Türkei: Machtkampf zwischen AKP-Regierung
und Gülen-Bewegung verschärft
Von Nick Brauns
Bei Polizeirazzien im
Morgengrauen sind am Dienstag in Istanbul und Ankara Dutzende Personen
aus dem engsten Umfeld der islamisch-konservativen Regierungspartei
AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
festgenommen worden. Die Vorwürfe lauten auf Korruption bei der Vergabe
öffentlicher Aufträge, Geldwäsche und Goldschmuggel. Unter den 84 Festgenommenen befinden
sich Söhne des Innen-, des Wirtschafts-
und des Städtebauministers aus Erdogans Kabinett, der Bürgermeister des als Hochburg
der Religiösen geltenden Istanbuler Stadtteils Fatih, Ministerialbeamte,
Bauunternehmer und Geschäftsleute. Die Staatsanwaltschaft hat die Aufhebung
der Immunität von vier Ministern beantragt. Die Polizeioperationen
sind ein neuer Höhepunkt im Machtkampf zwischen Erdogans
AKP und der pantürkisch-islamischen Gemeinde
(Cemaat) des pensionierten Imam Fethullah Gülen. Nachdem Erdogan und die einflußreichen Gülen-Kader in Polizei und Justiz
gemeinsam ihre laizistischen Gegner aus dem Weg geräumt hatten, kommt
es zwischen den einstigen Bündnispartnern zu einem sich immer weiter zuspitzenden
Streit um Pfründe und Pöstchen, aber auch die politische Linie. Erdogans kürzliche Ankündigung
der Schließung Tausender privater Nachhilfeschulen,
die der Gülen-Bewegung als Einnahmequelle und zentrale Orte der
Nachwuchsrekrutierung dienen, kam einer offenen
Kriegserklärung gleich.
Die jetzigen Korruptionsermittlungen
führt der stellvertretende Leiter der Istanbuler Staatsanwaltschaft,
Zekeriya Öz. Dieser hatte zuvor das Ergenekon-Verfahren gegen eine angebliche Putschistenloge geleitet, in dessen Zuge Hunderte
AKP-Gegner aus der Staats- und Militärbürokratie
verhaftet wurden. Von seinem Posten als Ergenekon-Sonderermittler war Öz im
Frühjahr 2011 abgelöst worden, nachdem er durch die Verhaftung der renommierten
Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener aufgrund
ihrer Gülen-kritischen Bücher die türkische Justiz international
in die Kritik gebracht hatte. Auch eine weitere Polizeioperation
am Dienstag trägt die Handschrift der Gülen-Bewegung, deren Führer
nach seiner Flucht vor einem Ermittlungsverfahren in der Türkei 1999 mit
Fürsprache der CIA eine Green Card für die USA erhielt und bis heute in Pennsylvania
lebt. Unter dem Vorwurf illegaler Goldtransaktionen
an den Iran wurde die Zentrale der staatlichen Halkbank
in Ankara durchsucht. Im Hause des festgenommenen Generalmanagers
Süleyman Aslan wurden 4,5 Millionen US-Dollar Bargeld sichergestellt.
Der Kurs der Halkbank-Aktien brach daraufhin
um fast 14 Prozent ein. Im Frühjahr hatten türkische Medien berichtet,
daß die Israel-Lobby AIPAC und 47
US-Senatoren von der US-Regierungen Sanktionen wegen Verstoßes
gegen das Iran-Embargo gegen die Halkbank
gefordert hatten.
Der von den Razzien völlig überraschte türkische
Ministerpräsident weigerte sich, die Korruptionsvorwürfe
gegen seine Parteifreunde zu kommentieren. Am Mittwoch wurden allerdings
fünf leitend in die Ermittlungen eingebundene Istanbuler Polizeidirektoren durch die Innenbehörden
ihres Postens enthoben. Knapp 100 Tage vor den Kommunalwahlen sind die
bislang in der türkischen Geschichte nahezu beispiellosen Korruptionsermittlungen fatal für das Image der Regierungspartei,
deren Kürzel »AK« mit »weiß« übersetzt werden kann. Bereits am Montag
hatte einer der beliebtesten Abgeordneten, Ex-Fußballnationalspieler
Hakan Sükür, seinen Parteiaustritt
aus der AKP wegen deren »feindlicher Schritte« gegen die Gülen-Bewegung
erklärt.
Bislang bezog die zuletzt 2011 mit fast 50 Prozent
gewählte AKP ein Drittel ihrer Stimmen von der Cemaat.
Nun buhlt die ansonsten einem strikten Laizismus verpflichtete kemalistische
Republikanische Volkspartei (CHP) um die Unterstützung der millionenstarken Gemeinde. Ihr Kandidat für das Oberbürgermeisteramt in Istanbul ist Mustafa Sarigül,
der als Bürgermeister des Stadtteils Sisli demonstrativ
die Nähe zur Cemaat gesucht hatte. In Ankara möchte
die CHP mit Mansur Yavas, der 2009 noch für die faschistischen
Grauen Wölfe kandidiert hatte, einen für die nationalkonservativen
Gülenisten wählbaren Bürgermeisterkandidaten
aufstellen.
junge Welt 19.12.13
Bruderzwist zwischen türkischem Regierungschef
und Gülen-Gemeinde dauert an
Von Nick Brauns
Seit Wochen schlagen in der Türkei die Wogen hoch
im Bruderkrieg zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip
Erdogan und der bislang mit der religiös-konservativen
AKP-Regierung verbündeten Gemeinde des im US-Exil lebenden
Imam Fethullah Gülen. Hintergrund sind Pläne Erdogans zur Schließung privater Nachhilfeschulen.
Rund die Hälfte dieser 3640 Dershanes werden von der pantürkisch-sunnitischen
Gülen-Gemeinde betrieben. Sie dienen ihr als wichtige Einnahmequelle
sowie Pool zur Nachwuchsrekrutierung.
Weiter angeheizt wird der Zwist im Lager des politischen
Islam durch ein in der Tageszeitung Taraf veröffentlichtes
Geheimdokument des Nationalen Sicherheitsrates aus dem Jahre 2004.
Darin verpflichtete sich die AKP-Regierung gegenüber dem Militär
zu einem »Aktionsplan« zur Zurückdrängung der Gülen-Gemeinde
»mit rechtlichen Regelungen und scharfen Sanktionen«. Da das Papier
neben Erdogans Unterschrift auch die des damaligen
Außenministers und jetzigen Staatspräsidenten Abdullah Gül trägt,
der als Sympathisant Gülens gilt, dürfte der
Plan der Gemeinde kaum verborgen geblieben sein. Allerdings hatten Erdogan
und die einflußreichen Gülen-Kader in Polizei
und Justiz in den folgenden Jahren gemeinsam ihre laizistischen Gegner
in der Staats- und Militärbürokratie mit
Massenverhaftungen und Schauprozessen, die
durch »Enthüllungen« angeblicher Putschpläne
durch das Medienimperium der Gülen-Bewegung
begleitet wurden, zurückgedrängt. Doch offensichtlich mißtraute Erdogan dabei dem wachsenden Einfluß seiner Verbündeten. So bestätigte
AKP-Sprecher Hüseyin Celik am Mittwoch einen Bericht der Taraf, wonach der von Erdogans
Vertrauten Hakan Fidan geführte Geheimdienst MIT Dossiers über Exponenten
der Gülen-Bewegung angelegt hat.
Die konservative Tageszeitung Bugün warnte zu Wochenbeginn, die »terroristische«
Arbeiterpartei Kurdistans PKK könnte in den kurdischen Landesteilen
in die Lücke stoßen, die durch die Schließung der Dershanes
entstehen. In rechtsnationalistischen Kreisen
wird spekuliert, die Schließung gehe auf einen Deal im Rahmen des Friedensprozesses
zurück. Schließlich beschuldigt die PKK die Gülen-Gemeinde, ihre
Bildungseinrichtungen zur Assimilation kurdischer und alevitischer Jugendliche zu mißbrauchen.
Der Vorsitzende der prokurdischen Partei für
Frieden und Demokratie (BDP), Selahattin Demirtas, wies unterdessen
Anschuldigungen der als Flaggschiff der Gülen-Bewegung dienenden
auflagenstärksten Tageszeitung Zaman zurück, seine Partei paktiere
mit der Regierung. Die BDP trete aber »für kostenlose Bildung und Unterricht
in der Muttersprache als zentrale Aufgabe des Staates ein« und lehne
kommerzielle Bildungseinrichtungen ab. BDP-regierte Kommunen
bieten kostenlose Nachhilfekurse an.
Zu Wochenbeginn verkündigte Vizeministerpräsident
Bülent Arinc, die Nachhilfeinstitute sollen
nun doch nicht bereits im kommenden Jahr geschlossen werden, sondern bis
Herbst 2015 Zeit für eine Umwandlung in Privatschulen erhalten. »Ich
denke, die Spannungen klingen ab morgen ab, und die Zukunft der Dershanes wird dann auf einer gesunden Grundlage diskutiert
werden«, zeigte sich Zaman-Kolumnist Hüseyin Gülerce
daraufhin zuversichtlich. Offenbar hofft die Gülen-Bewegung,
bei den 2014 anstehenden Kommunal- und Präsidentschaftswahlen
ihre millionenstarken Anhängerschaft in die
Waagschale werfen zu können, um so die endgültige Entscheidung über
die Schulschließung noch zu korrigieren.
Um die Stimmen der Gemeinde buhlt inzwischen
selbst die ansonsten einem strengen Laizismus verpflichtete kemalistische
Republikanische Volkspartei (CHP). So traf sich Oppositionsführer
Kemal Kilicdaroglu während seiner USA-Reise
am Dienstag in Washington zum Frühstück mit Geschäftsleuten der zur Gülen-Bewegung
gehörenden Türkisch-Amerikanischen Allianz und kritisierte
das drohende Dershane-Verbot.
junge Welt 6.12.2013
Türkei: Erdogan will Nachhilfekurse der Gülen-Bewegung
schließen
Von Nick Brauns
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will die zahlreichen privaten Nachhilfeinstitute
im Land per Gesetz schließen. Deren Kurse würden die Kinder »reicher Familien
in städtischen Zentren« bevorzugen, begründet Erdogan sein Vorgehen
gegen die Dershane genannten Nachhilfeschulen.
Das Vorhaben hat zu einem Aufschrei geführt. Denn Hintergrund ist nicht
die Sorge der Regierung um Gerechtigkeit im Bildungswesen, sondern ein
Machtkampf im Lager des politischen Islam. Schließlich sind die Dershane die Domäne der islamisch-pantürkischen Gemeinde (Cemaat)
des im US-Exil lebenden pensionierten Imams Fethullah
Gülen. An den rund 3200 Nachhilfeschulen mit
100000 Angestellten, deren Besuch für ärmere Schüler gratis ist, rekrutiert
die Gülen-Gemeinde einen Großteil ihrer Anhänger. Nach dem Wahlsieg
der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung
(AKP) im Jahre 2002 hatte Erdogan ein Bündnis mit der Cemaat
geschlossen, die über einflußreiche Kader im Polizei-
und im Justizapparat verfügt. Zahlreiche hochrangige
Militärs, Staatsbürokraten und Journalisten
wurden seitdem im Ergenekon-Verfahren
aufgrund angeblicher Putschpläne zu langjährigen
Haftstrafen verurteilt. Doch nach der gemeinsamen Ausschaltung ihrer
laizistischen Gegner ist nun ein Machtkampf um Posten und Pfründe zwischen
den religiösen Bündnispartnern entbrannt. So ließen Gülen-nahe
Staatsanwälte im Februar 2012 Geheimdienstchef
Hakan Fidan per Haftbefehl wegen Landesverrats jagen, weil dieser in Erdogans Auftrag mit der Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK) verhandelt hatte. Erdogan reagierte mit der Versetzung von Gülen-Anhängern
im Polizei- und Justizapparat. Während
der von Erdogan mit harter Hand niedergeschlagenen Gezi-Park-Proteste
diesen Sommer opponierten Vizeministerpräsident
Bülent Arinc und Staatspräsident Abdullah Gül,
die beide als Gülen-Anhänger bekannt sind, offen und forderten
einen nachgiebigeren Umgang mit der Protestbewegung. Vor allem wollen
die Gülen-Anhänger verhindern, daß sich
Erdogan zum nächsten Staatspräsidenten wählen läßt.
Die zum Gülen-Netzwerk gehörende auflagenstärkste
Tageszeitung Zaman nannte die drohende Schließung der Dershanes einen »Bildungsputsch«.
Mustafa Yesil, der Präsident der als Sprachrohr der Cemaat
dienenden Journalisten- und Schriftsteller-Stiftung in
Istanbul, warnte Erdogan vor negativen Konsequenzen bei den kommenden
Wahlen. Geschätzte 30 Prozent der Wählerstimmen für die AKP kommen bislang
von der Gülen-Gemeinde.
Vor allem in der von der AKP regierten Metropole
Istanbul könnte die Cemaat bei den Kommunalwahlen
im kommenden März ihr Gewicht zugunsten von Erdogans
Gegnern in die Waagschale werfen. Oberbürgermeisterkandidat
der Republikanischen Volkspartei (CHP) soll hier der bisherige Bezirksbürgermeister
von Istanbul-Sisli, Mustafa Sarigül, werden.
Der erst vor wenigen Wochen in den Schoß der kemalistischen Partei zurückgekehrte
CHP-Dissident Sarigül gibt sich offen für religiöse Wähler und
sucht die Nähe der Gülen-Bewegung. Ein Signal der Versöhnung in
Richtung der Kemalisten gab nun auch Gülen. Wenn es in seiner Macht stände,
würde er »diese alten Männer« in die Freiheit entlassen, erklärte der
Imam auf seiner Website herkul.org über die im Ergenekon-Verfahren
verurteilten Militärs.
junge Welt 22.11.2013