Aus: Ronahi – Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan YXK Herbst/Winter 2011

 

Zur Dialektik der kurdischen Revolution

 

Von Nick Brauns

 

Die kurdische Frage in ihrer heutigen Form ist das Ergebnis der von den Großmächten betriebenen Aufteilung des Nahen- und Mittleren Ostens nach dem Weltkrieg. Mehrfach schien im letzten Jahrhundert der kurdische Traum von nationaler Selbstbestimmung bis hin zu einem eigenen Staat greifbar nahe zu sein. Doch immer wieder mussten die Kurden die Erfahrung machen, dass sie nur Spielfiguren auf dem Schachbrett der Groß- und Kolonialmächte sind. Das britische Imperium hatte schon vor dem ersten Weltkrieg versucht, die Kurden gegen das Osmanische Reich aufzuwiegeln, um so die Öl-reiche Provinz Mosul kontrollieren zu können. Der von den Alliierten den Osmanen diktierte Friedenvertrag von Sèvres 1920 räumte den Kurden aus diesem Grund noch die Option ein, innerhalb eines Jahres ihren Anspruch auf Unabhängigkeit in einem Teil des kurdisch besiedelten Territoriums zu artikulieren. Doch unter dem Banner der aus osmanischen Zeiten stammenden »islamischen Brüderschaft« schlossen sich zahlreiche sunnitische kurdische Stämme dem von General Mustafa Kemal angeführten Befreiungskampf gegen die drohende Aufteilung der Türkei unter den „Ungläubigen” an. Der spätere „Atatürk” („Vater aller Türken”) hatte ihnen dafür die Gründung eines gemeinsamen Staates der Türken und Kurden mit Autonomierechten zugesagt.  

Nachdem Mustafa Kemal am 1. November 1922 den Sieg des »türkischen Staates« verkündete, wurden die Kurden auf der Friedenskonferenz von Lausanne 1923 sowohl von ihren bisherigen türkischen Verbündeten wie auch von den westalliierten Siegermächten des Weltkrieges, die in Sèvres noch für einen kurdischen Staat plädiert hatten, fallen gelassen. Sowohl die britischen als auch die türkischen Unterhändler beanspruchten, im Namen der nicht vertretenen Kurden zu sprechen. Der britische Vertreter Lord Curzon forderte aus eigenem Interesse den Anschluss des ölreichen Südkurdistan an den neugegründeten und unter britischer Mandatsherrschaft stehenden Staat Irak. Der Lausanner Vertrag war ein imperialistischer Teilungsvertrag, durch den Kurdistan in den Status einer “internationalen Kolonie” unter den regionalen Kollaborateuren des Imperialismus Türkei, Irak, Iran und Syrien versetzt wurde, wie der aufgrund seiner Forschungen zur kurdischen Frage langjährig inhaftierte türkische Soziologe İsmail Beşikçi schrieb. Am Verhandlungstisch von Lausanne wurde mit der von Ölinteressen diktierten Grenzziehung ein bis heute ungelöster nationaler Widerspruch erzeugt, der vom Imperialismus immer wieder zur Einflussnahme in der ganzen Region genutzt wird.

 

Das kemalistische Nationskonzept vertrat das Konzept einer angesichts der multiethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung erst künstlich zu schaffenden türkischen Staatsnation, deren einigendes Band das Bekenntnis zum Türkentum ist. Dabei geht der türkische Nationalgedanke von der “unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk” aus. Die kemalistische Regierung begann bereits kurz nach Vertragsunterzeichnung mit der Zwangsassimilation nichttürkischer Minderheiten. Kurdische Schulen, religiösen Bruderschaften, nationalen Vereinigungen und Publikationen wurden ebenso verboten wie die kurdische Sprache und die Worte »Kurde« und »Kurdistan«.

In der Entstehung der kurdischen Frage zeigte sich am deutlichsten der unzulängliche Charakter der von Mustafa Kemal geführten und auf halben Weg abgebrochenen bürgerlichen Revolution der Türkei. Zwar wurden der Sultan und der Adel, die mit den westlichen Siegermächten des Weltkrieges kollaborierten, ausgeschaltet, die islamischen Vereinigungen verboten, ein bürgerliches Rechtssystem und die lateinische Schrift eingeführt, die Stellung der Frau rechtlich aufgewertet und symbolisch Hüte statt des traditionellen Fes als Kopfbedeckung vorgeschrieben. Doch das Modernisierungsprogramm des kemalistischen Staates endete westlich des Euphrat. Um das Emporkommen einer konkurrierenden kurdischen Bourgeoisie zu verhindern, wurden die kurdischen Gebiete von der Zentralregierung in Ankara in permanenter Unterentwicklung gehalten, so dass Landwirtschaft auf zumeist primitivstem Niveau die dominante Wirtschaftsform darstellte. Die Frage der Beseitigung feudaler Beziehungen auf dem Lande als erste und wichtigste Aufgabe jeder bürgerlichen Revolution wurde von den Kemalisten niemals ernsthaft angepackt. Großgrundbesitzer, Scheichs und Sippenchefs repräsentierten so in den kurdischen Landesteilen weiterhin die unantastbare ökonomische, politische und religiöse Autorität. “Warum können diese zurückgebliebenen und reaktionären Institutionen des Feudalismus ihre Existenz bis heute fortsetzen”, fragt Beşikçi. “Ich bin der Überzeugung, dass der Hauptgrund ihrer derart lebendigen Existenz bis heute in der kurdischen Frage liegt. Die Kemalisten, oder anders gesagt die offizielle Ideologie, wünschen das Überleben dieser Institutionen. […] Denn wenn sich diese Institutionen auflösen und der Demokratisierungsprozess sich beschleunigt, dann werden sich die Massen ihrer Identität schneller bewusst und fordern ihre nationalen Rechte. Sie vergleichen ihre Situation mit der anderer Völker. Sie werden sich bewusst, dass sie in sehr rückschrittlichen politischen und sozialen Verhältnissen leben.”  In Gegenden, wo die feudalen Beziehungen stark waren, ist der kemalistische Staat fortan Bündnisse mit den Grundherren gegen das Volk eingegangen. Die Wähler, die beim Übergang zum Mehrparteiensystem in den 50er Jahren ihre Stimme für eine der jeweils herrschenden Parteien abgeben, führten ebenso Befehle der feudalen Grundherren aus, wie bewaffnete Clanangehörige im Kampf gegen Bauernproteste oder die kurdische Nationalbewegung. Durch das Verbot der kurdischen Sprache waren die des Türkischen nicht mächtigen Dorfbewohner auf die feudalen Notablen als Mittler zu staatlichen Institutionen angewiesen. Auch dies festigte die Stellung dieser “Agentenklasse”, wie Beşikçi Aghas, Sippenchefs und Scheichs definierte. 

Weil die bürgerliche "Demokratie" in der Türkei sich stets auf die Bajonette der Armee stützte und mit den Feudalherren arrangierte, konnte sie bis heute weder Landreformen durchführen noch ernsthafte Schritte in Richtung wirklicher Demokratisierung unternehmen noch die kurdische Frage lösen. Eine Lösung der kurdischen Frage muss sowohl die Aufhebung der Kolonialherrschaft über Kurdistan wie eine Beseitigung der feudal geprägten sozioökonomischen Strukturen beinhalten. Einseitig auf nationale Befreiung durch einen eigenen Staat zielende Konzepte sind ebenso zum Scheitern verurteilt wie Herangehensweisen, die die koloniale Unterdrückung vernachlässigen und die kurdische Frage alleine als ein Problem wirtschaftlicher Unterentwicklung darstellen.

 

Frühe Aufstände

 

Der erste kurdische Aufstand für Selbstbestimmung nach dem faktischen Ende des Osmanischen Reiches begann 1919 in Südkurdistan unter Führung von Scheich Mahmud Barzinjie. Während die Briten im Lausanne vorgaben, im Namen der Kurden zu sprechen, bombardierte die Royal Air Force das Hauptquartier des „Königs von Kurdistan“ in Suleymania. Ein eigener kurdischer Staat war von den Briten, die die ölreichen Gebiete um Mosul ihrem Mandatsgebiet Irak angliedern wollten, nicht gewünscht. Bis Anfang der 30er Jahre dauerten die Kämpfe der verbündeten irakischen und britischen Streitkräfte gegen die kurdische Nationalbewegung an. Dabei setzte die britische Luftwaffe auch Giftgas ein.

Gegen die nach Gründung der Republik Türkei einsetzende Zwangsassimilation der kurdischen Bevölkerung durch das kemalistische Regime in Ankara regte sich bald Widerstand. Unter Führung des sunnitischen Geistlichen Sheikh Said kam es im Winter 1924/25 in der Region Elazig zum ersten Aufstand, bei dem sich reli­giöser Protest gegen die Abschaffung des Kalifats mit der Forderung nach nationalen Rechten für die Kurden verbanden. Die französische Mandatsmacht in Syrien half der türkischen Armee, mit der Eisenbahn von Aleppo Truppen zu transportieren, so dass der Aufstand im April 1925 vor den Stadtmauern Diyarbakırs niedergeschlagen werden konnte. 1929 startete die im libanesischen Exil von Intellektuellen und Feudalherren gegründete Nationalbewegung Xoybun (Unabhängigkeit) am Berg Ararat einen Aufstand. Die vom ehemaligen osmanischen General Ishan Nuri Pasha geführten Partisanen eroberten ein Gebiet bis nördlich von Van und Bitlis. Doch nach einer Einigung zwischen Iran und der Türkei schlugen Truppen beider Länder die Unabhängigkeitsbewegung im Sommer 1930 nieder, und die türkische Regierung ordnete Massenvertreibungen an. 1936 wurde der Belagerungszustand über Dersim als letzter „feier Burg der Kurden“ verhängt. Doch die Dersimer verweigerten die Waffenabgabe und begannen unter Führung des alevitischen Geistlichen Seyîd Riza bewaffneten Widerstand zu leisten. Mit Luftbombardierungen, Giftgas und Kanonen ging die türkische Armee gegen sie vor. Uneinigkeit der Stammesführer und die Erschöpfung der isoliert in den Bergen kämpfenden Partisanen ließen den Widerstand im Herbst 1938 zusammenbrechen. Mehr als 50.000 Kurden waren während des zweijährigen Kampfes getötet worden. Über 100000 wurden in andere Landesteile deportiert. Nach der Niederschlagung des kurdischen Widerstandes in der Türkei herrschte dort bis in die 60er Jahre Friedhofsruhe.

 

Mahabad

 

Die 1946 in der Stadt Mahabad im Iran ausgerufene »Republik Kurdistan« gilt als Symbol kurdischer Selbstbestimmung. Ihr Scheitern zeigt zugleich das Dilemma des bis heute mit dem Namen Barzani verbundenen Konzeptes eines von den Stämmen getragenen und von Großmachtinteressen gestützten kurdischen Nationalismus. Als während des Zweiten Weltkrieges die verbündeten britischen und sowjetischen Truppen in den Süden und Norden des Iran einrückten, entstand ein Machvakuum um das kurdische Gebiet um Mahabad. Um den Einfluss der USA und Großbritanniens zurückzudrängen, ermutigten sowjetische Agenten den Demokratische Partei Kurdistans-Iran, den Richter und religiösen Führer von Mahabad Ghazi Mohammed zur Ausrufung einer kurdischen Republik. Die Republik Kurdistan umfasste ungefähr ein Drittel des kurdischen Siedlungsgebietes im Iran mit rund einer Million Einwohnern. Doch ihr reeller Einfluss blieb auf städtische Zentren beschränkt, da viele strenggläubige Stammeskurden gegenüber der unter dem Schutz der atheistischen Sowjetunion gebildeten Republik Distanz wahrten. Innerhalb der anfangs noch sozialreformerisch orientierten Demokratische Partei Kurdistans-Iran verhinderten neu hinzu gestoßene feudale Großgrundbesitzer eine Bodenreform. Gestärkt wurden diese konservativen Kräfte durch den mit tausend Stammeskriegern und ihren Familien vor irakischen Truppen in den Iran geflohenen Partisanenführer Mullah Mustafa Barzani, der zum starken Mann von Mahabad wurde. Da die zugesagte sowjetische Militärhilfe ausblieb, war die Republik auf den Schutz der UdSSR angewiesen. Doch für die Sowjetdiplomatie dienten die Kurden vor allem als Druckmittel, um Ölkonzessionen im Nordiran zu erlangen. Als die Rote Armee vertragsgemäß im November 1946 aus dem Iran abzog, bedeutete dies den Todesstoß für die kurdische Republik. Wichtige Stammesführer hatten zu diesem Zeitpunkt längst aufgrund von Partikularinteressen ihren Frieden mit Teheran gemacht. Am 16. Dezember 1946 marschierte die iranische Armee kampflos in Mahabad ein. Ghazi Mohammed wurde zusammen mit seinem Vetter Seif und seinem Bruder Sadr im Morgengrauen des 31. März 1947 in Mahabad hingerichtet. Barzani floh mit 500 seiner Krieger ins sowjetische Exil.

 

Verrat der USA

1974 hatte sich der Schwerpunkt des kurdischen Freiheitskampfes in den Irak verlagert. Schutzmacht des Partisanenführers Mullah Mustafa Barzani war nun die USA, die gemeinsam mit Israel über ihren engsten Verbündeten Persien die Peschmerga mit Waffen und logistischer Hilfe versorgten. Doch auf dem Höhepunkt der Kämpfe 1975 ließ US-Außenminister Henry Kissinger seine Schützlinge aus taktischen Gründen fallen, als Persien im Abkommen von Algier seine Grenzfragen mit Irak regelte. Die USA ignorierten ihre im Geheimen gegenüber Barzani gegebenen Versprechungen. Der Schah schloss die Grenze und sperrte Barzanis Kämpfern den Waffennachschub und den Rückzugsraum. Die Peschmerga erlitten ihre bisher größte Niederlage gegen die irakische Armee. “Der größte Fehler meines Lebens war es, den USA zu vertrauen”, erklärte der geschlagene Mullah Mustafa Barzani auf seiner Flucht. Sein Sohn Massoud, der nun die Demokratische Partei Kurdistans weiterführte, scheint daraus nichts gelernt zu haben.

Im Anschluss an die US-geführte Militärintervention gegen den Irak 1991 ermutigte US-Präsident George Bush Sen. die Kurden im Irak zum Volksaufstand. Innerhalb weniger Tage waren die kurdischen Gebiete von der Diktatur der Baath-Partei befreit. Doch dann zogen sich die USA zurück. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit schlugen die Truppen Saddam Husseins den kurdischen Aufstand nieder. Zwei Millionen Kurden flohen in den Iran und in die Türkei. Erneut waren die Kurden ein Opfer ihres Vertrauens in eine Großmacht geworden. Nach dem Golfkrieg 2003, in dem sich die Peshmerga der großen kurdischen Parteien KDP und PUK als Bodentruppen der US-geführten Invasoren zur Verfügung stellten, wurden sie mit einer Autonomieregion in drei kurdischen Provinzen unter KDP-Führer Massoud Barzani als Präsidenten und dem Posten des irakischen Staatspräsidenten für PUK-Führer Jalal Talabani belohnt. Seitdem weht zwar die kurdische Fahne im Nordirak, es gibt ein kurdisches Parlament und leicht bewaffnete kurdische Peshmerga-Streitkräfte. Die eher in Form von Stammeskonföderationen organisierten Parteien KDP und PUK haben einen durch und durch korrupten Polizeistaat errichtet. Soziale Proteste werden gewaltsam niedergeschlagen, in kurdischen Gefängnissen wird gefoltert und die sich auf Abdullah Öcalan beziehende „Partei für eine Demokratische Lösung Kurdistans“ PCDK wurde verboten. Die USA verhindern im Bündnis mit arabischen Parteien und der türkischen Regierung zudem die Durchführung eines von der irakischen Verfassung vorgesehenen Referendums über einen möglichen Anschluss der erdölreichen Region um Kirkuk an das kurdische Autonomiegebiet was eine Voraussetzung für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung eines unabhängigen kurdischen Staates im Nordirak wäre. Umgeben von Feinden ist die “Region Kurdistan” vollständig abhängig vom Schutz und den Dollars der USA. Die Regionalregierung ist hilflos gegenüber den regelmäßigen Bombardierungen grenznaher Gebiete durch die türkische und iranische Armee. Ein „freies Kurdistan“ existiert in Südkurdistan so nur der Form nach. Es wird sich zeigen, ob sich die tragische Geschichte des 20.Jahrhunderts wiederholt und die USA die Kurden als ihre bislang engsten Verbündeten im Irak erneut fallen lassen werden.

 

Auf die eigene Kraft verlassen

Die Gründung der PKK im Jahr 1978 bedeutete in mehrfacher Hinsicht einen Bruch mit den bisherigen Versuchen, die Freiheit der Kurden zu erlangen. Das zeigt sich bereits an der Biographie eines Großteils der Gründer der Partei. Anders als die vorangegangenen Aufstandsführer gehörten Abdullah Öcalan und seine Genossen keinem mächtigen Clan an, wie Barzani. Sie waren keine religiösen Führer wie Sheik Said, Seyid Riza oder Ghazi Mohammed. Die meisten Gründer der PKK waren junge Männer und Frauen aus dem Volk, die ihre Jugend auf dem Dorf verbracht hatten und als erste in ihren Familien zum Studium in die Städte gingen, wo sie mit sozialistischem Gedankengut in Berührung kamen. Aus der Niederlage Barzanis, der bis dahin auch von vielen Kurden in der Türkei als unangefochtener Führer des Befreiungskampfes gesehen wurde, zog Öcalan Mitte der 70er Jahre die Lehre, dass sich ein Befreiungskampf allein auf die eigene Stärke verlassen müsse. Keinesfalls dürfe sich ein Befreiungskampf in ein Abhängigkeitsverhältnis von einer der Großmächte bringen lassen. Barzani war in Öcalans Augen das typische Beispiel eines „primitiven“ Nationalisten, der sich auf rückständige feudale Stammesstrukturen stütze und nur halbherzig für Autonomie statt für Unabhängigkeit kämpfte. Alle bisherigen kurdischen Aufstände seien gescheitert, weil sie weder wirklich sozialistische noch konsequente nationale Befreiungskämpfe waren.

Im Unterschied zum Barzani-Clan setzt die PKK in ihrem fast 35 jährigen Volkswiderstand nicht auf feudale Würdenträger und Stammesloyalitäten, sondern mobilisiert arme Bauern, die Bewohner der städtischen Elendsviertel und insbesondere die Frauen gegen den türkischen Kolonialismus und die Unterdrückung durch kurdische Feudalherren gleichermaßen. Da die kurdischen feudalen Oberklassen – Aghas und Sheiks – de facto zu Agenten des türkischen Kolonialismus verkommen waren und sich eine kurdische Kapitalistenklasse gar nicht erst entwickeln konnte, blieben als Träger des Befreiungskampfes nur die Volksmassen selber. Im programmatischen Manifest der PKK von 1978 liest sich das wie folgt: „Die Formierung der Feudal-Kompradoren-Schicht während der Entwicklungsphase des türkischen Kolonialismus in eine Agentenstruktur, die Unmöglichkeit der Entwicklung des nationalen Kapitalismus und die darauf folgende Nichtentstehung einer national-bürgerlichen Klasse und die materielle Abhängigkeit der städtischen Kleinbourgeoisie vom türkischen Kolonialismus und von der Feudal-Kompradoren-Schicht lässt die Arbeiter-Bauern-Allianz als Hauptkraft übrig.“ Dazu kommen die Jugend und die Intellektuellen sowie die städtische Kleinbourgeoisie als Bündnisschichten. Ausgehend von dieser Klassenanalyse der kurdischen Gesellschaft richteten sich die ersten Aktionen der PKK Ende der 70er Jahre auch nicht direkt gegen den türkischen Staat, sondern gegen dessen kurdische Agenten in Form von Großgrundbesitzern und Clanchefs. Erst im August 1984 begann der bewaffnete Kampf gegen die türkischen Besatzungstruppen. Ein auf die armen Volksmassen gestützter Freiheitskampf entwickelt eine ganz andere Dynamik als die von Stammes- und Religionsführern geleiteten Kämpfe von Stammesföderationen. Wo religiöse Trennung zwischen Sunniten und Aleviten und feudale Stammesschranken bislang einen gemeinsamen Widerstand verhindert hatten und oft genug zu Verrat aus kurzsichtigen und egoistischen Motiven führten, gelang es der PKK, diese feudalen Schranken in zunehmenden Maße zu überwinden und die Einheit der Volksmassen um die Fahne des kurdischen Patriotismus herzustellen.

 

Nicht Separatismus sondern Befreiung

Bei ihrer Gründung 1978 trat die PKK für ein aus vereinigtes Kurdistan als eigenständiger Staat ein. Dieses Ziel war nicht primär separatistisch gemeint, sondern fügte sich in eine Strategie zur Befreiung der Nahostegion insgesamt ein.

Die meisten türkischen sozialistischen Organisationen hatten ein Etappenkonzept vertreten. Demzufolge müsse zuerst die Türkei vom Imperialismus befreit werden müsse, ehe das Selbstbestimmungsrecht der Kurden zu realisieren sei. Dagegen äußerte PKK-Mitbegründer Kemal Pir, der selber türkischer Herkunft war und sich als Internationalist den Revolutionären Kurdistans um Öcalan angeschlossen hatte, die Überzeugung, dass der Weg der Befreiung der Türkei über die Freiheit des kurdischen Volkes führen müsse. Dies entsprach dem Diktum von Marx und Engels, wonach ein „Volk, das andere unterdrückt, […] sich nicht selbst emanzipieren“ könne.

Im Gründungsmanifest der PKK von 1978 wird Kurdistan als das schwächste Glied der imperialistischen Kette im Mittleren Osten und zugleich der zu lösende „gordische Knoten“ in der Region charakterisiert. „So, wie die Revolution Vietnams unter Führung des Proletariats eine Schlüsselrolle für die Revolution Indochinas gespielt hat, so wird auch die Revolution Kurdistans unter unterschiedlichen zeitlichen und örtlichen Voraussetzungen unter der Führung des Proletariats für die Volksrevolutionen des Mittleren Ostens eine Schlüsselrolle spielen.“

Nachdem die PKK durch Serhildans (Volksaufstände) Anfang der 90er Jahre zur Massenbewegung auch in den Städten geworden war, verkündete Abdullah Öcalan im März 1993 den ersten großen Waffenstillstand. Dabei rückte er vom bisherigen Maximalziel der Unabhängigkeit ab. „Uns geht es nicht unbedingt um eine sofortige Abtrennung und Loslösung von der Türkei. Wir sind dafür, auf der Basis gleichberechtigter politisch-militärischer Gleichheit in brüderlichen Beziehungen zusammenzuleben. Wenn dies durch eine neue Verfassung gesichert würde, können wir unseren Kampf auf eine politische Ebene transformieren.“ An dieser 1993 erstmals geäußerten Linie der PKK, wonach das Ziel nicht Unabhängigkeit um jeden Preis sondern geschwisterliches Zusammenleben auf gleicher Augenhöhe ist, hat sich bis heute nichts geändert. Statt für einen zwangsläufig von einer imperialistischen Schutzmacht abhängigen kurdischen Nationalstaat tritt die PKK ebenso wie ihre Schwesterorganisationen in Irak, Iran und Syrien heute für demokratische Autonomie durch rätedemokratische Selbstorganisation in allen Teilen Kurdistans ohne Veränderung der Staatsgrenzen ein. So könnte den Großmächten die kurdische Karte aus der Hand genommen werden, benennt Öcalan eine solche Lösung der kurdischen Frage zugleich als Voraussetzung für eine eigenständige demokratische Entwicklung des Mittleren Ostens.

Ihre heutige Stärke konnte die kurdische Bewegung in der Türkei nur durch die zeitweilige Separation von einer im Banne des Kemalismus gefangenen und das Selbstbestimmungsrecht der Kurden verneinenden Linken in der Türkei erreichen. Während die türkische Linke den Schläge der Putschjunta nach dem 12. September 1980 nicht standhalten konnte und seitdem am Boden liegt, wuchs der Widerstand gegen die Militärdiktatur in Kurdistan. Es gehört zur Dialektik der Geschichte, dass die kurdische Befreiungsbewegung, deren Wurzeln in der radikalen türkische Linken der 60er und 70er Jahre liegen, heute zum Kraftreservoir einer noch schwachen sozialistischen Linken in der Türkei geworden ist. Symbolisch dafür steht die Tatsache, dass im Rahmen des pro-kurdisch-sozialistischen „Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ erstmals seit den 60er Jahren wieder radikale türkische Sozialisten ins Parlament gewählt wurden. So bewahrheitet sich Kemal Pirs Erkenntnis, dass die Befreiung der Türkei von imperialistischer Dominanz und Kapitalherrschaft über die Befreiung Kurdistans führen wird.

 

 


Abdullah Öcalan über zwei Wege der kurdischen Nationsbildung

„Im Moment versuchen die Kurden gerade mit zwei ineinander verschränkten Methoden gleichzeitig, zu einer Nation zu werden. Die erste Methode ist die der primitiv-nationalistischen, feudal-bourgeoisen kurdischen Oberschicht, welche vom westlich-kapitalistischen System unterstützt wird und ihr Programm vorläufig im föderalen kurdischen Staat im Irak konkretisiert. Die zweite ist die Methode des werktätigen kurdischen Volkes, die auf der eigenen Kraft beruht und bezweckt, zu einer demokratischen und freiheitlichen Nation zu werden. Während die erste von reaktionären Interessen geleitet wird und feudale, religiöse und Stammesbindungen benutzt, beruht die zweite auf demokratischen und freiheitlichen Beziehungen, für die enge Stammesgrenzen und feudale und religiöse Tendenzen keine Rolle spielen. Während die Vertreter der ersten Methode hauptsächlich unter den Bedingungen der US-Besatzung in Irakisch-Kurdistan die Führung zu übernehmen versuchen, versucht die zweite, gestützt auf die eigene Kraft, einer anderen Interpretation von Kurdistan zum Durchbruch zu verhelfen – nicht als Hemmschuh für die Demokratisierung der Türkei zu wirken, sondern als ihr Antrieb.“

(Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, Neuss 2010, S.350)