Aus: junge Welt Ausgabe vom 25.07.2020, Seite 10 / Feuilleton
In den Rücken geschossen
Polizeigewalt: Ein
Buch der Kampagne Halim Dener über den 1994 in
Hannover ermordeten jungen Kurden
Von Nick Brauns
Halim Dener war 16 Jahre alt, als ihn in der
Nacht zum 30. Juni 1994 am Steintorplatz in Hannover ein tödlicher Schuss aus
einer Polizeipistole traf. Der Kurde war wenige Wochen zuvor aus Kurdistan, wo
die türkische Armee mit deutschen Waffen Tausende Dörfer zerstörte, ins
vermeintlich sichere Deutschland geflohen. In der Nacht seines Todes hatte Dener Plakate für die seit 1993 verbotene Arbeiterpartei
Kurdistans PKK geklebt, als er von Polizisten gestellt und aus nächster Nähe in
den Rücken geschossen wurde.
»Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten.
Erschossen« – ist der Titel des Buches, das nun von der Kampagne Halim Dener vorgelegt wurde. Dem 2013 gebildeten
Kampagnenbündnis, das sich für eine angemessene Aufklärung und Erinnerung
einsetzt und anhand von Deners Schicksal
Themenkomplexe wie »Krieg in Kurdistan«, »Flucht« und »Repression in
Deutschland« behandelt, gehören die Rote Hilfe, der Verband der Studierenden
aus Kurdistan YXK sowie weitere linke und antirassistische Gruppierungen aus
Hannover an.
Mehrere Kapitel schildern die Hintergründe, die in den 1990er Jahren zur
Massenflucht von Kurden aus der Türkei führten, die damals von Politik und
Medien geschürte antikurdische Hysterie in Deutschland, die Folgen des
PKK-Verbots, aber auch die Situation von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen. Ausführlich wird auf den Prozess gegen den Todesschützen Klaus T.
vor dem – für das Verfahren zur Polizeifestung ausgebauten – Landgericht
Hannover eingegangen. Der Beamte des niedersächsischen Sondereinsatzkommandos
wurde 1997 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Das Gericht
folgte in allen wesentlichen Punkten seinen Einlassungen, wonach sich der
Schuss versehentlich gelöst habe. Dass bei dem Revolver ein Abzugwiderstand
von 4,3 kg zu überwinden war, so dass ein unbeabsichtigter Schuss nicht möglich
erscheint, ließ das Gericht unbeeindruckt. Es billigte dem Beamten einer
Spezialeinheit vielmehr zu, dass er bei der Festnahme eines unbewaffneten
16jährigen Plakatierers »deutlich überfordert«
gewesen sei.
Vorgestellt wird zudem die Initiative, einen Platz nach Dener
zu benennen. Ein entsprechender Beschluss des Bezirksrates Linden-Limmer im
Jahr 2017 wurde vom damaligen SPD-Oberbürgermeister Stefan Schostock
und dem Niedersächsischen Innenministerium für rechtswidrig erklärt. Eine
solche Platzbenennung gefährde das »friedliche Zusammenleben der türkischstämmigen
Bevölkerungsgruppen in Hannover«, zudem werde damit der Eindruck erweckt, die
Landeshauptstadt »identifiziere sich mit den Überzeugungen, Ideen und
politischen Zielen Halim Deners«, so die Begründung.
Richtig heißt es im Vorwort, dass Dener »zu einem
von vielen Opfern rassistischer Polizeigewalt«, wurde, »einem von vielen
Todesfällen, die von der deutschen Justiz nie befriedigend aufgeklärt wurden«.
Doch leider nehmen die Autoren den Fall Dener fast
ausschließlich durch die »kurdische Brille« wahr. So fehlt der Verweis darauf,
dass sich Deners Tod in eine Kette staatlicher
Tötungen radikaloppositioneller Aktivisten seit Gründung der BRD einordnen
lässt: die tödlichen Schüsse auf den Jungkommunisten Philipp Müller auf einer
Friedensdemo 1952 in Essen, die Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967
in Berlin und die laut Zeugenaussagen regelrechte Exekution des RAF-Mitglieds
Wolfgang Grams 1993 durch einen GSG-9-Mann in Bad Kleinen.
Halim Dener. Gefoltert. Geflüchtet. Verboten.
Erschossen. Hrsg. von der Kampagne Halim Dener, Gegen
den Strom, München 2020, 226 Seiten, 10 Euro