterassoziation gegründet, die später als I. Internationale
in die Geschichte einging.
Der von Karl Marx und Friedrich Engels geleitete Bund der Kommunisten hatte
schon lange auf die Gründung eines solchen Zusammenschlusses orientiert, doch
die entscheidende Initiative kam in Folge eines weltweiten Aufschwungs der
Klassenkämpfe von den Arbeitern selbst. Vorangegangen war eine internationale
Streikwelle im Gefolge der Wirtschaftskrise von 1857/58, der selbstlose Kampf
englischer Arbeiter gegen die Pläne der herrschenden Klasse zur Unterstützung
der sklavenhaltenden Südstaaten während des amerikanischen Bürgerkrieges und
der Aufschwung der bürgerlich-demokratischen Bewegungen in Deutschland und
Italien. Auf einer gemeinsamen Solidaritätskundgebung für den nationalen
Befreiungskampf des polnischen Volks am 22. Juli 1863 in der Londoner St. James
Hall hatten die Führer der englischen Trade-Union-Bewegung und der
französischen Arbeitervereine die Gründung einer internationalen Organisation
des Proletariats vereinbart.
Das Vorbereitungskomitee trat auch an deutsche, italienische, polnische und
irische Emigranten heran, die nach der Niederlage der europäischen Revolution
1848/49 nach England geflohen waren. Die stärkste internationale
Arbeiterabteilung in London bildeten die im kommunistischen Deutschen
Arbeiterbildungsverein zusammengeschlossenen deutschen Arbeiter. Als ihre
Vertreter wurden Karl Marx und Johann Georg Eccarius zur Gründungsversammlung
der IAA eingeladen.
Der kleine Saal der Londoner St. Martin’s Hall unweit des Trafalgar-Square war
gedrängt voll. Ein deutscher Arbeiterchor stimmte revolutionäre Lieder an.
Immer wieder wurden die Reden durch Beifall und Anerkennungsrufe unterbrochen.
Die französischen Delegierten schlugen der Versammlung vor, »eine
Zentralkommission aus in London lebenden Arbeitern verschiedener Länder mit
Unterkommissionen in anderen Städten Europas zu bilden«, um die umfassende
Beratung wichtiger Fragen in allen Ländern zu organisieren. Dieser Antrag wurde
als Grundlage einer internationalen Vereinigung des Proletariats angenommen und
ein mehr als 30köpfiges Komitee zu dessen Umsetzung gewählt. Die zukünftige
Leitung der Internationale lag bei diesem Generalrat in London. Marx erlangte
als korrespondierender Sekretär für Deutschland bald den entscheidenden Einfluß
und verfaßte die programmatischen Dokumente. Marx, so erklärte Engels später,
wäre bei der Londoner Konferenz der einzige gewesen, »der sich klar war über
das, was zu geschehen hatte und was zu gründen war, das war der Mann, der schon
1848 den Ruf in die Welt geschleudert hatte: Proletarier aller Länder,
vereinigt euch!«
Marx’ vorrangiges Ziel war die Anleitung der verschiedenen Sektionen der IAA im
Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus. »Politische Macht zu erobern ist
daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen. Sie scheinen dies begriffen
zu haben, denn in England, Frankreich, Deutschland und Italien zeigt sich ein
gleichzeitiges Wiederaufleben und finden gleichzeitige Versuche zur
Reorganisation der Arbeiterpartei statt. Ein Element des Erfolges besitzt sie,
die Zahl. Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale, wenn Kombination sie
vereint und Kenntnis sie leitet«, schrieb er in der berühmten Inauguraladresse
zur Gründung der IAA.
Die Internationale war ein lockerer Verband von Organisationen und Individuen
verschiedenster politischer Richtungen der Arbeiterbewegung. Die
reformistischen englischen Gewerkschafter verstanden sich nicht als
Sozialisten, während die Franzosen als Anhänger der anarchistischen Philosophie
Proudhons den organisierten Klassenkampf ablehnten. Die italienischen
Arbeitervereine standen anfangs unter dem Einfluß des nationalistischen
Verschwörers Mazzini, bevor sie sich dem Anarchismus Bakunins zuwandten. In
Deutschland machten den Propagandasektionen der IAA die Anhänger Lassalles zu
schaffen. »Indem Marx die Arbeiterbewegung verschiedener Länder zusammenfaßte
und die verschiedenen Formen des nichtproletarischen, vormarxistischen
Sozialismus (...) in die Bahnen gemeinsamen Handelns zu lenken suchte, wobei er
die Theorien aller dieser Sekten und Schulen bekämpfte, schmiedete er eine
einheitliche Taktik des proletarischen Kampfes der Arbeiterklasse der
verschiedenen Länder«, erkannte Lenin.
Der theoretische Kampf für den wissenschaftlichen Sozialismus ging Hand in Hand
mit praktischen Beispielen des proletarischen Internationalismus. 1867
organisierte die IAA aus den Spenden der Londoner Gewerkschaften einen
Solidaritätsfonds für streikende Bronzearbeiter in Paris. Weitere Höhepunkte
ihrer Tätigkeit war der Kampf gegen den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und
die Solidarität mit der Pariser Kommune, »die intellektuell unbedingt ein Kind
der Internationale war« (Engels). Wachsende Repression gegen die Mitglieder der
IAA und Konflikte mit den Anarchisten um Bakunin führten 1872 zur Verlegung des
Generalrates nach New York. Als die IAA 1876 offiziell ihre Auflösung
verkündete, hatte sie ihre historische Rolle erfüllt und den wissenschaftlichen
Sozialismus mit der proletarischen Bewegung verbunden. Sie legte, so Lenin,
»den Grundstein der internationalen Organisation der Arbeiter zur Vorbereitung
ihres revolutionären Ansturms gegen das Kapital«.
Nick Brauns
Quellentexte
Karl Marx: Inauguraladresse der IAA
Arbeiter! (...) Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht
der Arbeiterklassen. Sie scheinen dies begriffen zu haben, denn in England,
Frankreich, Deutschland und Italien zeigt sich ein gleichzeitiges
Wiederaufleben und finden gleichzeitige Versuche zur Reorganisation der
Arbeiterpartei statt. (...) Die vergangene Erfahrung hat gezeigt, wie
Mißachtung des Bandes der Brüderlichkeit, welches die Arbeiter der
verschiedenen Länder verbinden und sie anfeuern sollte, in allen ihren Kämpfen
für Emanzipation fest beieinanderzustehen, stets gezüchtigt wird durch die
gemeinschaftliche Vereitlung ihrer zusammenhangslosen Versuche. Es war dies
Bewußtsein, das die Arbeiter verschiedener Länder, versammelt am 28. September
1864 in dem öffentlichen Meeting zu St. Martin’s Hall, London, anspornte zur
Stiftung der Internationalen Assoziation.
Eine andere Überzeugung beseelte jenes Meeting.
Wenn die Emanzipation der Arbeiterklassen das Zusammenwirken verschiedener
Nationen erheischt, wie jenes große Ziel erreichen mit einer auswärtigen
Politik, die frevelhafte Zwecke verfolgt, mit Nationalvorurteilen ihr Spiel
treibt und in piratischen Kriegen des Volkes Blut und Gut vergeudet? (...) Der
schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit
die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der
Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Rußland zusahen (...), haben den
Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik
einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu
überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich
zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der
Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten,
als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen.
Der Kampf für solch eine auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen
Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse.
Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
* Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation,
gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin’s
Hall, Long Acre, in London. MEW, Bd. 16, S. 12/13