„Feinde der Hoffnung“
Vor 38 Jahren wurde der türkische Kommunist Celalettin Kesim
in Berlin ermordet – Hinter dem Überfall steckte der türkische Geheimdienst
Nick BRAUNS
Der 5. Januar 1980 war
ein kalter Samstagmorgen. Rund drei Dutzend Anhänger der Kommunistischen Partei
der Türkei (TKP) hatten sich am Kottbusser Tor im
Herzen von Berlin-Kreuzberg versammelt. Sie verteilten Flugblätter, in denen
sie vor einem drohenden Militärputsch in der Türkei warnten. Plötzlich stürmten
aus der nahegelegenen Mevlana-Moschee, die dem
Dachverband Milli Görüs angehört, rund 70 Islamisten
und Anhängern der faschistischen Grauen Wölfe. Die
Angreifer waren mit Messern, Ketten und Knüppeln bewaffnet. Sie skandierten
„Wer Allah liebt, schlage zu“ und „Russen raus aus Afghanistan“. Einer der
Flugblattverteiler, der 36-jährige Celalettin Kesim,
wurde von einem Messerstich an der Oberschenkelarterie verletzt. Ein
herbeigerufener Rettungswagen kam erst viel zu spät nach einer halben Stunde. Kesim verblutete am nahen Landwehrkanal, wohin ihn seine
Genossen in Sicherheit gebracht hatten. Er hinterließ eine schwangere Frau und
einen siebenjährigen Sohn. An der Trauerfeier nahmen 3000 Menschen teil. 15.000
Menschen, darunter neben radikalen türkeistämmigen und deutschen Linken auch
Mitglieder der SPD und der Alternativen Liste, zogen eine Woche nach dem Mord
mit einer kämpferischen Demonstration durch Berlin. Seit Anfang der 1990er
Jahre erinnert eine von Hanefi Yeter geschaffene Gedenkstele
an der Ecke Reichenberger Straße / Kottbusser Straße
mit dem Zitat des Dichters Nazim Hikmet „Sie sind die Feinde der Hoffnung“ an Kesim. Kreuzberger Antifaschisten fordern zudem die
Umbenennung des Platzes in Celalettin-Kesim-Platz.
Kesims Tod war „keine tragische Folge“
Celalettin Kesim war 1973 aus der Türkei nach West-Berlin gekommen.
Zuerst arbeitete er als Dreher in der Maschinenfabrik Borsig
wo er auch als gewerkschaftlicher Vertrauensmann gewählt wurde. An einer
Volkshochschule unterrichtete Kesim außerdem
anatolische Volksmusik. Später arbeitete Kesim als
Berufsschullehrer und engagierte sich in der Gewerkschaft GEW. Kesim war Mitglied der Kommunistischen Partei der Türkei
(TKP). Obwohl seit 1925 verboten, wurde die illegale TKP in den 1970er Jahren
durch ihre Arbeit im linken Gewerkschaftsdachverband DISK zu einer der
einflussreichsten linken Strömungen in der Türkei. Gleichzeitig begann sie auch
unter der türkeistämmigen Arbeitsmigration in Westdeutschland Fuß zu fassen. Kesim war Sekretär des „Berliner Türkenzentrums“, das als
Frontorganisation der TKP diente.
Kesims Tod war keine tragische Folge einer spontanen Auseinandersetzung
politscher Gegner, wie Polizei und Medien es darstellten, sondern ein geplanter
Mord durch den türkischen Geheimdienst MIT. Davon sind seine Genossen bis heute
überzeugt. In der Türkei tobte damals ein Bürgerkrieg zwischen der
millionenstarken radikalen Linken und den Grauen Wölfen, der Tausende
Todesopfer vor allem auf der Linken kostete. Der faschistische Terror, der sich
auch in den Angriffen auf eine Maikundgebung 1977 auf dem Istanbuler Taksim sowie dem Pogrom gegen Aleviten
in Maraş 1978 äußerte, wurde von der
NATO-Konterguerilla Gladio im Rahmen einer Strategie
der Spannung systematisch geschürt. Ziel war es, so einem Militärputsch in der
Türkei, die als Frontstaat zur Sowjetunion eine besondere geopolitische
Bedeutung für das westliche Militärbündnis hatte, den Weg zu bereiten.
Mit Hilfe des
Bundesnachrichtendienstes (BND) und protegiert vom CSU-Vorsitzenden und
bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß konnten sich die Grauen
Wölfe damals auch in Deutschland etablieren. Strauß sah in den türkischen
Faschisten ein willkommenes Gegengewicht zu linken Aktivisten unter der
Arbeitsmigration. In der Folge kam es auch in Deutschland zu Überfällen auf
türkeistämmige Gewerkschafter und Linke.
Kesim war eines der bekanntesten Gesichter der türkeistämmigen Linken in Berlin.
Zudem fungierte er als Verbindungsmann zu den deutschen Kommunisten der
Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW), der er ebenfalls angehörte.
So geriet er ins Fadenkreuz des türkischen Geheimdienstes MIT. Besucher der Mevlana Moschee haben berichtet, wie in den Wochen vor Kesims Ermordung unbekannte Männer in der Moschee
auftauchten. Diese agitierten gegen die Kommunisten, brachten Waffen in die
Moschee und organisierten den Überfall auf die kommunistischen
Flugblattverteiler.
Die schützende Hand
über den türkischen Partner
Doch die deutschen
Geheimdienste hielten ihre schützende Hand über ihre türkischen Partner, einer
Verwicklung des MIT in den Mord wurde von den Ermittlungsbehörden gar nicht
erst nachgegangen. So wurden nur zwei Beteiligte an dem Überfall auf die
TKP-Anhänger überhaupt angeklagt. Einer wurde freigesprochen, der andere
lediglich wegen „Landfriedensbruchs und Beteiligung an einer Schlägerei“
verurteilt. Das Gericht sah es als strafmildernd an, dass der Mann, der während
des Prozesses als „geistiger Führer“ von Milli Görüs
in Berlin bezeichnet wurde, „nach seiner ganzen Ideenwelt an eine gute Sache
geglaubt habe“.
Die drei ermordeten
kurdischen Revolutionärinnen
Heute ist die türkische
Regierung wieder dabei, wie in den 1970er Jahren ihre innenpolitische
Spannungspolitik auf die Migration in Westeuropa zu übertragen. Es gibt
Hinweise auf Mordpläne gegen kurdische und türkische Politiker und
oppositionelle Journalisten im Exil. Das ZDF-Magazin Frontal21 enthüllte
kürzlich, wie ein Vertrauter von Präsident Erdoğan
die rockerähnliche Truppe Osmanen Germania in Deutschland mit Geld für
Waffenkäufe versorgt hat. Im Ausnahmezustandsdekret, das Erdoğan
am 24. Dezember erlassen hat, gibt es einen Passus, der Zivilisten
Straffreiheit für ihre Taten bei der Bekämpfung von Putschisten und Terrorakten
zusichert. Dieses Dekret ist auch ein Angebot an Personen aus dem Umfeld der
Osmanen Germania und ähnlicher Gruppierungen, gegen Erdoğan-Kritiker
in Europa aktiv zu werden und dann in der Türkei Schutz vor Strafverfolgung zu
bekommen. 38 Jahre nach der Ermordung von Celalettin Kesim
und fünf Jahre nach den Morden an Sakine Cansız,
Fidan Doğan und Leyla Şaylemez
in Paris ist die Gefahr politischer Anschläge in Deutschland groß. Es gilt
wachsam zu sein!
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YENİ ÖZGÜR POLİTİKA Freitag, 5 Jan 2018, 17:52