junge Welt vom 14.05.2005   Wochenendbeilage

Klassensolidarität

»Hände weg von Sowjetrußland!« Vor 85 Jahren stoppten Arbeiter Waffenlieferungen für den Krieg gegen die Sowjetunion

Nick Brauns   Mit einem Überfall auf die Ukraine entfesselte Polens Machthaber Josef Pilsudski am 24. April 1920 den dritten imperialistischen Interventionskrieg gegen Sowjetrußland. Am 6. Mai fiel Kiew in die Hände der polnischen Armee. Unter der Losung »Hände weg von Sowjetrußland!« kam es im Frühjahr und Sommer 1920 weltweit zu Massenprotesten der Arbeiterschaft gegen diese von England und Frankreich unterstützte Aggression.

Während die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung die Neutralität Deutschlands im russisch-polnischen Krieg erklärte, erschien am 9. Mai in der Roten Fahne ein Aufruf der KPD an das Proletariat Berlins: »Gebt in Massen euren Willen kund, daß keine gegenrevolutionäre Macht in Deutschland es wagen soll, sich direkt oder indirekt, aktiv oder passiv am Kesseltreiben gegen Sowjetrußland zu beteiligen. ... Ihr könnt nicht neutral bleiben in einem Kampf um das Schicksal des mächtigen Vorpostens der proletarischen Revolution.« In Anwesenheit des Vorsitzenden des russischen Metallarbeiterverbandes, A.G. Schljapnikow, versprachen die Berliner Betriebsräte an diesem Tag im Zirkus Busch einstimmig, »mit allen Kräften den russischen Vorkämpfern des Sozialismus Unterstützung zu gewähren.«

Hunderttausende Arbeiter strömten am 11. Mai zur Großkundgebung in den Berliner Lustgarten. Auf Transparenten hieß es »Wir reichen die Hand unseren russischen Genossen!«, »Nieder mit dem Imperialismus! – Hoch die Rätediktatur!«. Nach einem Trompetensignal zur Eröffnung sprachen sich von zwölf Tribünen Redner der KPD und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei gegen die Bedrohung Sowjetrußlands und für enge wirtschaftliche und politische Beziehungen Deutschlands zum russischen Arbeiterstaat aus. Im Anschluß marschierten die Arbeiter in geschlossenen Demonstrationszügen in die Arbeiterviertel zurück.

Aktiver Widerstand

Nachdem die Rote Armee die polnischen Truppen überraschend zurückschlug und ihrerseits Anfang Juli auf polnisches Gebiet vorstieß, organisierten die Ententemächte auch über deutsche Häfen und Bahnlinien Militärhilfe für Polen. Im Anschluß an die Forderung nach einem »Schutz- und Trutzbündnis Deutschlands mit dem sozialistischen Sowjetrußland« forderte Clara Zetkin daher in der ersten Reichstagsrede der KPD am 2. Juli 1920 das deutsche Proletariat auf, »dem schönen Beispiel der italienischen und österreichischen organisierten Arbeiter zu folgen. Kein Waggon sollte fürderhin Deutschlands Grenze überschreiten, der gefüllt ist mit Waffen, mit Munition, mit Kleidung, mit Heeresbedarf jeder Art für die polnischen Truppen, mit Werkzeugmaschinen für Munitionsfabriken, die von den Ententekapitalisten in Polen errichtet worden sind.«

Erneut demonstrierten am 24. Juli Tausende im Lustgarten. Wilhelm Pieck von der KPD und Georg Ledebour von der USPD prangerten die Versuche der Entente an, von Deutschland aus die polnische Militärdiktatur zu unterstützen. »Erzwingt die Entente den Durchtransport von Truppen und Kriegsmaterial durch Deutschland, so bedeutet dies den Bruch der deutschen Neutralität und hat zur Folge, daß Deutschland Kriegsschauplatz wird. Die deutsche Arbeiterklasse muß dies mit allen Mitteln verhindern«, hieß es am 7. August in einer erstmals gemeinsam von den Leitungen der KPD der USPD sowie der SPD und des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes unterzeichneten Erklärung.

An Häfen und Bahnhöfen bildeten Arbeiter Transportkontrollkommissionen, sie durchsuchten Züge und Schiffe und verhinderten den Transport von Rüstungsmaterial. So stoppten Eisenbahner am Stettiner Bahnhof in Berlin einen Zug, der angeblich Ausrüstungsgegenstände für die deutsche Sicherheitswehr in Ostpreußen transportierte. Gegen den Widerstand rechter SPD-Führer ließ der Betriebsrat der Eisenbahndirektion die Waggons entladen. Bis zum 22. August hatten die Arbeiter auf dem Stettiner Bahnhof so über eine Million Schuß Gewehrmunition, 40 000 Handgranaten sowie Artillerie- und Minenwerfermunition zurückgehalten.

»Es wurde ein Kontrollkomitee gebildet, aber was heißt da Kontrollkomitee. Jeder Arbeiter gehörte dazu«, berichtete der Eisenbahnarbeiter Franz Gütig vom Güterbahnhof Pankow. »Es war bei diesem Masseneinsatz, der jeden Güterwagen unter die Lupe nahm, unmöglich, daß eine Ladung mit Kriegsmaterial den Bahnhof verlassen hätte. Angesichts der Einheitsfront der Eisenbahner wagte auch kein Vorgesetzter, ein Gegenwort zu sagen. Nachdem zwei Wagen auf ein totes Gleis abgesetzt wurden und stehenblieben, ist mir kein Versuch bekannt, über den Bahnhof Pankow dem polnischen Militär zu helfen.«

Der Hamburger USPD-Vorsitzende Ernst Thälmann fuhr im Hafen mit einer Barkasse von Dampfer zu Dampfer, um die Waffenkontrolle zu organisieren. Auch im Nord-Ostsee-Kanal wurden Schiffe gestoppt, und in der unter alliierter Verwaltung stehenden Freistadt Danzig traten deutsche Hafenarbeiter in den Streik. Sowjetmarschall Michail Tuchatschewski berichtete von »Hunderten und Tausenden« deutschen Freiwilligen, die sich der Roten Armee anschlossen.

Sowjetgrenze gesichert

Der von Lenin gegen das Zuraten des Volkskommissars für Militärangelegenheiten Trotzki erhoffte Revolutionsexport durch die Rote Armee nach Polen scheiterte. Statt einen Arbeiteraufstand in Warschau auszulösen, wurde die Rote Armee Mitte August in der Schlacht an der Weichsel vernichtend geschlagen. Bis zum Waffenstillstand am 12. Oktober 1920 konnte Polen noch das litauische Wilnagebiet erobern. Doch die sowjetischen Grenzen waren gesichert. »Unsere Bundesgenossen waren in der Tat die unterdrückten Massen in jedem kapitalistischen Land, denn diese Massen haben dem Krieg Einhalt geboten«, würdigte Lenin die Rolle der internationalen Solidarität bei der Verteidigung des Sowjetstaates.

 

Quellentext. Aufruf des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale

An die Proletarier aller Länder!

Arbeiter aller Länder! Von neuem wird im Osten Blut vergossen, von neuem werden riesige Gebiete durch Kriegsoperationen verheert, von neuem sind die werktätigen Massen Rußlands, die nach Frieden lechzen, die danach begehren, an der Wiederherstellung und dem Wiederaufbau ihres Landes zu arbeiten, gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Der Krieg des kapitalistischen und gutsherrlichen Polen gegen Sowjetrußland unterbricht die friedliche aufbauende Arbeit, an die die Arbeiter und Bauern Rußlands gegangen sind, nachdem sie ihr Land, ihre Fabriken, ihre Freiheit gegen Koltschak, Denikin und Judenitsch behauptet haben. [...]

Nach einigen leichten Siegen in der Ukraine werden die Polen den Zorn der Arbeiter- und Bauernmassen ganz Rußlands und den Zorn sogar der parteilosen Kreise fühlen müssen, die endlich gelernt haben, in der Sowjetregierung die Beschützerin der Unabhängigkeit des großen Landes zu sehen. Aber es handelt sich darum, wie lange dieser Krieg dauern wird, wieviel Verheerungen er noch mit sich bringen wird, wieviel Wunden er noch dem russischen werktätigen Volk schlagen wird. Von Euch, Arbeiter aller Länder hängt es ab, daß dieser Krieg in kürzester Frist mit der Zerschmetterung der polnischen Kapitalisten und Gutsbesitzer endet. [...]

Arbeiter aller verbündeten [Entente-] Länder! Auf die Straße hinaus! Veranstaltet Demonstrationen und Ausstände unter der Losung: »Nieder mit der Unterstützung des weißgardistischen Polen! Die Verbündeten müssen ihren Hund – die polnischen Kapitalisten und Gutsbesitzer – an die Kette legen und mit Sowjetrußland einen ehrlichen Frieden schließen.«

Arbeiter Deutschlands und Österreichs! Ihr wißt, daß Sowjetrußland der Grundpfeiler der Weltrevolution ist, die allein Euch vom Joch Eurer eigenen Kapitalisten und von der Schlinge befreien kann, die der Frieden von Versailles und St. Germain Euch um den Hals geworfen hat. Deutsche Eisenbahner! Keine Züge aus Frankreich nach Polen durchlassen! Deutsche Hafenarbeiter in Danzig! Die für Polen bestimmten Schiffe nicht ausladen! Österreichische Eisenbahner! Nicht ein Zug aus Italien darf nach Polen durchgelassen werden! [...]

* Die Kommunistische Internationale, Heft 11/1920, S.186–190