junge Welt vom 19.05.2005   Feuilleton

Hetzer und Gehetzte

Die türkische Tageszeitung Hürriyet leugnet den Genozid an den Armeniern. Wird sie dafür kritisiert, geht ihr das zu weit – eine kleine Presse-Posse

Hat die nationalistische Tageszeitung Hürriyet den wohl bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller der Türkei Orhan Pamuk „arm“, „elende Kreatur“ oder „ekelhaft“ genannt? Oder ist das auflagenstärkste türkische Blatt vielmehr selber Opfer einer Schmutzkampagne der deutschen Presse von „Junge Welt“ bis zur „Welt am Sonntag“ geworden? Wenn es nach der Hürriyet-Redaktion geht, könnte sich demnächst der deutsche Presserat oder die Justiz mit dieser Frage beschäftigen.

Weil Pamuk Anfang Februar im Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger erklärte, in der Türkei seien eine Million Armenier und 30.000 Kurden ermordet worden, hatten türkische Nationalisten eine Hetzkampagne entfacht. Pamuks kürzlich auf Deutsch erschienener Roman „Schnee“ – ein in der ehemals armenisch bewohnten Stadt Kars in der Osttürkei spielendes Politdrama -  wurde von der New York Times zum „besten ausländisches Buch 2004“ erwählt. Doch große Buchhandlungen in Istanbul boykottieren Pamuks Werke, während dort Hitlers „Mein Kampf“ zum Bestseller avancierte. Ein Landrat ordnete gar die Verbrennung von Pamuks Büchern an und der Autor mußte nach Morddrohungen eine Lesereise nach Deutschland absagen.

Einen Startschuß zur Hetzkampagne gegen Pamuk gab das auch unter türkischsprachigen Lesern in Deutschland meinungsbildende Boulevardblatt Hürriyet am 11. Februar 2005 mit dem Kommentar „Der schwarze Schriftsteller“ – eine Anspielung auf Pamuks Roman „Das Schwarze Buch“. Der als Sprachrohr von Regierungschef Tayyip Erdogan geltende Kolumnist Fatih Altaylı erklärte über Pamuks Aussagen zum Armeniergenozid: „Was Pamuk sagt, um sich wichtig zu machen, ist eine Lüge.“ Er beschmutze und beschuldige die Türkei, um dem Nobelpreiskomitee schöne Augen zu machen und ein paar Bücher mehr zu verkaufen. „Dieser Mensch ist so unfähig, daß es nicht einmal lohnt, ihn als Feind zu betrachten.“

Weiter hieß es, Pamuk sei so „armselig“, daß er die Wiedervereinigung Zyperns und dergleichen fordere. Das verwendete Wort "zavallı" ist ein Adjektiv und heißt „arm“, „elend“ oder „bedauernswert“. Es kann entsprechend dem Kontext und Tonfall des Artikels mit „Armseliger“ oder „elender Mensch“ übersetzt werden. In der deutschen Presse, aber auch in England und Frankreich war anschließend zu lesen, Hürriyet habe Pamuk eine „elende Kreatur“ genannt.

Das ging Hürriyet doch zu weit. Daß man Pamuk als eigennützigen Lügner beschimpft und als Volksfeind entlarvt habe, gab man ja gerne zu. Doch „elende Kreatur“? Niemals! Allenfalls habe man ihn „armselig“ genannt. Da das Wörtchen Kreatur tatsächlich nicht wörtlich da stand, setzte die Hürriyet Herrn Ismail Erel aus der Frankfurt Redaktion des Blattes auf die Fährte der angeblichen Verleumder an.

Herr Erel rief bei der Frankfurter Rundschau, der Welt am Sonntag, der Süddeutschen Zeitung, dem Kölner Stadtanzeiger und dem ZDF an. Keine Redaktion hatte den dort zitierten Hürriyet-Artikel im Original gelesen. Die Welt hatte das Zitat aus der „Le Monde“, die Zeit berief sich auf das ZDF, das Hamburger Abendblatt auf die Nachrichtenagentur dpa, die wiederum erklärte, keine derartige Meldung verfaßt zu haben.

Schließlich wurde unser Detektiv fündig. Erstmalige Erwähnung fand die „elende Kreatur“ am 21. Februar in der „junge Welt“ in der Einleitung einer Buchbesprechung zum Armeniergenozid. Herr Erol forderte von Chefredakteur Arnold Schölzel die Löschung des Zitats auf der Homepage. Gegenüber anderen Medien hatte er rechtliche Schritte – auch gegen „junge Welt“ – angedroht.

Wer alles aus der jungen Welt abgeschrieben hat, läßt sich nicht überprüfen. Wer alles aus der jW abgeschrieben hat, läßt sich nicht überprüfen. Interessanterweise empfiehlt ein Handbuch für Hürriyet-Mitarbeiter die jW ausdrücklich als Informationsquelle.

Aber wo hatte „junge Welt“ das Zitat her?  An dieser Stelle sei den Hürriyet-Kollegen auch dieses kleine Geheimnis verraten. Die erste Erwähnung fand der Kommentar von Fatih Altaylı am 15. Februar im “Armenian Daily” unter der Überschrift “Turkey to Target at Orhan Pamuk - Turkish Papers and Scientists Declare Him Traitor of Nation”. Er wurde darin mit „miserable creature“ zitiert. Über E-Mail-Verteiler kurdischer Menschenrechtsorganisationen gelangte der Artikel in die europäischen Redaktionsstuben. Auch der junge-Welt-Autor erfuhr auf diese Weise von der Kampagne gegen Pamuk, sah sich den Hürrieyt-Artikel im Internet an und vergewisserte sich, daß die Übersetzung in der armenischen Zeitung sinngemäß zutraf.

Paßt das nicht wunderbar in das Weltbild von Hürriyet? Eine armenisch-kurdische Verschwörung gegen die Türkei - und die europäische Presse fällt blind darauf rein! Um ihren Lesern zu beweisen, wie ungerecht die deutsche Presse mit der Hürriyet umgeht, meldete sich Chefredakteur Ertuğrul Özkök  am 10.Mai mit einer Kolumne zu Wort. Wenn die deutschen Journalisten uns die Worte im Mund verdrehen, machen wir das eben auch so, dachte sich Özkök wohl. Und übersetzte „elende Kreatur“ den türkischen Lesern mit „İğrenç yaratık“. „İğrenç“ heißt allerdings nicht „elend“ sondern „ekelhaft“ und „yaratık“ bedeutet einfach „Lebewesen“.

Regelmäßig bringt die ansonsten EU-freundliche Hürriyet weiterhin Artikel, in denen der Genozid an den Armeniern geleugnet und türkischstämmige Politiker und Intellektuelle, die Gegenteiliges behaupten, in die Nähe von Landesverrätern gerückt werden. Neustes Opfer ist der Schriftsteller Zafer Senocak. Weil er gefordert hatte, die Türkei müsse sich ihrer historischen Verantwortung stellen, wurde er von der Hürriyet als „deutsche Filiale von Orhan Pamuk“ ausgemacht.

Nick Brauns