Fethullah Gülen – Botschafter der Toleranz?

Dr. Nick Brauns (geb. 1971) ist Historiker und Journalist. Er lebt in Berlin und arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen Türkei und Naher Osten

Die Rote Fahne sprach mit Nick Brauns über die Gülen-Bewegung. Sie wird von der türkischen Regierung beschuldigt, hinter dem Putschversuch vom Juli zu stecken

Rote Fahne: Nach dem gescheiterten Putsch von Teilen des türkischen Militärs am 15. Juli beschuldigte Erdogan die Gülen-Bewegung, hinter diesem Putschversuch zu stecken. Wer ist der im US-Bundesstaat Pennsylvania lebende 75-jährige Fethullah Gülen?

Nick Brauns: Der pensionierte Imam Gülen ist der Führer einer sektenähnlich organisierten sunnitisch-islamischen Gemeinde. Zu dieser gehört ein Netzwerk von Schulen, Wirtschafts- und Medienunternehmen in mehr als 140 Ländern, darunter Deutschland. In der Türkei ist es der Gülen-Bewegung gelungen, durch jahrzehntelange Unterwanderung von Polizei und Justiz einen Staat im Staate aufzubauen. Nach der Ausschaltung ihrer gemeinsamen säkularen Gegner in der Staatsbürokratie durch Massenverhaftungen kam es ab 2013 zum offenen Krieg zwischen den langjährig Verbündeten Gülen und Erdogan um die Macht im Staat. Der US-Geheimdienst CIA nutzte Schulen der Gülen-Bewegung in Zentralasien als Agenten-Stützpunkte und verhalf dem Prediger vor rund 15 Jahren zur Aufenthaltsgenehmigung in den USA.

Was ist davon zu halten, wenn dessen Auffassungen in einer Ausgabe des „Time-Magazins“ als „Botschaft der Toleranz“ dargestellt werden?

Diese durch einen Dialog mit christlichen und jüdischen Würdenträgern zur Schau gestellte Toleranz ist eine Maske zur Täuschung der westlichen Welt. Denn sie endet bei religiösen und ethnischen Minderheiten wie Aleviten und Kurden, die sich nicht an das sunnitische Türkentum assimilieren lassen wollten. So rief Gülen 2011 die türkische Armee im Namen Allahs und der nationalen Einheit zum Massenmord an kurdischen Aktivisten auf. 34 Bewohner des kurdischen Dorfes Roboski wurden getötet, als kurz darauf Kampfflugzeuge im türkisch-irakischen Grenzgebiet bombardierten und wie von Gülen gefordert „Feuer vom Himmel regnete“. Im „Time-Magazin“ wurde Gülen übrigens auch als „schattenhafter Puppenspieler“ bezeichnet, der aufgrund seines immensen Einflusses in seiner türkischen Heimat von ebensovielen Menschen gefürchtet wie geliebt werde.

Welche Rolle spielte deiner Meinung nach diese Bewegung bei dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs wirklich?

Es ist Gülens Anhängern in den letzten Jahren gelungen, nach den von ihnen betriebenen Verhaftungen säkular orientierter Militärs im sogenannten Erkenekon-Verfahren eigene Leute auf die freigewordenen Positionen zu befördern. Allerdings war die Gülen-Bewegung keineswegs die einzige Kraft hinter dem Putschversuch. Wir haben es mit einem Bündnis verschiedener unzufriedener Gruppen zu tun, darunter säkular orientierte Offiziere, die den milliardenschweren Offiziersrentenfonds OYAK vor dem drohenden Zugriff Erdo˘gans sichern wollten. Auffällig ist eine Beteiligung solcher Truppenteile, die stark in NATO-Strukturen eingebunden sind. Bei einem erfolgreichen Militärputsch hätten die Gülen-Anhänger innerhalb der Staatsbürokratie diese von Erdo˘gan-Anhängern säubern sollen. Dass säkulare Militärs sich religiöser Kräfte bedienen, hatten wir schon nach dem von Gülen unterstützten NATO-Putsch vom 12. September 1980 erlebt.

Herzlichen Dank für diese Informationen!

Rote Fahne Oktober 2016