Aus: migration, Beilage der jungen
Welt vom 08.11.2006
Nick Brauns
Für parteiübergreifenden Wirbel sorgte im Juni 2005 eine
Rede Oskar Lafontaines auf einer Arbeitslosenkundgebung in Chemnitz. »Der Staat
ist verpflichtet, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, er ist verpflichtet
zu verhindern, daß Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil
Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.« Die
Kritik von Lafontaines Gegnern drehte sich vor allem um den auch von den Nazis
verwendeten Ausdruck »Fremdarbeiter«. Seine – ziemlich unklar formulierte –
Forderung nach Schutz einheimischer Arbeit durch staatliche Reglementierungen
blieb weitgehend unwidersprochen.
Schon in der Frühphase der europäischen Arbeiterbewegung wurde über das
Verhältnis zur Arbeitsmigration diskutiert. Die englische Bourgeoisie habe das
irische Elend ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren
die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern und das Proletariat in
zwei feindliche Lager zu spalten, erkannte Karl Marx 1870: »Dieser Antagonismus
zwischen den Proletariern in England selbst wird von der Bourgeoisie künstlich
geschürt und wachgehalten. Sie weiß, daß diese Spaltung das wahre Geheimnis der
Erhaltung ihrer Macht ist.« Als Antwort auf die Einwanderung ausländischer
Lohndrücker und die damals schon aktuelle Verlagerung der Produktion in Billiglohngebiete
empfahl der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation daher den Aufbau
internationaler statt lediglich nationaler Verbände.
Zu den Besonderheiten des sich Ende des 19. Jahrhunderts
herausbildenden Imperialismus gehörte laut Lenin eine abnehmende Abwanderung
aus den imperialistischen Ländern gegenüber einem zunehmenden Zustrom aus
rückständigen Ländern mit niedrigen Arbeitslöhnen. »Gerade darauf basiert in
einem gewissen Grade der Parasitismus der reichen imperialistischen Länder, die
auch einen Teil ihrer eigenen Arbeiter durch eine höhere Bezahlung bestechen,
während sie gleichzeitig die Arbeit der ›billigeren‹ ausländischen Arbeiter
maßlos und schamlos ausbeuten«, begründete Lenin seine Theorie einer
korrumpierten Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern, die sich
die Rechtlosigkeit der importierten ausländischen Arbeiter zunutze machte.
Für die der Zweiten Internationale nahestehenden Gewerkschaften galt seit der
erstmaligen Beschäftigung mit der Zuwanderungsfrage auf der Brüsseler Konferenz
von 1891 zumindest auf dem Papier: »Jede Gewerkschaft muß Fremde zu denselben
Bedingungen wie die Einheimischen aufnehmen. Für die verschiedenen Ämter der
Gewerkschaften darf zwischen Einheimischen und Fremden kein Unterschied gemacht
werden.« In der Praxis geriet dieser Beschluß zu Beginn des 20. Jahrhunderts
angesichts einer deutlichen Zunahme der Arbeitsmigration zunehmend unter
Beschuß des rechten Flügels der Sozialdemokratie. So forderte ein
Resolutionsentwurf zum Amsterdamer Kongreß der Internationale im Jahr 1904 alle
sozialistischen Abgeordneten auf, sich für ein Einreiseverbot für »Arbeiter
rückständiger Rassen (wie Chinesen, Neger usw.)« stark zu machen, da es ein
»Lebensinteresse unserer Arbeiterbewegung« sei, »die Kulis und Neger
fernzuhalten«.
»Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter
Proletariern einiger ›zivilisierter‹ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage
gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler
Klassensolidarität zu vergessen«, geißelte Lenin die »zünftlerische und
spießbürgerliche Beschränktheit« dieses Rufes nach Zuwanderungsbeschränkungen.
Bei der Beschlußfassung auf dem Stuttgarter Kongreß der Internationale im Jahr
1907 konnte sich die rechte Minderheit noch nicht durchsetzen. So sprach sich
der Kongreß für die Abschaffung aller Beschränkungen aus, welche bestimmte
Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen,
politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen. Als
Zugeständnis an die reformistische Forderung vom »Schutz der heimischen
Arbeiter« wurde dagegen ein Verbot für die Aus- und Einreise von Arbeitern
verlangt, die einen Kontrakt geschlossen hatten, der ihnen die freie Verfügung
über ihre Arbeitskraft und ihre Löhne nahm. Dies betraf beispielsweise
Hunderttausende damals in der deutschen Landwirtschaft beschäftigte polnische
Arbeiter, die vor ihrer Einreise einen für einen bestimmten Unternehmer
geltenden Vertrag mit festgelegten Löhnen unterschreiben mußten.
Daß die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Zugewanderten und
Einheimischen eine Notwendigkeit des Klassenkampfes ist, verdeutlichte Karl
Liebknecht auf dem Essener Parteikongreß der deutschen Sozialdemokaten 1907:
»Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung
dafür, daß die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und
Streikbrecher zu sein.«
Die Haltung der Arbeiterbewegung zur Arbeitsmigration war
und ist die Kehrseite ihrer Haltung gegenüber dem Kolonialismus. Darauf hatte
Clara Zetkin bereits nach dem Stuttgarter Kongreß hingewiesen. Mit der durch
die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 offenkundigen Wandlung der
internationalen Sozialdemokratie zum Sozialchauvinismus erfolgte auch eine
Kehrtwende in der Migrationsfrage. So sprach sich die erste Konferenz des
Internationalen Gewerkschaftsbundes 1919 in Bern zwar im Prinzip für freie
Migration aus, gestand dem Staat aber das Recht zur Einwanderungsbeschränkung
»in Zeiten wirtschaftlicher Depression und zum Schutze der Volksgesundheit« zu.
Die internationalistische Tradition in der Einwandererfrage vertrat nun die
Kommunistische Internationale und die ihr nahestehende 1921 gegründete Rote
Gewerkschaftsinternationale (RGI). Der reformistischen Politik der
»Einwanderungsregelung« durch staatliche Auslese, Beschränkungen und Verbote
stellte die RGI den Kampf um völlige Freiheit der Aus- und Einwanderung, um das
Asylrecht, rechtliche und soziale Gleichstellung der Zugewanderten mit den
Einheimischen und der Abschaffung aller Sondergesetze für Ausländer entgegen.
Ziel sei die Schaffung »einer Einheitsfront der einheimischen und ausländischen
Arbeiter auf dem Boden eines gemeinsamen Schutzes der allgemeinen Interessen
der gesamten Arbeiterklasse des betreffenden Landes sowie der speziellen
Interessen der ausländischen Arbeiter«.
Die RGI ist längst Geschichte, doch die Frage »offene Grenze« oder »staatliche
Einwanderungskontrollen« spaltet auch im Zeitalter der Globalisierung weiterhin
die Linke und die Gewerkschaftsbewegung in Internationalisten und Anhänger
eines nationalen Reformismus.